Was braucht das Grundgesetz von morgen? Vier Expertinnen geben Antworten

Das deutsche Grundgesetz wird 75 Jahre alt – in einer Zeit, in der die Demokratie mehr denn je auf die Probe gestellt wird. Denn viele Menschen halten die Verfassung nicht mehr für zeitgemäß. Entweder weil sie Modernisierungen fordern oder das demokratische Modell als solches ablehnen. Wir haben mit vier Expertinnen, die mit der Stiftung Mercator zusammenarbeiten, über ihre Wertschätzung für das Grundgesetz gesprochen. Und darüber, was sich künftig ändern sollte.
Digitale Rechte stärken: Svea Windwehr

Was verbinden Sie mit dem Grundgesetz?
Wie viele Menschen in Deutschland verbinde ich das Grundgesetz stark mit dem ersten Satz von Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Gerade in diesem Jahr, in dem wir befürchten müssen, dass rechtsextreme Akteur*innen gestärkt aus den Wahlen in Deutschland und Europa hervorgehen werden, sind wir alle gefragt, demokratische Werte und Institutionen zu schützen und zu verteidigen.
Welcher Artikel ist für Sie besonders wichtig und warum?
Für mich ist das Recht auf Selbstbestimmung, verankert in Artikel 2 Absatz 1, besonders wichtig. Daraus lässt sich unter anderem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ableiten, also das Recht, selbst über die Preisgabe und die Verwendung meiner Daten bestimmen zu können. Das ist eines unserer wichtigsten Werkzeuge, um persönliche Autonomie und Selbstbestimmung auch in der digitalen Welt zu gewährleisten und zu verteidigen.
In welchen Situationen kommen Sie damit in Kontakt?
Wir leben heute in einer Welt, in der Eingriffe in die Privatsphäre oder die Presse- und Meinungsfreiheit nicht nur durch staatliche Akteur*innen drohen, sondern auch durch private Unternehmen. Mächtige Onlineplattformen wie Google, Meta oder TikTok gestalten die digitalen Räume, in denen wir uns bewegen, und haben damit einen massiven Einfluss darauf, ob unsere Grundrechte im Internet gewahrt oder eingeschränkt werden. Die Frage, wie wir unsere Grundrechte auch online schützen, beschäftigt mich in meiner Arbeit also jeden Tag.

Svea Windwehr leitet das Center for User Rights bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte und setzt sich für die Stärkung und die Durchsetzung von Nutzer*innenrechten ein. Zuvor war sie Teil des Public-Policy-Teams von Google Deutschland und hat dort Themen rund um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), den Digital Services Act, den Kinder- und Jugendschutz und die Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI) betreut. Außerdem war sie als Fellow des Mercator Kollegs bei der Electronic Frontier Foundation sowie beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales tätig, wo sie im Bereich Plattform- und KI-Regulierung arbeitete.
Gibt es Artikel des Grundgesetzes, die Sie für überholungsbedürftig halten?
Ein Artikel des Grundgesetzes, bei dem ein Update längst überfällig ist, ist Absatz 3 von Artikel 3. Er verbietet die Benachteiligung von Menschen aufgrund bestimmter geschützter Merkmale wie Geschlecht, Abstammung oder Glauben. Diese Liste sollte dringend um ein Diskriminierungsverbot aufgrund von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität erweitert werden.
Recht zugänglich für alle machen: Rojda Tosun
Was verbinden Sie mit dem Grundgesetz?
Mit dem Grundgesetz verbinde ich das Versprechen von Recht und Gerechtigkeit sowie Urvertrauen und einen gesunden Nährboden für die Entwicklung unserer Republik.
Welcher Artikel ist für Sie besonders wichtig und warum?
Artikel 1, Absatz 3: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Demnach ist das Grundgesetz Grund und Boden für jedes staatliche Handeln. Als Innovationsspezialistin weiß ich, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch stets angeregt ist, sich zu verbessern und Systeme effizienter zu gestalten, sodass jedes Versprechen des Grundgesetzes wahr werden kann.
Welche Bedeutung hat das Grundgesetz für Ihren beruflichen Kontext?
Das Grundgesetz ist mein Auftraggeber. Als Gründerin von PublicLegalDesign ziehe ich daraus meinen Auftrag, das Recht verständlich und zugänglich für jede Person zu gestalten.
Wenn Sie könnten, was würden Sie am Grundgesetz ändern, streichen, modernisieren?
Ich würde gerne einen Artikel beziehungsweise einen Absatz ergänzen, der besagt, dass jede staatliche Institution Recht verständlich und zugänglich zu gestalten hat.

Rojda Tosun ist Juristin, Visionärin im Bereich des Rechtsdesigns und leidenschaftliche Verfechterin für gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit. Inspiriert von der Vision staatlicher Institutionen, die den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden, gründete sie PublicLegalDesign. Die Plattform zielt darauf ab, rechtliche Innovationen und Transformationen voranzutreiben. 2022/23 absolvierte sie das Mercator Kolleg mit der Leitfrage, wie staatliche Institutionen Menschen mehr Zugang zu ihren Rechten verschaffen können. Seitdem berät sie nationale und internationale staatliche Institutionen.
Gerechtigkeit für die Umwelt: Roda Verheyen

Was verbinden Sie mit dem Grundgesetz?
Unser Grundgesetz entstand aus den Lehren aus einer der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichte und stellt die Würde des Menschen in Artikel 1 deshalb ganz bewusst als absolut geschützten Wert an die vorderste Stelle. Gerade in Zeiten einer sich zuspitzenden Klimakrise und des Erstarkens rechtsextremer und autoritärer Strömungen ist es wichtiger denn je, dass wir alle für diese Werte einstehen und sie verteidigen.
Welcher Artikel ist für Sie besonders wichtig und warum?
Natürlich hat für mich als passionierte Umweltjuristin Artikel 20a einen ganz besonderen Stellenwert, denn diese Norm verpflichtet den Staat zu effektivem Klima- und Umweltschutz. Diese Norm hat das Bundesverfassungsgericht leider erst 2021 im Klimabeschluss wirklich genutzt, und ich hoffe, das wiederholt sich.
Welche Bedeutung hat das Grundgesetz für Ihren beruflichen Kontext?
Nach Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz muss es jeder Person möglich sein, eine Verletzung ihrer Grundrechte vor einem Gericht geltend zu machen. Diese etwas unscheinbare Regelung schafft erst die Voraussetzungen, dass wir uns als Bürger*innen gegen staatliches Handeln gerichtlich zur Wehr setzen können. Dieser gerichtliche Zugang ist bei Fragen des Umweltschutzes besonders relevant: Die Natur kann in unserem Rechtssystem nicht selbst klagen und ist deshalb darauf angewiesen, dass wir ihre Interessen und Rechte einfordern.

Roda Verheyen ist Rechtsanwältin und Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichtes. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich insbesondere mit Umwelt- und Klimathemen. 2002 gründete sie das internationale Netzwerk „Climate Justice Programme“. Außerdem ist sie Gründungsmitglied und Vorstand des Vereins Green Legal Impact Germany. Ziel der Organisation ist es, der Umwelt zu ihrem Recht zu verhelfen. Green Legal Impact ist Projektpartner der Stiftung Mercator.
Wenn Sie könnten, was würden Sie am Grundgesetz ändern, streichen, modernisieren?
Es wäre hilfreich, wenn ins Grundgesetz eine Verpflichtung aufgenommen würde, dass bei staatlichen Maßnahmen und Entscheidungen immer die ökologische Verhältnismäßigkeit abgewogen werden muss. Aus meiner Sicht muss schon heute so gehandelt werden, aber eine Klarstellung etwa in Artikel 20a Grundgesetz wäre hilfreich.
Demokratie bedeutet Diversität: Sandra Kim

Was verbinden Sie mit dem Grundgesetz?
Als Juristin, die in Bonn studiert hat, verbinde ich damit die Bewunderung für eine Verfassung, die mit großer Ernsthaftigkeit aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Als Kind von sogenannten Gastarbeiter*innen aus Südkorea, die Krieg und japanische Besatzung erlebt haben, außerdem Dankbarkeit für Frieden, Sicherheit und freie Entfaltung.
Welcher Artikel ist für Sie besonders wichtig und warum?
Artikel 1, 2 und 3 Grundgesetz – Menschenwürde steht für mich in direkter Verbindung mit Teilhabe und damit auch mit Nichtdiskriminierung. Dass wir uns darum bemühen, diesem normativen Anspruch in unserer alltäglichen Arbeit gerecht zu werden, macht uns zu einer guten Justiz.
In welchen Situationen kommen Sie damit in Kontakt?
Wir haben es uns in unserem Projekt zur Rechtsstaatsbildung zum Ziel gesetzt, unseren Rechtsstaat und vor allem die Rolle der Justiz nahbar und erfahrbar zu machen. In einer Umfrage in einer belebten Fußgängerzone wussten nur sehr wenige eine Antwort auf die Frage, was ihnen unser Rechtsstaat bedeutet oder welche Rolle hier die Justiz spielt. Gleichgültigkeit, Unwissenheit, aber auch Ablehnung aufgrund schlechter Erfahrung haben gezeigt, dass wir in den aktiven Dialog gehen und nicht nur erklären, sondern zuhören müssen.

Sandra Kim ist Leiterin des Referats für Diversitätsförderung, Antidiskriminierung und Rechtsstaatsbildung sowie Rechtskunde in der Aus- und Fortbildungsabteilung im Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie hat außerdem die Fachaufsicht über das Zentrum für Interkulturelle Kompetenz der Justiz Nordrhein-Westfalen (ZIK) inne, das sich unter anderem mit Diversitätsförderung in der Justiz NRW und Rechtsstaatsbildung auseinandersetzt.
Gibt es Artikel oder Begriffe, die Sie für überholungsbedürftig halten?
Auf den Begriff der „Rasse“ würde ich persönlich aus den bekannten Gründen gern verzichten, obwohl ich die Einwände gegen eine Streichung nachvollziehen kann. Es gibt keine Rassen, nur Rassismus. Der ist keine subjektive Befindlichkeit, sondern hartnäckige Realität in unseren Köpfen und Strukturen.