„Wenn es in Kopenhagen geht, dann auch im Ruhrgebiet“

Im Ruhrgebiet ist das Auto das Fortbewegungsmittel Nummer eins. Mit den Klimazielen ist das nicht zu vereinbaren, da sind sich Wissenschaft und Politik einig. Doch warum nehmen neue Mobilitätskonzepte nur langsam Fahrt auf? Wissenschaftler Michael Roos und Regionalentwickler Uli Paetzel diskutieren.
Herr Paetzel, wir sprechen heute über die Verkehrswende und neue Mobilitätskonzepte im Ruhrgebiet. Sie sind aus dem Auto zugeschaltet. Gestatten Sie die Frage: warum nicht aus der Bahn?
Uli Paetzel: Ich bin sozusagen gerade am Ende der Welt, in einem ganz versteckten Gebiet an der Lippe. Hier sind die öffentlichen Verkehrsmittel noch nicht so attraktiv, dass ich damit herkäme – es sei denn, ich wollte heute nichts anderes machen. Ab und an braucht man das Auto schon noch. Aber es ist immerhin ein Elektroauto.
Auch das Coronavirus ist ein Argument für den Individualverkehr. Die Pandemie zeigt zudem, dass verschiedene Interessen und gegenteilige Überzeugungen zu festgefahrenen und schier unlösbaren Konflikten führen. Beobachten Sie Ähnliches in Sachen Verkehrswende?

Prof. Dr. Uli Paetzel
Uli Paetzel ist Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband. Der promovierte Sozialwissenschaftler war von 2004 bis 2016 Bürgermeister der Stadt Herten.
Paetzel: Ich glaube, dass die Wissenschaft schon viele Schritte weiter ist als diejenigen, die für die Umsetzung zuständig sind. Konkret auf das Ruhrgebiet bezogen wissen eigentlich alle, dass es so, wie es jetzt ist, nicht weitergehen kann. Gerade bei den überkommunalen Verbindungen über Stadtgrenzen hinweg, insbesondere bei der Nord-Süd-Verbindung, haben wir große Defizite. Auch auf der Governance-Seite, also auf regierender und verwaltender Seite, haben wir aus meiner Sicht ein Problem. Das sind insgesamt eine Menge Herausforderungen, um endlich das umzusetzen, was die Bürger*innen schon lange wollen.
Michael Roos: Ich sehe diese Konflikte auf jeden Fall bei der Verkehrswende und -planung. Ganz grob sehe ich zwei Lager: Die einen betonen die individuelle Wahlfreiheit des Fortbewegungsmittels – und das ist dann tendenziell immer autofreundlich. Die anderen sagen, dass wir das Auto zurückdrängen müssen, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Das sind sehr unterschiedliche Weltvorstellungen, die man zusammenbringen muss. Hier läuft aus meiner Sicht die Hauptkonfliktlinie.

Prof. Dr. Michael Roos
Michael Roos leitet an der Ruhr-Universität Bochum den Lehrstuhl für Makroökonomik. Er ist der Auffassung, dass die Volkswirtschaftslehre zur Bekämpfung der ökologischen Krise beitragen kann und muss.
Herr Roos, in der Konzeptstudie „Integrierte Mobilität im Ruhrgebiet“ empfehlen Sie und Ihr Co-Autor Ludger Pries eine „ganzheitliche Systemveränderung“ statt isolierte Detailanpassungen – im weitesten Sinne also einen Neustart des Verkehrssystems. Wie soll das gehen?
Roos: Systemtransformationen sind immer riesige Herausforderungen und Prozesse, die man nicht komplett steuern kann. Es gibt keine Hebel, die man umlegt, und dann läuft alles. Diese Vorstellung ist naiv, und davon muss man sich verabschieden. Die Transformationsforschung, die sich ganz allgemein mit diesen Fragen beschäftigt, hat vier Ansatzpunkte ermittelt, die auch hier gelten: Der erste ist eine Zielvorstellung, eine positive Veränderungsidee, die besagt, wo man hinmöchte. Dann braucht man Experimente. Man muss Pilotprojekte ausprobieren und schauen, was man dabei lernt und was geht. Der dritte Faktor: Wenn man Innovationen schafft, muss man das Alte aus der Welt herausschaffen, man nennt das Exnovation. Die muss man genauso begleiten wie die Innovation, muss also den Übergang gestalten und diejenigen auffangen, die im Alten verhaftet sind. Schließlich braucht man neue Rahmenbedingungen und Strukturen. Was man getestet hat und was funktioniert, kann man zum Beispiel in Gesetze und Institutionen überführen.
Herr Paetzel, Sie waren von 2004 bis 2016 Bürgermeister der Stadt Herten. Als solcher kennen Sie das Rangeln um verschiedene Interessen. Was sagen Sie zur Machbarkeit einer kompletten Systemveränderung?
Paetzel: Sie ist nicht nur möglich, sondern auch nötig! Wir brauchen sie dringend, auf mehreren Ebenen. Wir brauchen eine Politik, die größere Ziele anstrebt, die nicht immer nur Klein-Klein macht, nicht immer nur hier mal ein Modellprojekt, da mal ein Modellprojekt, das nach drei Jahren nicht mehr finanziert wird. Wir brauchen ein größeres Bild davon, wo wir hinwollen. Ich glaube, dass man die Politik dabei unterstützen muss, diesen Mut aufzubringen. Bei den amtierenden Politiker*innen, ob in der Kommunalverwaltung, auf Landes- oder Bundesebene, ist die Einsicht inzwischen gereift, dass wir beim ÖPNV im Revier insgesamt große Veränderungen brauchen. Ich weiß auch, dass das nicht einfach ist und es sich über viele Jahre ziehen wird. Aber irgendwann muss man den ersten Schritt gehen.
Sie beide sind sich einig, dass an einem neuen Mobilitätskonzept kein Weg vorbeiführt. Die theoretischen Erkenntnisse aus Studien und Projekten sprechen die gleiche Sprache, die Marschrichtung ist theoretisch klar. Doch wo hakt es? Wo ist der Zündfunke, der zum ersten Schritt führt?
Paetzel: Die politische Führung im Revier bringt das Thema nicht nach vorne. Unsere zwölf Nahverkehrsgesellschaften haben jede ein paar Ideen für die Zukunft, wenn überhaupt. Aber wir haben keine organisatorischen Voraussetzungen, wo Bau, Planung und Betrieb in einer Hand liegen. Es wäre sehr schnell möglich, die finanziellen Anreize so zu steuern, dass man alle Beteiligten auf einen Weg bekommen würde. Aber im Moment würde ich ganz klar sagen: Es fehlt die politische Führung dazu.
Roos: Ich würde das aus der Sicht der Wissenschaft unterstützen. Es gibt ja die Vorstellung der transformativen Wissenschaft, die sich selber einbringt und versucht, Bewegung anzustoßen. Traditionell analysieren wir Situationen, machen Studien und Vorschläge, aber am Ende ist die Systemtransformation ein politischer Prozess, etwas, das man politisch aushandeln muss. Dazu muss man Strukturen schaffen, dafür sorgen, dass die Beteiligten zusammenfinden, diskutieren – die politische Führung ist dann wichtig.

Wenn schon keine Systemveränderung, was ließe sich heute bereits ändern oder zumindest einleiten?
Roos: Herr Paetzel war ja gerade ein bisschen skeptisch, was Modellprojekte angeht. Ich glaube aber, dass die wichtig sind. Man muss ausprobieren! Es ist immer ein Riesentheater, wenn man irgendwo eine Straße autofrei machen oder Parkplätze wegnehmen will. Wenn man das für die Ewigkeit plant, dann dauert es lange, und man trifft auf Widerstände. Aber man könnte es als Experiment deklarieren und sagen: Wir versuchen das mal für ein halbes Jahr, und wenn es nicht funktioniert, dann machen wir es wieder rückgängig. Dann erzeugt man auch eine andere Vision, wenn die Bürger*innen nämlich sehen, dass es funktioniert und sogar Vorteile hat. Am Ende wollen sie möglicherweise gar nicht mehr haben, was sie vorher hatten. Das kann man häufig bei Fußgängerzonen beobachten. Da schreien die Kaufleute erst, und dann stellen sie fest, dass es doch nicht so schlecht fürs Geschäft ist.
Herr Paetzel, wenn man solche Tests durchführen möchte und beispielsweise einen Fahrradweg oder eine verkehrsfreie Zone einrichten will, wie viele Stellen in einer Kommune muss man da als verwaltende Instanz einbeziehen, damit so etwas möglich wird?
Paetzel: Es kommt ganz darauf an. Wenn wir beispielsweise eine Straße sperren wollen, dann muss ich erst mal prüfen, ob ich das überhaupt darf. Ist es eine kommunale Straße oder eine Bundes-, Kreis- oder Landesstraße? Die Straße muss in der Verfügungsgewalt der Kommune sein. Dann muss ich schauen, ob die Anschlussmöglichkeiten weiterhin bestehen. Und kommen die Anwohner*innen noch raus? Was ist mit dem Lieferverkehr? All solche praktischen Fragen. Aber Sie sehen aus meiner Schilderung: Wenn ich etwas verhindern will, kann ich alles verhindern. Bei einem Test, wie Herr Roos es vorschlägt, bin ich sofort dabei. Damit kann man einen Riesenfortschritt machen und der Bevölkerung und den direkten Anwohner*innen die Ängste nehmen, weil es eben erst mal ein begrenzter Zeitraum ist.
Mobilität ist daran geknüpft, wo Menschen leben, ihre Freizeit verbringen und arbeiten, wo also auch Firmen ihre Niederlassungen bauen. Das hängt wiederum mit Bauland, Steuern, demografischen Aspekten zusammen – und der Anbindung. Kurzum: Alle individuellen und gesellschaftlichen Lebensbereiche sind mit der Mobilität verwoben. Wo fängt man da an mit den Veränderungen?
Roos: Sie haben recht, Mobilitätsplanung und Stadtplanung gehören zusammen. Die Mobilität wird durch andere Tätigkeiten ausgelöst, sie ist sozusagen eine abgeleitete Tätigkeit. Wenn wir da wirklich ranwollen, müssen wir die Mobilität verändern und nicht nur den vorhandenen Verkehr irgendwie neu organisieren. Der traditionelle Ansatz ist, zu überlegen, wie die Leute von A nach B kommen. Aber vielleicht müssen sie das ja gar nicht. Vielleicht gibt es Möglichkeiten, alles in A zu machen. Im Moment gerät durch die Krise einiges in Bewegung. Unternehmen stellen fest, dass das Homeoffice funktioniert, und überlegen sich, ob sie ihre Mitarbeiter*innen künftig ein paar Tage zu Hause arbeiten lassen. Aus der Frage ergibt sich eine weitere: Muss man immer dort arbeiten, wo das Unternehmen sitzt? Hier kann man auch neu denken und zum Beispiel Bürozentren an verkehrstechnisch gut gelegenen Orten einrichten. Wenn man dort auch noch eine Kita oder gute Einkaufsmöglichkeiten vorfindet, dann kombiniert man die verschiedenen Bedürfnisse und macht nur einen Weg statt drei. Wir müssen auch stärker verdichten, im Ruhrgebiet sind wir noch zu verteilt im Raum. Wir müssen die Quartiere wiederbeleben und stärker regionalisieren, sodass man viele Alltagsdinge fußläufig erledigen kann. Das ist natürlich eine Frage der Stadtplanung. Insofern ist es richtig: Mobilität alleine greift zu kurz.
Paetzel: Ich kann nur vollständig zustimmen, da gibt es keine zweite Meinung.

Wie müssten politische und verwaltende Strukturen aufgebaut sein, damit eine Wende hin zum nachhaltigen Verkehr möglich wird? Fehlt eine übergreifende, interdisziplinäre Instanz?
Paetzel: Ja. Da sich das Ruhrgebiet aus mehreren Zentren zusammensetzt, gibt es gewisse Herausforderungen. Manche Dinge werden vor Ort gut gelöst. Im Quartier, auf der Ebene des Stadtbezirks oder der Stadt, wo sie auch hingehören und wo die Nähe zu den Bürger*innen und zu den Problemen wichtig ist. Es gibt aber auch Punkte, die sind nicht kommunal lösbar, sondern nur überkommunal, wie Mobilität und insbesondere das ÖPNV-Netz. Dafür brauchen wir eine Instanz, die Bau, Planung und Betrieb aus einer Hand machen kann – und dafür auch die nötige Kompetenz hat.
Roos: Im Prinzip würde ich dem zustimmen. Letztlich geht es um die Frage: Wer trifft am Ende die Entscheidungen? Ich glaube schon, dass es manchmal einfacher wäre, wenn es eine übergeordnete, entscheidende Instanz gäbe.
Paetzel: gibt einen Daumen nach oben.
Das Projekt NEMO betrachtet Verkehrsräume an der Emscher ganzheitlich und macht Vorschläge, wie man die Renaturierung des Flusses für ein nachhaltiges Mobilitätskonzept nutzen kann. Ist das nicht zu punktuell gedacht? Das Ruhrgebiet ist größer als das Emscher-Ufer und muss als Region auch sinnvoll an den Verkehr im ganzen Land angeschlossen sein. Muss man deutschlandweit denken?
Roos: NEMO war ja ein Forschungsprojekt. Die Modellregionen darin wurden nach unterschiedlichen Anforderungen ausgewählt: Manche sind eher städtisch, manche ländlich geprägt. Das Ruhrgebiet ist divers – man benötigt unterschiedliche Erkenntnisse und Lösungen. Wenn man Deutschland insgesamt betrachtet, wird es noch diverser. Die Unterschiede zwischen ländlichen Räumen und Ballungszentren sind erheblich. Natürlich braucht man gemeinsame Ideen, aber so ein One-size-fits-all-Konzept für ganz Deutschland wird es sicherlich nicht geben. Was wir auf gesamtdeutscher Ebene lösen müssen, ist der Umgang mit gemeinsamen Trends: Digitalisierung und autonomes Fahren beispielsweise oder Emissionsreduktion, da braucht man nationale Ziele und Rahmenbedingungen.
Wenden wir uns der Bevölkerung zu, ohne deren Akzeptanz kein nachhaltiges Mobilitätskonzept realisiert werden kann. Für 83 Prozent der Fokusgruppenteilnehmer*innen im Projekt NEMO ist der Autobesitz wichtig – obwohl fast alle es als notwendig ansehen, etwas für den Klimaschutz zu tun. Wie kann das sein?
Roos: Wenn man von der Psychologie draufschaut, ist es eine kognitive Dissonanz. Der Wunsch nach mehr Klimaschutz ist unvereinbar mit dem Wunsch, das Auto zu benutzen. Das ist ganz natürlich. Man könnte es auch ökonomisch erklären. Ökonom*innen sprechen von öffentlichen Gütern, also Dingen, von denen man profitiert, auch wenn man selbst nichts beiträgt. Es gibt eine große Diskussion, wie man mit solchen Dingen umgeht. Ich würde das gar nicht so sehr auf das spezielle Problem im Ruhrgebiet runterbrechen wollen.
Paetzel: Wenn ich auf das Ruhrgebiet blicke, haben wir es mit einer großen Tradition der Autoprägung und Autovorliebe zu tun. Wir haben leider keine Tradition, täglich S-Bahn, U-Bahn oder den Bus zu nutzen. In Berlin würde niemand auf die Idee kommen, sich täglich in den Stau zu stellen. Wir können von den Städten, die eine Transformation durchgemacht haben, eine Menge lernen. In München hat man zum Beispiel für die Olympischen Spiele ein gutes U-Bahn-System aufgebaut, das bis heute funktioniert. Man merkt aber auch: Es ist eigentlich zu klein dimensioniert. So was heute noch mal zu bauen ist natürlich ungleich schwerer als damals, als es einen anderen Fortschrittswillen in der Bevölkerung gab.
Roos: Man darf den Menschen aber auch keinen Vorwurf machen. Wenn man die Angebote nicht schafft, ist es logisch, dass man das Auto nimmt. Egal, wohin ich im Ruhrgebiet will: Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bin ich doppelt bis dreimal so lange unterwegs wie mit dem Auto. Wenn man lange Zeit nicht dafür gesorgt hat, gute Verbindungen, insbesondere über die Kommunen hinweg, zu etablieren, dann erzeugt man natürlich eine entsprechende Routine und Kultur. An der Stelle muss man ansetzen, und dann wird sich über die Zeit möglicherweise auch das Verhalten ändern. Aber von heute auf morgen zu verlangen, dass alle auf ein unbefriedigendes ÖPNV-System umsteigen, ist zu viel verlangt. Dass die Menschen das nicht einsehen, ist klar.


Herr Roos, in der erwähnten Konzeptstudie betonen Sie die Wichtigkeit einer gemeinsam getragenen Vision aller Akteure und der Bevölkerung für das Gelingen der Verkehrswende. Warum ist die so wichtig? Wie müsste eine solche Vision erzählt und vermittelt werden, damit sich alle Menschen und Institutionen dahinter vereinen?
Roos: Eine Vision ist wichtig, weil sie orientiert und motiviert. Sie ist eine Energiequelle und vermittelt einen Sinn für das Ganze. Ohne sie habe ich lauter Einzelmaßnahmen, die nicht richtig zusammenpassen. Und dann gibt es Widerstand, man lässt die Maßnahme sein oder verändert sie irgendwie, und es passt alles nicht so recht zusammen. Nur die Vision gibt einem überhaupt die Kraft, das alles durchzuhalten und zu begründen. Wie trägt man sie weiter? Durch Personen, die sie glaubhaft und mit Überzeugung präsentieren, sie auf die Tagesordnung heben, dafür einstehen und das Ganze eloquent vertreten können. Es müssen standhafte, gewinnende Personen sein. Keine Eiferer, sondern Menschen, die mitnehmen können.
Paetzel: Diese Personen müssten es auch schaffen, die Verantwortlichen in die Richtung zu lenken. Das wird die größte Herausforderung. Solange wir Geschäftsführer*innen in Nahverkehrsgesellschaften und Aufsichtsrät*innen haben, gibt es ein gewisses konservatives Beharrungsvermögen.
Roos: Das würde ich als Beispiel dafür sehen, was ich eben Exnovation genannt habe. Dass man diesen Übergang gestaltet. Man kann nicht von heute auf morgen alles durchschneiden und die Leute fallen lassen. Dann sperren und wehren sie sich. Eine große Lehre der Transformationsforschung ist, dass man mit Widerständen produktiv und konstruktiv umgehen muss und Perspektiven aufzeigen sollte.
Stichwort Gerechtigkeit. Viel Platz in der Stadt geht für parkende Autos drauf, die Mehrheit der Kosten dafür tragen alle Steuerzahler*innen gleichermaßen. Zudem nehmen Fahrspuren für Autos den meisten Platz aller Verkehrswege ein. Wäre der Faktor Gerechtigkeit einer, auf dem man eine Vision aufbauen könnte?
Roos: Ich würde dem auf jeden Fall zustimmen. In allen politischen Prozessen spielen Gerechtigkeit und die Fairness der Kosten- und Lastenverteilung eine zentrale Rolle. Wenn man das Auto anschaut, kann man noch weitere Gerechtigkeitsargumente anführen. Zum Beispiel, dass die Gesundheitsbelastung durch das Auto sehr ungleich verteilt ist. Gerade die sozial weniger privilegierten Bevölkerungsschichten leiden überproportional unter Gesundheitsbelastungen durch Lärm, Emissionen und auch durch Unfälle.
In einigen Szenarien des Projekts NEMO wird das Fahrrad als Fortbewegungsmittel Nummer eins ausgelobt. Wenn man von den noch ausbaufähigen Faktoren wie sichere und durchgehende Radwege mal absieht: In Deutschland herrscht zumindest ein halbes Jahr lang kein besonders fahrradfreundliches Wetter. Wird hier zu optimistisch gedacht?
Paetzel: Da würde ich ganz entspannt sagen: Wenn etwas in Kopenhagen geht, dann geht das auch im Ruhrgebiet!
Roos: Das sehe ich genauso. Ich bin selbst passionierter Fahrradfahrer, und vieles daran ist eine Frage der Umstellung und Gewöhnung. Und so schlimm ist es mit dem Wetter gar nicht. Vor dem Hintergrund des Klimawandels wird es zunehmend weniger nass. Es gibt auch faszinierende neue Entwicklungen. Ich warte sehnsüchtig auf das Podbike, ein Pedelec mit Kabine. Man könnte auch darüber nachdenken, bestimmte Strecken in den Innenstädten zu überdachen – auch gegen die Hitze im Sommer. Und dann könnte man die Kombinierbarkeit mit anderen Verkehrsmitteln verbessern, etwa mit völlig neuen Verkehrsmitteln wie städtischen Seilbahnen mit Kabinen, in die man mit Rad hineinkann. Die machen auch Platz am Boden frei und überbrücken Steigungsstrecken.

Jugendliche und junge Erwachsene zeigen ein neues Bewusstsein für die Dringlichkeit des Klimaschutzes. In Umfragen wurde ermittelt, dass sich besonders viele jüngere Leute für eine autofreie Stadt aussprechen, immer weniger von ihnen wollen angeblich auch ein Auto besitzen. Sie sind aber nicht in Politik und Verwaltung aktiv, und auf der Straße reicht ihr Einfluss offenbar nicht aus. Dauert es noch zwei bis drei Generationen, bis die Wende so richtig losgeht?
Roos: Zwei bis drei Generationen darf es gar nicht dauern. Wird es auch nicht. Bei solchen Umfragen bin ich immer ein wenig vorsichtig. Was wir beobachten, ist dies: Sobald junge Leute mit der Ausbildung oder dem Studium fertig sind, kaufen sie eben doch ein Auto. Andererseits glaube ich, dass sich mit Fridays for Future etwas fundamental verändert. Wenn eine Generation über zwei Jahre lang regelmäßig auf die Straße geht und protestiert, das macht was mit den jungen Leuten, und das geht nicht ohne Weiteres wieder weg. Man muss nur aufpassen, dass es keine Radikalisierung und keinen massiven Generationenkonflikt gibt, wenn nichts passiert. Da entsteht ein Konfliktpotenzial zwischen einer alten Generation, die das alles nicht mehr so stark betrifft, die sich umstellen müsste und das vielleicht nicht will, und einer jungen Generation, die Angst um ihre eigene Zukunft hat. Es wäre gut für die ältere Generation, dieses Konfliktpotenzial zu entschärfen.
Paetzel: Ich würde gerne die soziale Frage noch einbringen. Diejenigen, die Fridays for Future tragen, stammen aus einem urbanen, weltoffenen Milieu. Sie können es sich leisten, zu protestieren, wenn ich das mal etwas überspitzt sagen darf. Diejenigen aus abgehängten Milieus, aus benachteiligten Klassen, sehe ich da jedenfalls deutlich weniger. Aber diese Fragen von unterschiedlichen Milieus und auch den Interessen dahinter – der eine kann es sich erlauben, aufs Auto zu verzichten, der andere braucht es aber, um seinen Ausbildungsplatz 30 Kilometer entfernt anzutreten –, die müssen wir zusammendenken. Mir kommt es drauf an, dass wir nicht die einen gegen die anderen ausspielen. Die Klimafrage ist für mich immer auch eine soziale Frage, und die richtige Antwort kann nur eine gemeinsame sein.
Ein Punkt, den NEMO macht, ist die „neue Normalität“ durch die Pandemie: Homeoffice, die stärker wiederentdeckte Wertschätzung der Natur … Was müsste jetzt passieren, um diese Effekte zugunsten der Verkehrswende zu nutzen?
Paetzel: Das haben die Bürger*innen doch schon ganz stark gemacht, indem sie im Frühjahr die Natur vor Ort erkundet haben – viel stärker als bisher. Unsere Radwege entlang von Emscher, Lippe und der Nebenläufe wurden ganz wunderbar angenommen. Wenn man das weiterträgt und die Möglichkeiten vor Ort erkennt, dann überträgt sich das auch auf neue Mobilitätsarten.
Roos: Das sehe ich auch so. Die Krise bringt für viele Leute große Härten mit sich, und das darf man nicht wegreden. Andererseits hat man Dinge entdeckt, bei denen man feststellt: So schlecht ist das gar nicht. Das betrifft auch die Muster, die jetzt aufgebrochen sind. Häufig sind die Menschen gar nicht so traurig, dass Dienstreisen wegfallen. Es ist wichtig, dass man die Narrative in diese Richtung steuert, dass man betont, dass nicht alles schlimm ist und sich manches auch zum Besseren wendet. Wie bei einem verregneten Urlaub muss man die Erinnerung an das Gute kultivieren.
Neue Emscher Mobilität (NEMO)
Das von der Stiftung Mercator geförderte Wissenschaftsprojekt „Neue Emscher Mobilität“ (NEMO) nimmt den Umbau der Emscher zum Anlass, um neue Möglichkeiten für eine nachhaltige und zukunftsorientierte Mobilität auszuloten.
www.nemo-ruhr.de