Wie sehen unsere Straßen ohne Autos aus?
Wie riecht eine autofreie Stadt? Was ist auf ihren Straßen zu hören? Josephine, Teilnehmerin des Forschungsprojektes „Straßen befreien“, schaut sich die Ergebnisse der Befragung an. In den Räumen der Denkfabrik paper planes hängen Bilder zum Träumen und Handeln. Die Visualisierungen machen autofreie Straßen erlebbar.
Auf vier ehemaligen Parkplätzen sitzen Menschen auf einer hölzernen Verweilinsel, reden, lachen, trinken Kaffee, klappen ihre Laptops auf und arbeiten. Nur die Autos, die ab und an vorbeifahren, stören die Idylle. Auf den 50 Quadratmetern einer Berliner Straße haben die Macher*innen des „Manifests der freien Straße“ einen Ort geschaffen, der im Kleinen zeigt, wie die Verkehrswende im Großen gelingen kann: ein Leben fast ohne Autos. Eine Straße, die wieder den Menschen gehört, die an ihren Bedürfnissen ausgerichtet ist und nicht nach ihren motorisierten Fahrzeugen. Ihre Büroräume in der Forster Straße im Stadtteil Kreuzberg nennt die Initiative, hinter der der Verein paper planes steckt, das Forsthaus. Hier wachsen keine Bäume. Hier wachsen Ideen.
Josephine ist gekommen, um sich eben diese anzusehen. Die Teilnehmerin des Forschungsprojektes „Straßen befreien“ nimmt die Stufen runter in den frisch renovierten Keller der Denkfabrik, die bereits mit Ideen wie der Radbahn Menschen für die Verkehrswende begeisterte. In den Vereinsräumen werden die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Befragung von Bürger*innen durch das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), die TU Berlin und eben paper planes ausgestellt. Das Projekt der Allianz läuft seit 2018 unter dem Namen „Verkehrswende erleben“, nun nennt es sich: „Straßen befreien“ und zeigt in den Kellerräumen das, was sich aus den Befragungen und Diskussionen ergeben hat: Bilder zum Träumen und Handeln. Wo in heutigen Straßenszenen Autos stehen oder rollen würden, spielen Kinder, gehen Senior*innen mit Rollatoren spazieren, wachsen Pflanzen, arbeiten Handwerker*innen. „Die Nutzung des Stadtraums als Parkplatz ist ein fundamentales Missverständnis. Echte Freiheit beginnt jenseits unserer privaten Autos. Befreien wir uns von ihnen!“ – so heißt es im Manifest. Oder: „Befreite Straßen schützen unser Leben und das der kommenden Generationen.“
Postmobile Zukunft
Für die Entwicklung der Bilder hat paper planes die Befragung von Bürger*innen genutzt. Josephine, Studentin aus Berlin, war eine der Befragten. 2.200 Adressen von Bürger*innen wurden für die Befragung vom Einwohnermeldeamt per Zufall gezogen und von dem Projektteam angeschrieben. „Ich wäre da jetzt gerne dabei“, sagt Josephine, als sie ein Bild betrachtet, auf dem Menschen mitten auf einer Straßenkreuzung mit Hammer und Säge an der Fertigstellung einer Holztribüne arbeiten. „Heute Abend: erste Sitzung Straßenparlament“ steht auf einem Schild neben ihnen. Sonnensegel, die zwischen Häuserdächern gespannt sind, schützen sie beim Werken. Was das Bild nicht zeigt: hupende Autos und ihre Fahrer*innen, die sich über die Bauarbeiten auf der Straße beschweren. Und das aus gutem Grund. Das Bild heißt „Zukunftsbild: Beteiligung“ und ist eines von sieben Renderings – fotorealistischen Bildern –, das zeigt, wie Straßen in Zukunft genutzt werden könnten, wenn dort keine oder nur noch wenige Autos fahren und parken. Jedes Bild gehört zu einer der sieben Thesen des „Manifests der freien Straße“. In den Thesen des Manifests ist beschrieben, wie eine postautomobile Zukunft aussehen sollte: mehr nachbarschaftliche Treffpunkte, viele Bäume, Wasserstellen zum Baden oder Märkte mit Produkten, die auf den Straßen der eigenen Stadt angebaut wurden.
Spielende Kinder statt hupende Autos
Als die 19-Jährige weiter durch die Ausstellung geht, huscht ihr beim Betrachten der autofreien Straßen ein Lächeln über das Gesicht. Ein Bild zeigt eine Wohngegend, ganz ohne parkende Autos, dafür mit Bäumen, Brunnen und einem Lastenrad, mit dem ein Bote Pakete ausliefert. „Die Lautstärke ist sicher ein Traum im Vergleich zu der an meiner Straße“, sagt Josephine. „Ich würde vor allem spielende Kinder hören, ein paar Vögel vielleicht, obwohl es eine zentrale Straße ist.“ Das Bild im Raum nebenan zeigt eine Straße, die im Grunde gar keine mehr ist: Bürger*innen laufen auf einer eisbedeckten Strecke Schlittschuh und schwitzen in der Sauna, die direkt nebenan steht. „Das Bild könnte das Ergebnis der Tagung des Straßenparlaments vom ersten Bild zeigen“, sagt Simon, Redakteur bei paper planes, der Josephine durch die Ausstellung begleitet. Es illustriere die Politikthese, in der es darum gehe, „mal was auszuprobieren, ohne dass es gleich perfekt sein muss“, erklärt er. In diesem Fall eben Eisskaten und Saunieren vor der eigenen Haustür. „Das wäre jetzt vielleicht nichts für mich“, wendet Josephine ein, „ich würde eher für mehr Hängematten plädieren, wenn ich im Straßenparlament säße.“
Stadtbaden statt Waldbaden
Paper planes hat die Bilder der autofreien Straßen bereits im Zuge der Befragung von Bürger*innen vorgestellt, die vergangenes Jahr von den Projektpartner*innen durchgeführt wurde. Die Teilnehmer*innen, darunter auch Josephine als jüngste Teilnehmerin mit ihren damals 18 Jahren, konnten über die Ideen der Bilder diskutieren und neue Vorschläge einbringen. Die hat paper planes dann genutzt, um ihre Entwürfe weiterzuentwickeln. Für die wissenschaftliche Fundierung des „Manifests der freien Straße“ konnte die Berliner Denkfabrik auf die Expertise der Projektpartner WZB und TU Berlin zurückgreifen. „Wir hoffen, dass die Bilder als Inspiration genutzt werden, zum Beispiel von Stadtverwaltungen“, erläutert Simon.
Das Ziel der Entwürfe sei es, die Chancen und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie öffentlicher Raum genutzt werden könnte – ganz ohne Zeigefinger und Verzichtsdebatte. Komplett autofrei sind die Straßen in der Vorstellung von paper planes ohnehin nicht: Notwendiger Verkehr, etwa für Paketlieferungen, soll auch zukünftig erhalten bleiben. Als problematisch sieht Simon eher jene Autos an, die im Schnitt 23 von 24 Stunden des Tages geparkt sind und damit vielfältig nutzbare Flächen einnehmen. Flächen, die stattdessen beispielsweise zur Erholung dienen könnten: „Ich kenne ja das Konzept vom Waldbaden, und das hier ist ein bisschen wie Stadtbaden. Ich stelle mir vor, dass die Luft einfach frisch riecht“, erzählt Josephine beim Betreten des größten Raumes im Ausstellungskeller.
Hier hängt kein gewöhnliches Bild, sondern eine riesige Leinwand. Vögel zwitschern aus Lautsprechern, und Josephine und Simon machen es sich auf zwei Liegestühlen vor der Leinwand gemütlich. „Eine verdammt gute Idee, die gar nicht mal so unrealistisch ist“, sagt Josephine beim Blick auf das Werk vor ihr. Mehrfamilienhäuser, deren Terrassen Zugang zu einem Fluss bieten, der durch die Straße fließt. Badelustige, die im kühlen Nass und neben Schilf und Seerosen schwimmen. Andere, die – ebenfalls auf Liegestühlen – vor einem Späti sitzen und das Treiben beobachten. „Ich könnte mir vorstellen, dort den ganzen Tag zu verbringen: Morgens ein bisschen lernen, mittags in den See und abends ein Getränk beim Späti. Man muss den Kiez quasi nie verlassen“, schwärmt die junge Frau, die im Berliner Stadtteil Reinickendorf wohnt und sich bei der Klimabewegung „Fridays for Future“ engagiert, um die Klimakrise abzuwenden. „Ich habe das Gefühl, hier durfte die Natur die Stadt zurückerobern“, fügt sie hinzu.
Nach dem Besuch bei paper planes erzählt Josephine, sie blicke optimistisch in die Zukunft: Die Bilder hätten ihr gezeigt, dass die gezeigten Ideen nicht weit entfernt oder schwer umzusetzen seien. Was es dafür brauche, sei vor allem die initiale Entscheidung, eine Veränderung zu wagen. „Dank der Bilder hat man ein Ziel vor Augen, das gar nicht so unrealistisch ist“, sagt Josephine, als sie wieder draußen auf der Straße steht und auf den urbanen Ort für alle, die hölzerne Verweilinsel blickt. Ein Ort, der vorher von Autos blockiert wurde. Den Gedanken, dass Straßen als Orte der Begegnung genutzt werden könnten und nicht nur dazu, um von A nach B zu kommen, findet sie besonders schön. „Ich freue mich jetzt erst mal auf mein Fahrrad“, sagt sie bei der Verabschiedung. Auf die Realität auf Berlins Straßen allerdings weniger.
Straßen befreien
Im interdisziplinären Projekt „Straßen befreien“ erarbeiten Forschende des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, der Technischen Universität Berlin gemeinsam mit der Initiative paper planes Narrative und Bilder für die Verkehrswende in Städten. Mit dem „Manifest der befreiten Straße“ erscheint Ende 2022 ein umfassendes Handbuch mit Visualisierungen, Konzepten und Geschichten, die eine konkrete Vorstellung der Verkehrswende vor Ort ermöglichen.