Lisanne lässt singen

Eine Schülerin, die auch Künstlerin ist und in ihrer eigenen Klasse zur Kunstpädagogin wird? Diesen Dreiklang übt Elftklässlerin Lisanne Pohlenz an ihrer Schule. Als frisch gebackene Musikmentorin kennt sie jetzt auch die andere Seite der musikalischen Bildung.
Es ist früh am Dienstagmorgen, 7.55 Uhr. Für die elfte Klasse des Heinrich-Heine-Gymnasiums in Mettmann beginnt der Musikunterricht. Und damit auch der Einsatz von Lisanne Pohlenz. Sie ist eine der Jüngsten in ihrer Klasse, gerade 15 geworden, und seit kurzem Musikmentorin. Konkret heißt das: Wenn sich die Musikklasse nun zu Beginn der Doppelstunde aufteilt, wird sie eine Gruppe übernehmen und betreuen. Etwa zehn Klassenkameradinnen hilft sie beim Einstimmen und Aufwärmen der Stimmbänder. Man müsse sich das vorstellen wie bei Sportler*innen, die vor dem Training die Muskeln lockern. So ähnlich funktioniere das auch mit den Stimmbändern, die nicht gleich, von null auf hundert, volle Leistung geben könnten. „Es gibt auch einen Stimmmuskel, der zwischen den Stimmlippen sitzt“, erklärt die 15-jährige Mentorin.

Einsingen mit Lisanne
Sprechübungen helfen. Je nachdem welche Stimmung Lisanne am frühen Morgen aus der Klasse spürt, wählt sie aus. Machen alle noch einen verschlafenen Eindruck? Dann braucht es Energie – die aufwärmenden Laute dürfen ruhig etwas aggressiver ausfallen: „Zucker! Zucker! Zucker!“, stoßen sie salvenartig gemeinsam aus. Ist ein bisschen mehr Ruhe gefragt, tut es auch ein akkurat artikuliertes und mehrfach wiederholtes „Blumen blühen blau“. Dann wird eine kurze Notenlinie gesungen, im Anschluss trägt Lisanne ihrer Gruppe eine Melodie in Moll vor, dann geht es nach oben, nach unten. „Wir proben gerade einen sehr anspruchsvollen Song mit hoher Tonlage“, erzählt Lisanne, da komme es darauf an, dass man die Töne gut treffe. Das Projekt begleitet die Klasse im Musikunterricht seit vielen Wochen. Nach 25, spätestens 35 Minuten geht es wieder zurück zu den anderen. Lisanne reiht sich ein, wird wieder Teil der Gruppe – es wird gemeinsam gesungen, musiziert. Gefilmt wird das Ganze auch noch.



Musik von klein auf
Nein, Autoritätsprobleme habe sie überhaupt nicht. „Die anderen ziehen unglaublich gut mit. Die merken ja, dass ich sie besser machen kann“, bewertet die Teenagerin, durchaus selbstbewusst, ihren Part. Seit sie acht Jahre alt ist, spielt Lisanne Klavier. Die Musik, sagt sie, begleite sie von klein auf und nahezu täglich. Schon mit fünf sei sie einem Kinderchor beigetreten, später war sie auch Teil der Mädchenkantorei. In einer Band der Musikschule habe sie gespielt und zwischendurch auch noch Opern gesungen. „Meine Familie ist sehr unterstützend“, sagt sie. Und ja, sie könne sich durchaus vorstellen, beruflich etwas mit Musik zu machen. „Ich sehe mich als Künstlerin“, sagt die 15-Jährige nach kurzer Pause, nachgedacht habe sie darüber vorher noch nicht so intensiv. Genauso, wie sie von ihrer musikalischen Begabung zuvor nicht viel Aufhebens gemacht hat. Bevor sie Musikmentorin wurde, hatte ihre Jahrgangsstufe von Lisannes Leidenschaft nichts geahnt.
Zu jung, um Mentorin zu werden?
Warum aber hat sie denn noch solch ein Mentor*innen-Programm draufgesetzt? Reichte ihr die eigene künstlerische Entfaltung nicht aus? Lisannes Antwort ist pragmatisch. Zum einen, erklärt sie, habe ihre Musiklehrerin am Ende letzten Jahres eine Rundmail verschickt, in der die Mentor*innengeschichte ausführlich beschrieben war. Zum anderen sei sie so veranlagt, dass sie jede sich bietende Chance gerne mitnehmen und ausprobieren möchte. „Das bringt einen in jedem Fall weiter“, sagt sie. Und selbst die Tatsache, dass sie de facto zu jung fürs Programm war – eigentlich zielt es auf die Altersgruppe der 15- bis 18-Jährigen –, hat sie nicht stoppen können. „Ich habe eine Absage bekommen, mit dem Verweis, es nächstes Jahr doch noch einmal zu versuchen – ich war ja erst 14.“ Ihr Vater habe dann Protest eingelegt und darauf verwiesen, dass sie ein Jahr später ja bereits im Abiturjahrgang sei und dass deshalb für sie nur 2020 infrage komme. Und so gab es eine Ausnahmegenehmigung.


Junge Leute zu kulturellen Vermittlern machen
Antje Valentin ist Direktorin der Landesmusikakademie NRW e. V., die das Musikmentor*innen-Programm anbietet. „Künstlerisch aktive junge Menschen könnten viel früher ermutigt werden, kulturelle Vermittlung als Berufsfeld kennenzulernen“, beschreibt sie die Hintergründe in „Auf den Punkt – Kulturort Schule“, einer Broschüre, herausgegeben vom Rat für Kulturelle Bildung. „Die Erfahrung künstlerischer Selbstwirksamkeit ist groß, nicht selten interessieren sich diese jungen Peers dann auch für ein (musik-)pädagogisches Studium.“
Lisanne Pohlenz will die Musik definitiv zu ihrer Profession machen. Ein Studium schwebt ihr vor. Singen vielleicht. Das Piano? Auch eine Möglichkeit. „Ich liebe es einfach, mit Menschen und für Menschen Musik zu machen.“ Sie frohlockt: „Das Programm der Landesakademie hat mir definitiv viel gebracht.“ Von so vielem hatte sie vorher überhaupt keine Ahnung gehabt: Wie agiere ich vor einer Gruppe? Auch Arrangements und Hörübungen kannte sie nicht. Und außerdem all die technischen Aspekte, mit Aufnahmegeräten und vielem mehr. „Eine tolle Erfahrung“, so Lisanne. Sie hat auch den Gruppengeist als außerordentlich inspirierend empfunden: „So viele motivierte Menschen!“ Die Abschlussprüfung war Anfang Oktober, Kontakt haben alle immer noch. Gerade haben sie eine Zoom-Weihnachtsfeier gefeiert und dabei am Split Screen einen Weihnachtssong gebastelt.

Von Chorleitung bis Öffentlichkeitsarbeit
Lisanne Pohlenz’ musikalisches Netzwerk hat sich also bereichernd erweitert. Die Schulung ging im Januar 2020 los, sollte fünf Wochenenden umfassen, wurde wegen der Pandemie und dem Umschalten auf Online um ein Wochenende im Oktober erweitert. Vier Dozenten gaben Einblicke in ganz unterschiedliche Aspekte der Musik, auf der Liste standen zum Beispiel die Grundlagen der Gruppenleitung, des Gruppenmusizieren mit und ohne Noten, in die Leitung eines Chors oder Ensembles, aber auch Probenarbeit und Dirigieren, Musiktheorie, Gehörbildung, Arrangieren, Projektmanagement, Öffentlichkeitsarbeit und Tontechnik. Viel Wert wurde auf Praxisarbeit in Kleingruppen gelegt. Ein bisschen war es wie in der Schule, aber eben nur mit Gleichgesinnten: Präsentationen wurden erwartet, Impulsreferate, es gab Beobachtungsaufgaben, Reflexionsphasen und Feedback. Zwischen den einzelnen Schulungen sollten die Teilnehmer*innen ihr neu erlerntes Wissen assistierend in eine Musikgruppe in der Schule einbringen. Da passte es gut, dass Lisanne schon im Frühjahr ihre Musiklehrerin bei einem anderen Projekt unterstützen durfte.
Andere verwandeln
Ein schönes Gefühl sei es, anderen Musik vermitteln zu können, findet Lisanne. Ein bisschen habe sie das zuvor schon getestet, als Klavierlehrerin. Aber vor mehreren Leuten zu stehen, das sei doch noch mal eine neue Qualität. Ob Altersgenoss*innen künstlerische Fächer und Musik nicht so ernst nehmen wie sie? „Das mag so sein, kümmert mich aber nicht – es sind meine Lieblingsfächer.“ Das Schöne sei, dass es den anderen Mentor*innen genauso gehe: „Wir nehmen das alle sehr ernst.“ Aber dass sie auch in der Rolle als Vermittlerin von Musik Talent bewiesen habe, freut sie schon sehr. Euphorisch erzählt die 15-Jährige, wie ein Mädchen ihrer Gruppe anfangs sehr schüchtern gewesen sei, mit Singen so gar nichts am Hut hatte. Im Laufe der Wochen und den sehr konkreten Hilfestellungen sei aus ihr quasi ein anderer Mensch geworden. Sie habe eine so schöne Singstimme entwickelt und übernehme mittlerweile fast alle Solo-Parts des Jahrgangs. „Wie verwandelt – sie ist ganz selbstbewusst geworden!“
Nachwuchs dringend gesucht
Die gute Erfahrung von Lisanne Pohlenz wird durch wissenschaftliche Expertise bestätigt. „Das Programm Musikmentor*innen in Nordrhein-Westfalen ist die punktuelle Reaktion auf ein flächendeckendes Problem – den eminenten Mangel an Nachwuchskräften für musikalische Bildungs- und Vermittlungsarbeit“, resümiert Lydia Grün, Mitglied im Rat für Kulturelle Bildung. Die Professorin für Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold ergänzt: „Hier wird versucht, ein eigentlich strukturelles Defizit zu kompensieren: junge Menschen zu interessieren und fit zu machen insbesondere für kulturelle Bildungsarbeit mit Gruppen.“ Wie wichtig diese Qualifizierung ist, zeigten Studien des Rats für Kulturelle Bildung: „Die Qualität kultureller Bildung ist direkt abhängig vom eingesetzten professionellen Personal.“ Und so appelliert Ratsmitglied Lydia Grün: „Es gilt, das Musikmentor*innen-Programm flächendeckend auszurollen, um in einer Zeit des sozialen Drifts Akteurinnen und Akteure an der Hand zu haben, die mit ihren Kompetenzen das sich aktuell neu formierende Zusammenleben zukunftsorientiert gestalten und begleiten können.“ Wie gut das klappen kann, sieht man an Lisanne.
Rat für Kulturelle Bildung e. V.
Das unabhängige Beratungsgremium untersucht die Lage und Qualität kultureller Bildung in Deutschland. Neben Handlungsbedarfen identifiziert die Partnergesellschaft der Stiftung Mercator auch neue Wege zur Verbesserung.
www.rat-kulturelle-bildung.de