Individuelle Appelle für mehr Klima­schutz bringen nichts

Klima-Demonstrant:innen
Individuelle Appelle für mehr Klima­schutz bringen nichts
Autorin: Carola Hoffmeister 30.05.2023

Deutschland will bis 2045 klima­neutral sein. Doch dieses Ziel ist in Gefahr und mit einer CO2-Bepreisung und technologischen Entwicklungen allein nicht zu erreichen, warnen Expert*innen. Wie es trotzdem funktionieren könnte, erforscht der Soziologe Stefan C. Aykut im Rahmen einer neuen Mercator-Stiftungsprofessur an der Universität Hamburg.

Herr Aykut, wie realistisch ist es aus Ihrer Sicht, dass Deutschland sein Klima­schutz­ziel, bis 2045 klimaneutral zu sein, noch erreichen kann?

Stefan C. Aykut: Das ist schwer zu sagen. In der Vergangenheit wurde diese Frage vor allem von Natur- oder Wirtschafts­wissenschaftler*innen beantwortet. Sie haben sich beispiels­weise angesehen, welches Kohlen­stoff­budget uns noch bleibt für ein bestimmtes Temperaturziel oder wie sich Märkte durch politische Eingriffe wie eine CO2-Steuer beeinflussen lassen. Doch unsere Alltags­erfahrungen zeigen, dass das technische und ökonomische Wissen letztlich nichts darüber aussagt, ob auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Erreichen der Klima­neutralitäts­ziele gegeben sind. Deshalb haben wir im Exzellenz­cluster „Climate, Climatic Change, and Society“ (CLICCS) an der Universität Hamburg auf globaler Ebene untersucht, wie soziale Treiber den gesellschaftlichen Wandel beeinflussen. Als soziale Treiber gelten etwa Klimaproteste, Klima­klagen oder das Konsum­verhalten. Nun werde ich im Rahmen der von der Stiftung Mercator geförderten Professur das, was ich auf globaler Ebene unter­sucht habe, auf Deutschland über­tragen und hier den Fokus auf vielfältiges zivil­gesellschaftliches Engagement rund um die Klimafrage legen.

Welche Rolle spielt die Gesellschaft beim Erreichen der Klimaschutz­ziele?

Die Gesellschaft kann den Klima­schutz beschleunigen oder eben ausbremsen. So wäre zum Beispiel vieles, was seit 2019 klimapolitisch in Deutschland begonnen wurde, ohne die gesellschaftliche Mobilisierung durch die „Fridays-for-Future“-Bewegung nicht möglich gewesen. Anderer­seits schreiten Bemühungen um den Klima­schutz nicht so schnell voran, wie sie es müssten, weil Unternehmen den Klima­schutz blockieren oder Anwohner*innen gegen Windparks demonstrieren. Wie gesellschaftliche Dynamiken aber zum Erreichen oder Nicht­erreichen der Klima­ziele beitragen und wie sich das untersuchen lässt, ist noch nicht genau klar.

Stefan C. Aykut
© UHH/Ohme

Professor Dr. Stefan C. Aykut studierte in Berlin, Istanbul und in Paris, wo er 2012 promovierte. Seit 2017 ist er Junior­professor für Soziologie an der Universität Hamburg. In seiner Forschung verbindet Aykut Konzepte und Methoden aus Soziologie, Politik­wissenschaft und Wissenschafts­geschichte, um die soziale und politische Dynamik ökologischer Krisen und Konflikte zu erfassen. 2019 zeichnete ihn die Deutsche Forschungs­gemeinschaft (DFG) mit dem Heinz Maier-Leibnitz-Preis für Nach­wuchs­wissenschaftler*innen aus. Im Mai 2023 trat er die Mercator-Stiftungs­professur an der Universität Hamburg an, mit der er einen neuen Ansatz in der sozial­wissenschaftlichen Forschung etablieren möchte. Mit einer Studie überprüft Aykut künftig jährlich, ob Deutschland seine Klima­schutz­ziele erreichen kann.

Welche sozialen Treiber würden Sie besonders hervorheben?

Die Treiber Konsumverhalten und Unternehmens­aktivitäten sind sicher sehr zentral für die Emissions­entwicklung und wirken leider bremsend. Denn wir sehen weder, dass die Menschen ihr Einkaufs­verhalten spontan ändern, noch dass sich eine große Anzahl von Unternehmen freiwillig dem Klima­schutz verpflichtet. Eher im Gegen­teil. Ein weiterer wichtiger Treiber ist die Klima­politik, da sie strukturelle Weichen stellen kann. Und dann gibt es noch die zentralen Treiber Klima­proteste und zivil­gesellschaftliches Engagement, die Politiker*innen und Unternehmens­führungen direkt adressieren. Es geht hier aber nicht um die Frage der Hierarchie der einzelnen Treiber. Wir müssen uns diese eher als stark miteinander verbunden vorstellen.

Wir müssten die Klima­politik an Diskussionen um Lebensqualität und Stadt­planung knüpfen, statt den Leuten zu sagen, dass sie weniger Auto fahren sollen. Denn das bringt nichts.

Stefan C. Aykut

Bislang ist ein verschwindend geringer Anteil der Gelder, die zwischen 1990 und 2018 global für Klima­forschung bereitstanden, in sozial­wissenschaftliche Untersuchungen geflossen – nur knapp 5 Prozent der Klimaforschung und 0,12 Prozent der gesamten Forschungsmittel.

Das ist ein wichtiger Punkt. Lange Zeit gingen viele davon aus, das Klima­problem sei ein Wissens­problem: Gäbe es nur genug Wissen und Evidenz über die Entstehung des menschen­gemachten Klima­wandels, dann würde die Politik entsprechend handeln – davon waren viele überzeugt. Nun haben wir die globale Institution IPCC, den Weltklimarat, der regelmäßig wissenschaftlich fundierte Sachstandsberichte zum der­zeitigen Kenntnis­stand über den Klima­wandel veröffentlicht. Wir haben sehr viel Wissen und sehr viele Handlungs­empfehlungen. Und trotzdem werden keine ausreichenden Klima­schutz­maßnahmen auf politischer oder individueller Ebene getroffen. Die Menschen verändern nicht einfach ihr Verhalten, nur weil sie wissen, dass es den Klima­wandel mit seinen düsteren Prognosen gibt. Sie wählen nicht mehrheitlich die Politiker*innen, die sich verstärkt für den Klima­schutz einsetzen. Das heißt, wissenschaftliche Erkenntnisse ziehen per se kein klima­freundliches Verhalten nach sich. Damit haben wir eine Krise des Paradigmas, dass Wissen Handeln schafft. Die zweite Sache ist, dass wir erst in jüngerer Zeit die Bedeutung der Gesellschaft im Zusammenhang mit dem Klimawandel bewusst wahrnehmen und erkennen, dass wir ihre Rolle noch nicht hinreichend verstehen.

Der Paradigmenwechsel und die Bedeutung der Soziologie erinnern an die Corona­pandemie. In dieser Zeit dachten wir auch, wenn wir genug über Viren wüssten, ließe sich die Pandemie rasch in den Griff bekommen.

Genau. Damals ging es zunächst darum, das Virus besser zu verstehen. Im zweiten Schritt haben wir gemerkt, dass wir auch das menschliche Verhalten in die Überlegung der zu treffenden Maßnahmen mit einbeziehen müssen, und in Talkshows saßen plötzlich vermehrt Soziolog*innen. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Pandemie und dem Klima­wandel ist natürlich, dass wir bei der Pandemie wussten, dass die eingeforderten Verhaltens­änderungen vorüber­gehend sein werden, daher wurden sie von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert. Für den Klima­wandel brauchen wir tief­greifende Veränderungen, die dauerhaft verankert werden müssen. Entsprechend ist es im Unterschied zur Pandemie noch wichtiger, dass wir verstehen, wie Gesellschaft und der gesellschaftliche Wandel funktionieren.

Es gibt einen menschengemachten Klimawandel, den es durch Dekarbonisierung aufzuhalten gilt, zum Beispiel durch weniger Mobilität auf den Straßen und in der Luft. Das klingt doch eigentlich einfach.

Ja – und nein. Wir wissen, dass wir eine Veränderung im Konsum­verhalten der Menschen brauchen, um die Klimawende zu meistern. Zum Beispiel verbraucht die Produktion von Fleisch als Lebens­mittel sehr viel CO2. Entsprechend wäre es klimapolitisch richtig, die Ernährungsgewohnheiten auf pflanzenbasierte Nahrungsmittel umzustellen. Aber auch wenn die Deutschen in den vergangenen Jahren weniger Fleisch gegessen haben als zuvor, gibt es immer noch zu wenig Menschen, die auf Fleisch verzichten. Und auch die Politik stellt keine entsprechenden Weichen. Was müsste also passieren, damit sich das Konsum­verhalten im Hinblick auf Fleisch ändert? Wenn wir uns auf globaler Ebene verschiedene, mit Ernährung assoziierte Dynamiken ansehen, stellen wir fest, dass es in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen einen Trend zu biologischer Ernährung, zu Vegetarismus oder Teilvegetarismus gibt. Dieser hat erst mal nicht unbedingt etwas mit Klima­schutz zu tun. Diese gesellschaftlichen Dynamiken könnten dennoch aufgegriffen und mit Maßnahmen zum Klimaschutz verbunden werden.

Wir haben nur diese eine Erde.
Wir haben nur diese eine Erde. © Getty Images

Wie könnte das aussehen?

Wir müssten das Ziel des Klima­schutzes mit dem Wunsch nach gesunder Ernährung, nach Tierwohl oder einem Wandel in der Land­wirtschaft verknüpfen. Solange in Massen­tier­haltung produziertes Fleisch aber so günstig ist, bleibt das ein wohl unerreichbares Unterfangen. Ein anderes Beispiel ist die Mobilität. Die individuelle Mobilität zu verändern, ist insbesondere dann schwierig, wenn viele Menschen auf dem Land oder in einer schlecht angebundenen Region auf das Auto angewiesen sind. Zumal die Politik lange Zeit die Zersiedelung der Landschaft dadurch gefördert hat, indem sie Pauschalen für Pendler*innen gewährt und Eigenheime jenseits der Stadtzentren subventioniert hat. Aber angesichts des Klimawandels müssten wir, das ist hinreichend erforscht, die Städte zunehmend verdichten, weil dann die Wege etwa zum Arbeitsplatz oder zur Schule kürzer wären und besser mit dem öffentlichen Nahverkehr oder mit dem Fahrrad bewältigt werden könnten. Das wird mit Blick auf die USA deutlich, wo die Emissionen pro Kopf auch deshalb viel höher als in Europa sind, weil die Zersiedelung viel weiter als hierzulande voran­geschritten ist. Vor dem Hinter­grund dieser Erkenntnisse und unter Gesichts­punkten des Klima­wandels erhalten Diskussionen über lebens­werte Innen­städte eine ganz andere Aktualität und Relevanz, als viele gemeinhin angenommen haben. Wir müssten die Klima­politik an Diskussionen um Lebens­qualität und Stadt­planung knüpfen, anstatt den Leuten einfach zu sagen, dass sie weniger Auto fahren sollen. Denn das bringt nichts.

Könnten so Handlungsempfehlungen für Politiker*innen aussehen? In der Studie im Rahmen der Mercator-Stiftungs­professur betreiben Sie nicht nur Grund­lagen­forschung, sondern generieren auch praktische Tipps.

Ja, wobei sich die Handlungsempfehlungen nicht nur an die Politik, sondern auch an die Zivil­gesellschaft richten. Wir werden deshalb eine Website aufbauen, eine Datenbank, anhand derer sich die Dynamik von bestimmten Treibern nach­verfolgen lässt. Zusätzlich möchten wir unsere Erkenntnisse durch Workshops mit gesellschaftlichen Akteur*innen und durch regel­mäßige Veröffentlichungen den Protagonist*innen der Klima­bewegung zugänglich machen.

Umweltaktivist am Strand
Auf die gesellschaftlichen Dynamiken zum Erreichen der Klimaziele kommt es jetzt an – auf uns alle. © Getty Images

Der Klimawandel schreitet schneller voran, als man vor einigen Jahren vielleicht noch dachte. Ist Ihre Arbeit ein Wettlauf gegen die Zeit?

Es ist dringlich. Gleich­zeitig ist mein persönlicher Zugang, dass es nichts nützt, sich immer wieder vom Aspekt der Dringlichkeit frustrieren zu lassen. Denn die Transformation zur Klima­neutralität ist nur möglich, wenn die Maßnahmen sinnvoll und zielführend sind – sonst kommt es zu Backlashes. Wir haben genau das in Frankreich gesehen, wo sich an einer Ökosteuer Demonstrationen entzündet haben, weil deren Umsetzung als zutiefst ungerecht wahr­genommen wurde. Schlecht gemachte Maßnahmen, die im Sinne des Klimas vielleicht mal gut gemeint waren, können sich schnell ins Gegenteil verkehren und dann gesellschaftliche Dynamiken auslösen, die einen schnelleren Klima­schutz verhindern.

Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die Aktionen der „Letzten Generation“ bewerten?

Die Situation ist zu frisch, uns liegen noch keine belastbaren Daten zur „Letzten Generation“ vor. In geschichtlicher Hinsicht ist es aber so, dass soziale Bewegungen oftmals sogenannte radikale Flanken entwickeln. Das war so bei der afro­amerikanischen Bürger­rechts­bewegung der Black Panthers, bei der britischen Frauen­wahl­rechts­bewegung und auch bei der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung. Eine Hypothese, die in diesem Zusammenhang häufig hervorgebracht wird, ist die, dass radikale Flanken dazu dienen können, den moderaten Teil einer solchen Bewegung als gesellschafts­fähig erscheinen zu lassen. Die Leute könnten also sagen: „Die Chaot*innen von der ‚Letzten Generation‘ finden wir nicht gut, aber die ‚Fridays for Futures‘ sind sehr vernünftig.“ Klar ist, dass die „Letzte Generation“ den Blick auf ein wichtiges Thema lenkt – und diese Aufmerksamkeit ist wichtig. Ob ihre Taktiken lang­fristig Erfolg haben werden, darüber kann ich mir bislang kein Urteil erlauben.

Sie haben sich Ihr Studium in Paris als Barpianist querfinanziert. Ist für Sie Musik ein guter Ausgleich zum mitunter belastenden Thema Klimaschutz?

Die Musik, auch als Sänger und Instrumentalist in einer Band, ist für mich inzwischen Teil meiner Identität geworden. Sie bietet mir bei den manchmal in der Tat deprimierenden beruflichen Fragen einen anderen Zugang zu Emotionen und zur Gesellschaft. Und verschafft mir nicht zuletzt Momente, in denen ich die politischen und ökologischen Fragen für einen Augenblick beiseitelassen kann.


Gesellschaftliche Dynamiken der Klimawende

Die gesellschaftlichen Dynamiken, die die Dekarbonisierung hemmen und antreiben, werden politisch nicht hin­reichend adressiert, aber auch wissenschaftlich nicht systematisch erfasst. Die Stiftung Mercator hat deshalb eine Stiftungs­professur zu Klima und Gesellschaft an Stefan C. Aykut vergeben. Der Soziologe etabliert damit ein neues Forschungsfeld an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozial­wissen­schaften, das die Universität Hamburg auch nach Ablauf der fünf­jährigen Förderungs­periode durch die Stiftung Mercator weiterführen wird.
hamburg.de/newsroom/presse/2023/pm19.html