Lisanne lässt singen

Schülerin spielt Klavier
Lisanne lässt singen
Autorin: Cornelia Heim Fotos: Lukas Schulze 15.12.2020

Eine Schülerin, die auch Künstlerin ist und in ihrer eigenen Klasse zur Kunstpädagogin wird? Diesen Dreiklang übt Elftklässlerin Lisanne Pohlenz an ihrer Schule. Als frisch gebackene Musikmentorin kennt sie jetzt auch die andere Seite der musikalischen Bildung.

Es ist früh am Dienstagmorgen, 7.55 Uhr. Für die elfte Klasse des Heinrich-Heine-Gymnasiums in Mettmann beginnt der Musik­unterricht. Und damit auch der Einsatz von Lisanne Pohlenz. Sie ist eine der Jüngsten in ihrer Klasse, gerade 15 geworden, und seit kurzem Musik­mentorin. Konkret heißt das: Wenn sich die Musik­klasse nun zu Beginn der Doppel­stunde aufteilt, wird sie eine Gruppe über­nehmen und betreuen. Etwa zehn Klassen­kameradinnen hilft sie beim Einstimmen und Aufwärmen der Stimm­bänder. Man müsse sich das vorstellen wie bei Sportler*innen, die vor dem Training die Muskeln lockern. So ähnlich funktioniere das auch mit den Stimm­bändern, die nicht gleich, von null auf hundert, volle Leistung geben könnten. „Es gibt auch einen Stimm­muskel, der zwischen den Stimm­lippen sitzt“, erklärt die 15-jährige Mentorin.

Seit Oktober ist sie Musikmentorin: Lisanne Pohlenz. © Lukas Schulze

Einsingen mit Lisanne

Sprechübungen helfen. Je nachdem welche Stimmung Lisanne am frühen Morgen aus der Klasse spürt, wählt sie aus. Machen alle noch einen verschlafenen Eindruck? Dann braucht es Energie – die auf­wärmenden Laute dürfen ruhig etwas aggressiver ausfallen: „Zucker! Zucker! Zucker!“, stoßen sie salven­artig gemeinsam aus. Ist ein bisschen mehr Ruhe gefragt, tut es auch ein akkurat artikuliertes und mehrfach wiederholtes „Blumen blühen blau“. Dann wird eine kurze Noten­linie gesungen, im Anschluss trägt Lisanne ihrer Gruppe eine Melodie in Moll vor, dann geht es nach oben, nach unten. „Wir proben gerade einen sehr anspruchs­vollen Song mit hoher Tonlage“, erzählt Lisanne, da komme es darauf an, dass man die Töne gut treffe. Das Projekt begleitet die Klasse im Musik­unterricht seit vielen Wochen. Nach 25, spätestens 35 Minuten geht es wieder zurück zu den anderen. Lisanne reiht sich ein, wird wieder Teil der Gruppe – es wird gemeinsam gesungen, musiziert. Gefilmt wird das Ganze auch noch.

... am Klavier. © Lukas Schulze
Einsingen mit Lisanne ... © Lukas Schulze
Sie spielt seit sieben Jahren - fast ihr halbes Leben. © Lukas Schulze

Musik von klein auf

Nein, Autoritätsprobleme habe sie überhaupt nicht. „Die anderen ziehen unglaublich gut mit. Die merken ja, dass ich sie besser machen kann“, bewertet die Teenagerin, durchaus selbst­bewusst, ihren Part. Seit sie acht Jahre alt ist, spielt Lisanne Klavier. Die Musik, sagt sie, begleite sie von klein auf und nahezu täglich. Schon mit fünf sei sie einem Kinder­chor beigetreten, später war sie auch Teil der Mädchen­kantorei. In einer Band der Musik­schule habe sie gespielt und zwischen­durch auch noch Opern gesungen. „Meine Familie ist sehr unter­stützend“, sagt sie. Und ja, sie könne sich durchaus vor­stellen, beruflich etwas mit Musik zu machen. „Ich sehe mich als Künstlerin“, sagt die 15-Jährige nach kurzer Pause, nach­gedacht habe sie darüber vorher noch nicht so intensiv. Genauso, wie sie von ihrer musikalischen Begabung zuvor nicht viel Aufhebens gemacht hat. Bevor sie Musik­mentorin wurde, hatte ihre Jahr­gangs­stufe von Lisannes Leidenschaft nichts geahnt.

Zu jung, um Mentorin zu werden?

Warum aber hat sie denn noch solch ein Mentor*innen-Programm drauf­gesetzt? Reichte ihr die eigene künstlerische Entfaltung nicht aus? Lisannes Antwort ist pragmatisch. Zum einen, erklärt sie, habe ihre Musik­lehrerin am Ende letzten Jahres eine Rund­mail verschickt, in der die Mentor*innen­geschichte ausführlich beschrieben war. Zum anderen sei sie so veranlagt, dass sie jede sich bietende Chance gerne mitnehmen und ausprobieren möchte. „Das bringt einen in jedem Fall weiter“, sagt sie. Und selbst die Tatsache, dass sie de facto zu jung fürs Programm war – eigentlich zielt es auf die Alters­gruppe der 15- bis 18-Jährigen –, hat sie nicht stoppen können. „Ich habe eine Absage bekommen, mit dem Verweis, es nächstes Jahr doch noch einmal zu versuchen – ich war ja erst 14.“ Ihr Vater habe dann Protest eingelegt und darauf verwiesen, dass sie ein Jahr später ja bereits im Abiturjahrgang sei und dass deshalb für sie nur 2020 infrage komme. Und so gab es eine Aus­nahme­genehmigung.

Lisanne kann sich gut vorstellen, beruflich etwas mit Musik zu machen. © Lukas Schulze
Als Musikmentorin kann sie schon einmal testen, wie sich das anfühlt. © Lukas Schulze

Junge Leute zu kulturellen Vermittlern machen

Antje Valentin ist Direktorin der Landes­musik­akademie NRW e. V., die das Musik­mentor*innen-Programm anbietet. „Künstlerisch aktive junge Menschen könnten viel früher ermutigt werden, kulturelle Vermittlung als Berufsfeld kennen­zu­lernen“, beschreibt sie die Hinter­gründe in „Auf den Punkt – Kulturort Schule“, einer Broschüre, heraus­gegeben vom Rat für Kulturelle Bildung. „Die Erfahrung künstlerischer Selbst­wirksamkeit ist groß, nicht selten interessieren sich diese jungen Peers dann auch für ein (musik-)pädagogisches Studium.“

Lisanne Pohlenz will die Musik definitiv zu ihrer Profession machen. Ein Studium schwebt ihr vor. Singen vielleicht. Das Piano? Auch eine Möglichkeit. „Ich liebe es einfach, mit Menschen und für Menschen Musik zu machen.“ Sie frohlockt: „Das Programm der Landes­akademie hat mir definitiv viel gebracht.“ Von so vielem hatte sie vorher überhaupt keine Ahnung gehabt: Wie agiere ich vor einer Gruppe? Auch Arrangements und Hör­übungen kannte sie nicht. Und außerdem all die technischen Aspekte, mit Aufnahme­geräten und vielem mehr. „Eine tolle Erfahrung“, so Lisanne. Sie hat auch den Gruppengeist als außer­ordentlich inspirierend empfunden: „So viele motivierte Menschen!“ Die Abschluss­prüfung war Anfang Oktober, Kontakt haben alle immer noch. Gerade haben sie eine Zoom-Weihnachts­feier gefeiert und dabei am Split Screen einen Weihnachts­song gebastelt.

Gemeinsam mit Menschen Musik machen – das ist Lisannes große Leidenschaft. © Lukas Schulze

Von Chorleitung bis Öffentlichkeits­arbeit

Lisanne Pohlenz’ musikalisches Netzwerk hat sich also bereichernd erweitert. Die Schulung ging im Januar 2020 los, sollte fünf Wochenenden umfassen, wurde wegen der Pandemie und dem Umschalten auf Online um ein Wochenende im Oktober erweitert. Vier Dozenten gaben Einblicke in ganz unter­schiedliche Aspekte der Musik, auf der Liste standen zum Beispiel die Grundlagen der Gruppen­leitung, des Gruppen­musizieren mit und ohne Noten, in die Leitung eines Chors oder Ensembles, aber auch Probenarbeit und Dirigieren, Musik­theorie, Gehör­bildung, Arrangieren, Projektmanagement, Öffentlichkeits­arbeit und Ton­technik. Viel Wert wurde auf Praxis­arbeit in Klein­gruppen gelegt. Ein bisschen war es wie in der Schule, aber eben nur mit Gleich­gesinnten: Präsentationen wurden erwartet, Impuls­referate, es gab Beobachtungs­aufgaben, Reflexions­phasen und Feedback. Zwischen den einzelnen Schulungen sollten die Teilnehmer*innen ihr neu erlerntes Wissen assistierend in eine Musik­gruppe in der Schule einbringen. Da passte es gut, dass Lisanne schon im Frühjahr ihre Musik­lehrerin bei einem anderen Projekt unter­stützen durfte.

Andere verwandeln

Ein schönes Gefühl sei es, anderen Musik vermitteln zu können, findet Lisanne. Ein bisschen habe sie das zuvor schon getestet, als Klavier­lehrerin. Aber vor mehreren Leuten zu stehen, das sei doch noch mal eine neue Qualität. Ob Alters­genoss*innen künstlerische Fächer und Musik nicht so ernst nehmen wie sie? „Das mag so sein, kümmert mich aber nicht – es sind meine Lieblings­fächer.“ Das Schöne sei, dass es den anderen Mentor*innen genauso gehe: „Wir nehmen das alle sehr ernst.“ Aber dass sie auch in der Rolle als Vermittlerin von Musik Talent bewiesen habe, freut sie schon sehr. Euphorisch erzählt die 15-Jährige, wie ein Mädchen ihrer Gruppe anfangs sehr schüchtern gewesen sei, mit Singen so gar nichts am Hut hatte. Im Laufe der Wochen und den sehr konkreten Hilfe­stellungen sei aus ihr quasi ein anderer Mensch geworden. Sie habe eine so schöne Sing­stimme entwickelt und über­nehme mittler­weile fast alle Solo-Parts des Jahr­gangs. „Wie verwandelt – sie ist ganz selbstbewusst geworden!“

Nachwuchs dringend gesucht

Die gute Erfahrung von Lisanne Pohlenz wird durch wissenschaftliche Expertise bestätigt. „Das Programm Musik­mentor*innen in Nordrhein-Westfalen ist die punktuelle Reaktion auf ein flächen­deckendes Problem – den eminenten Mangel an Nach­wuchs­kräften für musikalische Bildungs- und Vermittlungs­arbeit“, resümiert Lydia Grün, Mitglied im Rat für Kulturelle Bildung. Die Professorin für Musik­vermittlung an der Hochschule für Musik Detmold ergänzt: „Hier wird versucht, ein eigentlich strukturelles Defizit zu kompensieren: junge Menschen zu interessieren und fit zu machen insbesondere für kulturelle Bildungs­arbeit mit Gruppen.“ Wie wichtig diese Qualifizierung ist, zeigten Studien des Rats für Kulturelle Bildung: „Die Qualität kultureller Bildung ist direkt abhängig vom eingesetzten professionellen Personal.“ Und so appelliert Ratsmitglied Lydia Grün: „Es gilt, das Musik­mentor*innen-Programm flächen­deckend aus­zu­rollen, um in einer Zeit des sozialen Drifts Akteurinnen und Akteure an der Hand zu haben, die mit ihren Kompetenzen das sich aktuell neu formierende Zusammen­leben zukunfts­orientiert gestalten und begleiten können.“ Wie gut das klappen kann, sieht man an Lisanne.

Rat für Kulturelle Bildung e. V.

Das unabhängige Beratungs­gremium untersucht die Lage und Qualität kultureller Bildung in Deutschland. Neben Handlungs­bedarfen identifiziert die Partner­gesellschaft der Stiftung Mercator auch neue Wege zur Verbesserung.
www.rat-kulturelle-bildung.de