„Kunst ist ein Menschenrecht“
Kunst prägt und kann ganze Lebenswege formen. Till Brönner, weltbekannter Jazz-Trompeter und erfolgreicher Fotograf, lauschte schon in jungen Jahren ersten Konzerten – und beschloss, Jazzmusiker zu werden. Wie denkt er heute über die Kunst, ihre Bedeutung und Zugänglichkeit? Und wessen Aufgabe ist es eigentlich, sie Kindern und Jugendlichen nahezubringen?
Herr Brönner, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Museumsbesuch, an Ihre erste Begegnung mit der Kunst?
Till Brönner: Mein erster Museumsbesuch war etwas Lokales: das Museum Koenig in Bonn, wo ich in der Schule war. Dorthin gingen alle Kinder sehr gerne, es ist ein Museum für Tierkunde. Für Kinder ist das ein guter Einstieg in so hochherrschaftliche Häuser, wenn sie mit Themen konfrontiert werden, die sie direkt aus ihrem Leben kennen.
Hat Sie dieses Erlebnis neugierig gemacht, gelangweilt, irritiert oder etwas völlig anderes?
Brönner: Bei Museumsbesuchen oder auch Operetten hatte ich am Anfang immer eher das Gefühl, nicht so gern dorthin zu wollen. Aber selbst Erwachsene kennen das noch: Man geht ins Museum oder in die Oper und hat vielleicht auch noch nicht so ganz begriffen, was einen da erwartet. Aber wenn es fertig und vorbei ist, dann ist man stolz, da gewesen zu sein. Und sei es nur, weil man es ausgehalten hat (lacht). Dieses Gefühl habe ich aus der Kindheit mitgenommen. Ich war im Nachhinein immer ganz stolz, dass ich gewisse Dinge gemacht habe, dass ich zum Beispiel ein russisches Ballett angesehen habe. Und auch wenn der Abend als Kind manchmal sehr lang wurde, ist es doch etwas, woran ich mich mein Leben lang erinnert habe. Erwachsene können hierauf Einfluss nehmen, je nachdem, was sie den Kindern vorsetzen.
Till Brönner
Till Brönner, geboren in Viersen, ist Jazz-Trompeter und Fotograf. 2019 war seine Ausstellung „Melting Pott“ über das Ruhrgebiet im MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg zu sehen.
Das stolze Gefühl war also auch ein Treiber, um sich etwas Neues anzuschauen?
Brönner: Absolut. Ich erinnere mich, wie ich dann später auf eigene Faust losgezogen bin, auch schon direkt nach dem Abitur. Das war der Zeitpunkt, wo man souveräner erste Entscheidungen trifft, was man sich kulturell geben möchte. Und da hilft die Kindheit natürlich total. Es gibt ja auch die berühmten Déjà-vus, Situationen, in denen man plötzlich nicht weiß, warum man so schöne Assoziationen hat. Plötzlich macht es klick, und man weiß: Aha, da war ich mit den Eltern auch mal. Und das ergibt diesen schönen Moment.
Vielen Kindern und Jugendlichen bleibt der Zugang zu Kunst und Kultur verwehrt, weil Eltern diese Möglichkeit nicht schaffen können oder wollen. Wie war das bei Ihnen?
Brönner: Ich komme aus einem Lehrer-Elternhaus, und da ist Bildung ein wichtiges Thema gewesen. Wir waren trotzdem immer ganz froh, wenn man auch mal eine Pause davon hatte, weil es einfach so präsent im Alltag war. Meine Mutter blieb trotzdem immer dran, mir Dinge nahezubringen, die mich interessiert haben oder die mich interessieren könnten. Und da war auch mal ein Jazzkonzert dabei.
Ist damals schon der Funke übergesprungen?
Brönner: Ja, auf jeden Fall. Ich erinnere mich an ein Konzert mit Mr. Acker Bilk in Bad Honnef und auch an eines von Chris Barber, also eher traditioneller Jazz. Da habe ich so was zum ersten Mal im Konzert erlebt. Es war auch meine erste Konfrontation mit Blechblasinstrumenten und mit dem Gefühl, wie das eigentlich ist, wenn jemand direkt vor dir auf der Bühne steht. Das war prägend.
Wie hat sich das auf Ihren Lebensweg ausgewirkt?
Brönner: Das kann man an der Biografie ein bisschen ablesen, es hat sich erfolgreich niedergeschlagen. Mit 12 oder 13, also zu einem relativ frühen Zeitpunkt, habe ich mich entschlossen, dass ich hauptberuflich diese Art von Musik machen möchte. Ich habe es nicht bereut. Ich würde immer sagen, dass Kinder, die Kunst und Kultur ausgesetzt sind, mehr Chancen haben und dass das letztlich auch etwas sein sollte, was sich ein Staat leistet. Vielfach ist man noch der Meinung, dass die „weichen“ Unterrichtsstunden wie Musik und Kunst als Erstes ausfallen können. Das ist fatal.
Kunst entfaltet ihre Wirkung erst in der Auseinandersetzung mit ihr. Das ist schwierig genug, besonders wenn man daran nicht früh herangeführt wird und die Künste als selbstverständlichen Teil der eigenen Lebenswelt erlebt. Wie könnte Kunst von Beginn an besser in das Leben integriert werden?
Brönner: Man muss da realistisch sein und die Menschen, die einem Kunst nahebringen, mit anführen. Als Kind spürt und begreift man das einfach noch nicht sofort – später dafür umso mehr. Kunst ist letztlich dazu da, um Denkansätze zu fördern oder Dinge infrage zu stellen, Dinge für möglich zu halten. In Deutschland leben wir ja in einem Land, in dem bei allen Unternehmungen immer irgendeiner am Tisch sitzt, der genau weiß, warum etwas nicht klappen wird. Das ist der große Unterschied zu Amerika, das zwar gerade unter großen Problemen leidet, aber dort sitzt immer einer in der Runde, der sagt: „Diese Idee ist ja unglaublich, genauso machen wir’s. Und wenn wir scheitern, haben wir’s wenigstens versucht.“ Da kann man sich manchmal eine Scheibe von abschneiden. Der Kunst wohnt diese Aufgabe inne: den Menschen Dinge aufzuzeigen, die sie selber mit den derzeitigen und alltäglichen Normen vielleicht nicht in Verbindung bringen.
Schule, Kulturinstitutionen, Künstler*innen, Eltern: Wessen Aufgabe ist es eigentlich, Kinder an die Künste heranzuführen?
Brönner: Letztlich sind und bleiben es die Eltern. Aber auch die Schule sollte junge Menschen regelmäßig mit kulturellen Ansätzen versorgen. Wir haben einen Kulturauftrag, der sich insbesondere auf die Ausbildung und Förderung von Lehrer*innen ausdehnen sollte. Sie können am Ende des Tages die Gesamtheit dessen, was uns zu kultivierten Menschen werden lässt, auch den Kindern vermitteln. Eltern kann man nicht alle beeinflussen. Aber über die Schule kann man in einem Land, in dem glücklicherweise Schulpflicht herrscht und diese Angebote gemacht werden, einen großen Fokus darauf legen und sagen: „Wir wissen um die Herausforderung, Kinder auch aus bildungsferneren Schichten oder sozial schwächeren Ecken mit Kunst und ihrem Sinn zu versorgen. Aber wir werden den Versuch unternehmen.“ Dazu gehört eine entsprechende pädagogische und didaktische Ausbildung. Aber vor allen Dingen, als Allerwichtigstes sogar, auch eine spürbare persönliche Begeisterung für das Thema. Ich bin selber Hochschullehrer und habe festgestellt: Nichts fruchtet am Ende mehr und dringt mehr durch zu den Studierenden als meine persönliche Begeisterung für ein Thema, die sich natürlich auch in meinem Vortrag dazu niederschlägt.
Diese Begeisterung kann man natürlich nur entwickeln, wenn man in jungen Jahren auch alle Möglichkeiten hat …
Brönner: Ja, das ist eben ein Kreislauf. Und diesen Kreislauf, den gilt es frühzeitig in Gang zu setzen. Kein Mensch kann als Lehrer*in mit diesen Funktionen ausgebildet werden, wenn er oder sie nicht schon als Kind damit in Kontakt gekommen ist. Und deswegen: Wir müssen es schaffen, irgendwann anzufangen, Kindern wirklich flächendeckend die Bedeutung, die Heilwirkung und die therapeutische Seite von Kunst nahezubringen. Denn am Ende ist es nicht nur der Numerus clausus, sondern die Fantasie, die auch wirtschaftlich einen großen Unterschied machen kann. Man muss sich Dinge vorstellen können. Und das geht in Demokratien am besten, wenn es gefördert wird.
Im Projekt RuhrKunstNachbarn haben Museen des Ruhrgebiets Workshops für Schulklassen entwickelt, um ihnen den Weg ins Museum zu ebnen. Die Erfahrung zeigte: Barrieren wurden eingerissen, Neugier wurde erzeugt. Wieso sind die Hürden überhaupt so hoch? Und wieso braucht es spezielle Programme, um Kunst zugänglicher zu machen?
Brönner: Die Aufgabe von Museen ist nicht, Museen kindgerecht zu machen. Das kann man zusätzlich machen – viele öffentlich geförderte Kultureinrichtungen, Staatsorchester, Philharmonien und Opernhäuser entwickeln Kinderprogramme, die die Erfahrbarkeit von Kunst, Musik und den ästhetischen Dingen auch für jüngste Menschen zugänglich machen. Ich möchte nicht zu weit greifen, aber ich denke, dass es am Ende wieder die Lehrer*innen sind, die sagen: „Heute gehen wir ins Museum.“ Und dort treffen sie im Idealfall auf ein Museum, das sich selber schon ein paar Gedanken gemacht hat, was man Kindern erzählen kann. Wenn man das mit dem oder der zuständigen Kunstlehrer*in – oder dem oder der Mathematiklehrer*in, der oder die natürlich auch Kunstfan sein kann – vorbereitet, dann kann das eine der schönsten Unternehmungen sein während einer Schulzeit. Also zum Beispiel im Museum Küppersmühle vorbeizusehen und sich über Architektur, über das, was in Duisburg mal war, über zeitgenössische Künstler*innen und dergleichen mal was erzählen zu lassen, nach Hause zu gehen und zu denken: „Ah, guck mal hier. Das, was ich da neulich gemalt habe, das sah gar nicht mal so anders aus. Aber warum ist das jetzt Kunst und meins vielleicht noch nicht – oder ist es das?“ Um solche Ansätze geht es.
Kunst muss sich in diesem Zusammenhang manchmal den Vorwurf gefallen lassen, elitär zu sein. Ist sie es?
Brönner: Nein, Kunst ist menschlich, und Kunst ist humanitär. Jedenfalls die gute Kunst unter der Kunst ist so. Und Kunst, die gut ist, liebt Menschen! Staaten und Systeme, die Kunst unterbinden, wissen meistens genau, warum sie das tun. Weil sie Angst vor Kritik haben, weil sie Angst vor Wahrheit haben. In Kunst steckt manchmal die wichtigste Wahrheit, um unseren Zustand, den Zustand der Gesellschaft, den persönlichen Zustand, den politischen Zustand und Tendenzen offenzulegen. Deshalb ist Kunst überhaupt kein Luxus, sondern ein Menschenrecht. Und die Menschenrechte gilt es bekanntlich zu fördern und zu wahren.
Für Ihre Fotoarbeit „Melting Pott“ sind Sie ein Jahr lang im Ruhrgebiet unterwegs gewesen, um die Region zu porträtieren. Wie ist man Ihnen als Kunstschaffendem begegnet?
Brönner: Ich bin dort immer wieder auf Menschen gestoßen, die am Anfang erst mal kritisch wissen wollten „Was willst du denn da von mir?“, sobald ich meine Kamera gezückt habe. Wenn ich ihnen aber glaubhaft erklären und darlegen konnte, warum sie mich interessieren, dann habe ich mitunter die schönsten und ehrlichsten Gespräche seit Langem geführt. Der „Ruhri“ checkt dich erst mal ab, ob du ein Schaumschläger bist. Wenn er aber deine Ernsthaftigkeit spürt, tritt er dir mit offenem Visier entgegen. Er merkt, dass du ihn ernst nimmst. Und wer ernst genommen wird, der nimmt auch andere ernst. Das fand ich großartig.
Ihre Bilder, die 2019 im Museum Küppersmühle ausgestellt waren, zeigen neben bekannten Persönlichkeiten auch Menschen von nebenan. Hat sich bei diesen ein anderer Bezug zu Kunst aufgetan, weil sie einbezogen waren und es um ihre Region ging?
Brönner: Am Anfang konnten die Menschen sich das noch nicht so vorstellen. Also, dass wir sagen „Wir machen eine Ausstellung in der Küppersmühle, und da sind Sie vielleicht drin“, das war für viele sehr abstrakt. Aber man hat an der Reaktion und auch am hohen Zulauf der Ausstellung gemerkt, dass wir richtiglagen und dass das Interesse der Menschen im Ruhrgebiet für die Sicht aufs Ruhrgebiet vorhanden ist. Es war eine Neugierde, die ich zum Beispiel in meiner Wahlheimat Berlin nicht so vermuten würde. Das fand ich sehr spannend. Man wollte wissen, wie das Ruhrgebiet gesehen wird, wenn jemand von außen kommt. Man wollte kritisch schauen: Ist es das wirklich? Man hätte noch zwei Jahre weiterfotografieren können, das steht fest. Das Ruhrgebiet als dichtester Ballungsraum Europas mit all den verschiedenen Kulturen ist ein bemerkenswert funktionierendes Beispiel für die Herausforderung der Integration – die wir ja immer wieder auf ganz schön jungfräulichem Level zu diskutieren scheinen, während das gesamte Gebiet überhaupt nur deswegen existiert, weil man das dort gepflegt hat.
Was haben Sie durch Ihren genauen Blick auf das Ruhrgebiet über die Region gelernt?
Brönner: Das Ruhrgebiet auf Fußball zu beschränken ist der größte Fehler, den man machen kann. Und auf Bergbau auch. Es sind die Klischees, die uns daran hindern, wirklich hinzusehen und rauszubekommen, um welchen Menschenschlag es sich dort handelt. Wir haben es beim Ruhrgebiet mit einer Region zu tun, die ja tatsächlich ziemlich stark gebeutelt wurde und auf der auch der Druck lastet, wie es denn jetzt weitergeht. Seit Jahren und Jahrzehnten geht es immer nur um Strukturwandel. Ich glaube, die Menschen vor Ort können das Wort eigentlich gar nicht mehr hören, denn jede und jeder fragt nur danach und sieht dabei gar nicht das Potenzial. Ich habe mal irgendwann die These aufgestellt, dass das Problem an Erwartungen oft ist, dass wir sie zu Lebzeiten haben und im Vollzug erleben wollen. Wir wollen sehen, dass sich die Dinge ändern, solange wir leben. Sonst halten wir sie nicht für möglich. In solchen Regionen, die über Jahrhunderte so geworden sind und nicht nur über 20, 30 Jahre, muss man leider mehr Geduld an den Tag legen. Möglicherweise dauert der große Strukturwandel immer länger, als wir ihn erleben können. Und das finden wir betrüblich. Aber hier müssen wir über etwas nachdenken, was größer ist als wir Menschen.
Das Ruhrgebiet ist eine Region, die sich stark wandelt – der weggebrochene Kohlebergbau, Zuwanderung aus aller Welt, die Neuentwicklung von Stadt und Landschaft. Wieso ist gerade hier und gerade jetzt Kunst so wichtig?
Brönner: Kunst kann in Zeiten des Wandels helfen, weil Kunst den Finger in die Wunde legt. Weil Kunst eine Plattform ist, um zu diskutieren. Wenn Menschen vor einem Bild stehen und über die Bedeutung des Bildes oder das, was darauf zu sehen ist, diskutieren, dann sind sie genau da, wo die Kunst sie haben will. Ich sagte ja eingangs schon, Kunst bedeutet, Dinge für möglich zu halten, die man aufgrund von Normen oder gesellschaftlichen Gleichmachereien vielleicht nicht für möglich hält. Kunst zeigt einem auf, dass die Gedanken frei sind, und trägt deswegen einen großen Teil zu demokratischem Denken bei. Das sind alles positive und geradezu essenzielle Werte. Auf sie zu verzichten wäre undenkbar. Wir tun gut daran, gerade jetzt in Corona-Zeiten, Kunst nicht als Luxus zu empfinden, sondern als das, was uns am Leben hält – und zwar genau weil es schwere Zeiten sind. Man sieht das ja auch. Die Menschen leiden darunter, dass sie diese Leichtigkeit nicht mehr haben, dass sie sich beschränken müssen, beim Restaurantbesuch, beim Konzert … Kunst ist etwas, das ein Land am Leben erhält und Stabilität gewährleistet, nachweislich auch wirtschaftliche Stabilität. Sonst wäre es nicht zu erklären, dass 100 Milliarden Euro über Kunst und Kultur umgesetzt werden. Letztlich sind Wirtschaft und Kultur schon seit der Antike immer sehr eng miteinander verwoben gewesen. Kunst war nämlich nicht einfach nur Luxus, sondern hat am Ende auch Gelder generiert.
Wer wären Sie ohne die Künste?
Brönner: Ganz sicher ein anderer Mensch, wahrscheinlich ein schlechterer Mensch. Ich empfinde der Musik gegenüber so viel Respekt und Dankbarkeit, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, ob ich überhaupt vergleichbar oder brauchbar wäre ohne sie. Aber ich bin sicherlich auch etwas befangen (lacht).
RuhrKunstNachbarn
Im von der Stiftung Mercator geförderten Vermittlungs- und Kooperationsprojekt der RuhrKunstMuseen „RuhrKunstNachbarn“ schlossen sich 18 Museen des Ruhrgebiets zusammen, um Schulklassen mittels Workshops die Möglichkeit zu bieten, sich mit den Kunstmuseen und ihren Sammlungen auseinanderzusetzen und den Stadtraum, in dem sich diese Museen befinden, neu zu entdecken.
www.ruhrkunstmuseen.com/de/projekte/ruhrkunstnachbarn/