Suche nach neuen Podien

Mann steht auf der Bühne eines leeren Saals und spricht in eine Kamera
Suche nach neuen Podien
Autor: Matthias Klein 30.03.2020

Panik versus Entschleunigung: Die Polarisierung der Kulturwelt werde in der Coronakrise extrem deutlich, sagt Musikwissenschaftlerin Lydia Grün im Interview. Der Kulturbereich habe sich zu wenig mit digitalen Entwicklungen beschäftigt – nun entstehe Freiraum für Neues.

 

Konzerte fallen aus, Festivals sind abgesagt, Buchhandlungen geschlossen: Wie ist die Situation in der Kulturszene, Frau Grün?

Lydia Grün: Ich sehe zwei Zustände. Der eine Zustand ist: nackte Panik. Es geht um bei vielen Kulturschaffenden um die eigene Existenz. Ich habe miterlebt, wie innerhalb von Stunden per SMS gekündigt und abgesagt wurde. Künstler*innen und Akteur*innen in der Kulturellen Bildung stehen auf einen Schlag vor dem Nichts. Wer nun erfährt, dass ganze Tourneen abgesagt werden, dem brechen die geplanten Einnahmen für Monate weg. Die Stimmung ist überaus hektisch – das geht an die Substanz.

Was kennzeichnet den zweiten Zustand?

Grün: Ich erlebe bei manchen auch eine komplett andere Seite. Gerade Künstler*innen, die im Tourgeschäft sehr eingebunden waren, erfahren nun eine komplette Entschleunigung. Von einigen wird das als Erholung und Befreiung aus dem üblichen Hamsterrad erlebt.

Portrait von Lydia Grün
© Oliver Röckle

Lydia Grün

Lydia Grün ist Mitglied des Rats für kulturelle Bildung. Sie ist Professorin für Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold.

Neben einer ökonomischen Grundunsicherheit, die alle betrifft, sagen sie: Ich habe nun Zeit, einfach mal über bestimmte Sachen nachzudenken. Oder: Ich habe nun Zeit für meine Familie, die mich sonst nur 30 Tage im Jahr sieht. Natürlich reden wir hier über eher Künstler*innen oder auch Lehrende an Hochschulen, die wirtschaftlich abgesichert sind. Das ist schon eine paradoxe Situation.

Was bedeutet das?

Grün: Diese beiden Pole gab es im Kulturleben schon immer: Das Projektgeschäft mit aller Flexibilität und Hochrisiko auf der einen und die abgesicherten Institutionen auf der anderen Seite. In dieser Krise tritt die Bipolarität der Kulturszene nun extrem deutlich zutage.

Es sind nun neue Kompetenzen gefragt, die Künstler*innen nicht einfach nur selbst aufbauen können.

Sie haben die vielen abgesagten Konzerte angesprochen, auch auf dem Musikfrachter. Nun streamen zahlreiche Musiker*innen Auftritte in sozialen Medien – kann die Digitalisierung schnell eine Hilfe sein?

Grün: Grundsätzlich ja. Wenn Sie Musiker*innen das Publikum und dem Publikum das Bühnenerlebnis nehmen, fällt der wesentliche Teil von Musik als sozialer Kunst weg. Der Zauber der Bühne fehlt, der Funke kann nicht überspringen. Jetzt kann man sagen, der kommunikative Akt wird ins Digitale verlagert. Das funktioniert ja auch in Teilen. Aber der Resonanzraum, den Musiker*innen auf der Bühne brauchen, der fehlt. Sie erleben keine direkte hautnahe Reaktion des Publikums, quasi den Atem des Auditoriums. Da werden sich neue Formen herausschälen, wenn das digitale Erlebnis das Live-Erlebnis ersetzt. Ich sehe da durchaus viel ästhetisches Potenzial im Digitalen. Wir können nun beobachten und auch aktiv gestalten, wie sich musikalische Wahrnehmung und Produktion dadurch verändern. Die digitale Welt ist sehr facettenreich, Kreativität wird sich unter den neuen Bedingungen anders entwickeln.

Gerade Musiker*innen leben besonders von Live-Konzerten. Momentan treten viele digital kostenlos auf – sehen Sie eine Chance, dass im Digitalen Erlösmodelle entstehen könnten, um die Ausfälle zu kompensieren?

Grün: Die Berliner Philharmoniker machen mit ihrer Digital Concert Hall seit Jahren vor, dass es geht. Man muss aber sehen: Die Voraussetzung ist, dass hier viel Budget in die Hand genommen wird, um eine hohe und vor allem professionelle Qualität zu garantieren. Damit meine ich nicht nur die akustische Qualität, sondern auch die visuelle Präsentation. Positiv ist, dass jetzt Geld dafür frei wird und die Bereitschaft steigt, in diese Bereiche zu investieren.

Frau spielt Saxophon auf ihrem Balkon. Die Nachbarn schauen jeweils von ihrem Balkon zu
© Getty Images

Aktuelle Handyvideos haben momentan einen hohen Symbolwert, aber da entstehen keine Produktionen, die man sich anderthalb Stunden ansehen und anhören möchte. Es sind nun neue Kompetenzen gefragt, die Künstler*innen nicht einfach nur selbst aufbauen können. Hier brauchen wir im Visuellen und im Technischen neue Gewerke, die professionell dazukommen.

Entstehen nun dadurch neue Gewinner und Verlierer?

Grün: Die Gefahr besteht. Wir haben in allen Sparten unterschiedliche Generationen von Kulturschaffenden. Ich glaube, dass es nicht nur eine weitere wirtschaftliche und soziale Spaltung zwischen den abgesicherten und den prekär lebenden Kulturschaffenden geben wird. Die, die sich noch nicht so intensiv mit der Digitalisierung auseinandergesetzt haben, dürfen jetzt nicht zu den Verlierern werden. Auch in meinem Weiterbildungsstudiengang ist digitales Musizieren sehr umstritten, auch unter den Studierenden – weil viele davon ausgehen, dass das „richtige“ Musizieren nicht im digitalen Raum stattfinden kann. Jetzt haben wir auf einmal die umgekehrte Situation. Und wenn wir ehrlich sind, sind wir darauf nicht ausreichend vorbereitet. Obwohl wir das gekonnt hätten, die Digitalisierung ist ja ungefähr so überraschend wie das jährliche Weihnachtsfest. Seit 20 Jahren wissen wir um die Digitalisierung, aber im Kulturbereich haben wir uns viel zu wenig ausführlich und professionell damit beschäftigt.

Sie haben den hohen Finanzbedarf angesprochen – was sollte die Politik aus Ihrer Sicht tun?

Grün: Man muss unterscheiden zwischen Ad hoc-Hilfen und strukturellen Veränderungen. Ad hoc sind für die freie Szene Stipendien, Grundsicherung und ähnliches gefragt, um über den Sommer zu kommen. Das gilt nicht nur für Künstler*innen, sondern auch für Projektmanager*innen und Pädagog*innen, aber auch Konzertveranstalter*innen und Agenturen. Sonst haben wir nach der Coronakrise niemanden mehr, der diese Arbeit macht und das Musikleben tragen kann. Momentan wandern schon viele in andere Berufe ab. Strukturell können wir heute schon sagen, unsere  Kulturfinanzierung, wie sie bislang stattfindet, auf hohem Risiko gebaut ist. All das, was mit Projektfinanzierung gestützt ist – und das ist in der Kulturellen Bildung fast alles – ist eben ein Add-On, auch finanziell. Das fällt jetzt weg. Das muss grundlegend mit neuen Finanzierungsformen und modifizierten Richtlinien geändert werden. Die Projektfinanzierung ist in der letzten Finanzkrise entstanden – jetzt haben wir wieder eine ähnliche, wenn nicht noch durchschlagendere Zäsur. Es geht darum, was Kultur uns geben kann, soulfood möchte ich das nennen. Wir merken gerade jetzt, dass Kultur lebensnotwendig und systemrelevant ist. Ein Beispiel: Im schulischen Kontext wird Kulturelle Bildung besonders wichtig werden. Wenn alle wieder in die Schule gehen, werden die Lehrkräfte mit extrem verschiedenen Erfahrungen der Schüler*innen zurechtkommen müssen. Kinder und Jugendliche werden ganz unterschiedlich erfolgreich alleine zu Hause gelernt haben.  Kulturelle Bildung kann mit voraussetzungslosen Methoden helfen, wieder eine Klassengemeinschaft zu stiften.

Es ist in diesen Zeiten schwierig, von einer Chance zu sprechen – aber kann die Coronakrise positive Effekte anstoßen?

In der Krise steckt immer auch die Möglichkeit, Dinge zu überdenken und zu verbessern. Die Situation jetzt zwingt uns dazu – oder positiv formuliert: gibt uns die Möglichkeit – ganz viel auszuprobieren. Künstler*innen möchten sich ja äußern – und müssen dafür neue Podien suchen. Wir erleben aktuell eine Form von Aktionismus. Viele fürchten zurecht um ihre Existenz. Hinzu kommt: Künstler*innen leben davon, dass Menschen sie und ihr Schaffen sehen oder hören wollen. Der Bekanntheitsgrad ist eine zentrale Währung. Dieses Problem spricht fast niemand an: Alle versuchen gerade auf irgendeine Weise sichtbar zu sein, damit sie nicht vergessen sind, wenn es irgendwann nach Corona wieder losgeht. Ich sehe diese Chance: Neue Formate, die sich als praktikabel erweisen, werden auch nach der Coronakrise bleiben.

Rat für Kulturelle Bildung

Das unabhängige Beratungsgremium untersucht die Lage und Qualität kultureller Bildung in Deutschland. Neben Handlungsbedarfen identifiziert unsere Partnergesellschaft auch neue Wege zur Verbesserung.

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