Silke Stremlau: „Für mehr Nachhaltigkeit brauchen wir die Kraft des Finanzmarktes“

Mit dem Fahrrad zum Bioladen, mit dem Zug zu Verwandten, mit dem Flugzeug nirgendwohin. Silke Stremlau lebt auch im Privaten, wofür sie im Job kämpft: Als Leiterin des Sustainable Finance-Beirates der Bundesregierung setzt sie sich für ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit ein. Und als Senior Fellow der Stiftung Mercator will sie, dass der Finanzmarkt wirkungsvoller als bisher die Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft finanziert.
Silke Stremlau spricht Wahrheiten mit wachem Blick und entwaffnendem Lächeln aus: „Die Transformation der Wirtschaft kostet sehr, sehr viel Geld. Agrarwende, Energiewende, Verkehrswende, Bauwende – dafür brauchen wir den Finanzmarkt, das kann der Staat nicht alleine finanzieren.“ Um diese Möglichkeiten auszuloten, hat die Bundesregierung 2019 den Sustainable Finance-Beirat zum ersten Mal eingerichtet. Stremlau leitet diese Multi-Stakeholder-Initiative nun seit vergangenem Sommer. Ihre Führungsaufgabe definiert sie so: „Ich sehe mich in der Rolle der Mediatorin und Moderatorin, die die verschiedenen Expertisen und Interessen zusammenbringt.“
Sustainable Finance-Beirat
Im Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung sind 34 Personen aus Realwirtschaft, Wissenschaft, Finanzwirtschaft und Zivilgesellschaft vertreten, die ihre Expertisen zusammenbringen und die Bundesregierung beraten. Sie beantworten Fragen, erarbeiten Vorschläge, entwickeln Konzepte und sprechen Empfehlungen aus. Alle Mitglieder arbeiten ehrenamtlich und parteiunabhängig.
„Green Future“ gegründet – 30 Jahre vor „Fridays for Future“
Ihr Engagement ist tief in ihrer Biografie verwurzelt. Silke Stremlau erinnert sich noch gut an den GAU in Tschernobyl im Jahr 1986. Plötzlich durfte sie nicht mehr auf den Spielplatz und bestimmte Lebensmittel nicht mehr essen – ein einschneidendes Erlebnis für die damals 10-Jährige. Drei Jahre später schenkte ihr Vater ihr den Jugendroman „Der Wal in der Falle“ von Midas Dekkers, in dem es um die Beziehung zwischen Mensch und Natur, die illegale Jagd auf Wale und den Einsatz von Greenpeace geht. Für die 13-Jährige war das die Initialzündung, sich intensiver mit Umweltthemen auseinanderzusetzen.
Kurzerhand beschloss sie, eine Jugendumweltgruppe zu gründen. Ein Aushang am Schwarzen Brett in der Schule, und schon war „Green Future“ gegründet – fast 30 Jahre vor „Fridays for Future“. Mit Volldampf machten sie und ihre Mitschüler*innen sich an ihre erste Aktion und sammelten tausend Unterschriften gegen überflüssigen Verpackungsmüll von Lebensmitteln. Greenpeace unterstützte sie mit Materialien, und auch bei ihren Eltern und in der Schule erfuhr Silke Stremlau viel Ermutigung.



Nach dem Abitur zu Greenpeace
Mit einem Einser-Abi in der Tasche zog Silke Stremlau von Dülmen nach Oldenburg. Nur dort konnte sie in den 90ern Sozialwissenschaften in Kombination mit Umweltpolitik und Umweltplanung studieren. Sie interessierte sich für Gesellschafts- und Umweltthemen: „Ich habe damals nie direkt den Wirtschaftsteil, sondern immer erst den Politikteil einer Zeitung gelesen.“
Ihr Umweltengagement brachte sie bereits mit 20 Jahren ins Fernsehen. Noch heute lacht sie bei dem Gedanken daran, wie sie damals zu Hause anrief: „Mutti, guck mal Tagesschau! Ich häng am Frachter!“ Im Rahmen ihres Praktikums bei Greenpeace hatte sie sich bei einer Protestaktion mit Handschellen an ein Schiff mit Atommüll gekettet.
Von der Studentin zur Analystin, die Nachhaltigkeitsindikatoren überprüft
Nach dem Studium konnte sie in ihrem ersten Job bei der imug Beratungsgesellschaft für Markt, Umwelt und Gesellschaft in Hannover gleich das Thema ihrer Diplomarbeit – Nachhaltigkeitsindikatoren in Unternehmen – unmittelbar in der Praxis anwenden: Als Analystin klopfte sie Unternehmen auf Nachhaltigkeitsindikatoren ab.

Wie den Finanzmarkt grüner machen?
Für die Berufsanfängerin war das eine Art Aha-Erlebnis: „Mir wurde klar: Wir können nicht nur Unterschriften sammeln, an die Öffentlichkeit gehen und Aktionen starten, sondern wir müssen über den Finanzmarkt etwas bewegen. Aktionär*innen, Investor*innen oder Banker*innen haben Macht und können etwas ändern.“ Während der 15 Jahre bei der imug kam sie häufig mit Vertreter*innen der Finanzwelt in Kontakt, hat sich „den Mund fusselig geredet“. Dabei hat ihr gerade dieses Zwischen-den-Stühlen-Sitzen immer besonders gefallen. „Wir waren nicht richtig auf der dunklen Seite des Geldes, sondern haben versucht, den Finanzmarkt grüner zu machen.“ Einzelkämpferin war sie schon während ihrer Schulzeit nicht. Denn schon früh hat sie erkannt, wie wichtig es ist, sich mit anderen zusammenzutun und das gemeinsame Ziel in den Mittelpunkt zu stellen.
So geht Silke Stremlau 2018 auch ihre Aufgaben als Vorständin bei den Hannoverschen Kassen, einer nachhaltigen Pensionskasse mit 25 Mitarbeiter*innen, an. Dort verwaltete sie sechs Jahre lang ein Budget von rund 500 Millionen Euro, eingezahlt von nachhaltigen Unternehmen, darunter Pflegeeinrichtungen und Waldorfschulen. In ihrer Verantwortung lag es, diese Summe in die Erzeugung erneuerbarer Energien, die ökologische Landwirtschaft und in nachhaltige Unternehmen zu investieren.
Fünf Finanztipps von Nachhaltigkeitsexpertin Silke Stremlau
Die Wirtschaft in die Pflicht nehmen
Stremlau setzt auf Veränderungen aus dem System heraus und auf Protest von außen. Für sie sind alle Rädchen im Getriebe – die NGOs, die kritische Öffentlichkeit, die Politik und die Wirtschaft –wichtige Treiber für Veränderungen. Aktionen der Letzten Generation verfehlen ihrer Ansicht nach ihr Ziel und sorgen eher für Zorn als für Verständnis oder sogar für ein Umdenken – „auch wenn ich deren Wut gut verstehen kann“. Der aus ihrer Sicht bessere Weg: die Wirtschaft in die Pflicht nehmen und politisch agieren.
Immer wieder begegnet sie einer Frage: Wenn wir alle im Privaten nachhaltig leben würden, wäre das genug? „Nein. Jede*r von uns kann nur ungefähr die Hälfte des CO2-Fußabdrucks durch das persönliche Verhalten steuern, die andere Hälfte ist vom System vorgegeben, in dem wir leben.“ Wie Energie erzeugt wird, wie Häuser gebaut oder Lebensmittel angebaut werden – solche Grundlagen regeln Politik und Wirtschaft. Dafür müssten gegebene Strukturen verändert werden.
Autofrei leben, viel secondhand kaufen
Die Verantwortung jeder*s Einzelnen ist wichtig und alle können und sollen einen Beitrag leisten. Die Arbeit im Sustainable Finance-Beirat empfindet Silke Stremlau als sehr sinnstiftend. Dass ihre persönliche Vision nicht nur Arbeit, sondern auch Spaß macht, beweist sie anhand eines Beispieles aus ihrem Privatleben: „Ich habe kein Auto, kaufe fast alles secondhand. Und ich liebe Kleidertauschpartys. Es wird nur getauscht, da fließt kein Geld. Geht doch!“ Bei den großen Systemen geht es natürlich schon ums Geld. Stremlaus Mission ist klar mit einer Forderung verknüpft. Sie wird nicht müde, sie zu wiederholen: „Für mehr Nachhaltigkeit brauchen wir die Kraft des Finanzmarktes.“ Die gesamte Infrastruktur müsse auf Resilienz und Zukunftsfähigkeit getrimmt werden. „Mittlerweile sagen ja auch die Grünen: Natürlich sollte jede*r Einzelne verantwortlich handeln. Aber wir müssen an die großen Systeme ran, wir müssen beides zusammen sehen“, meint die Nachhaltigkeitsexpertin.
Mercator Fellowship-Programm
Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxisvorhaben zu widmen.