„Das Bleiberecht ebenso sichern wie ein würde­volles Leben“

Mehr Teilhabe: Welche Herausforderungen junge geduldete Menschen in Ausbildung und Arbeit erleben und wie Kommunen die Situation verbessern könnten, erforschten Wissenschaftler*innen im Projekt „Teilhabe trotz Duldung?“.
„Das Bleiberecht ebenso sichern wie ein würde­volles Leben“
Autorin: Esther Sambale 02.04.2024

Prekäre Arbeitsbedingungen, bürokratische Hürden, kaum Raum für berufliche Selbst­verwirklichung: Drei Jahre lang forschten die Professorinnen Karin Scherschel und Susanne Spindler im Forschungs­verbund zur Teilhabe junger geduldeter Menschen in Ausbildung und Arbeit. Im Interview erklären sie, wie Kommunen bessere Zugänge schaffen können und warum der aktuelle Migrations­diskurs dringend versachlicht werden muss.

Frau Spindler, Frau Scherschel, Sie untersuchen gemeinsam mit Wissenschaftler*innen der Hochschule Fulda die Teilhabe geduldeter Menschen in Ausbildung und Arbeit in Kommunen in Bayern, Hessen und NRW. Warum ist Ihr Forschungs­projekt „Teilhabe trotz Duldung?“ gerade jetzt so wichtig?

Karin Scherschel: Wenn derzeit über Personen in Duldung gesprochen wird, zeigt sich ein verzerrtes Bild: von Menschen, die angeblich das Gesundheits­system ausnutzten oder irregulär in Deutschland seien. Wir wollen dazu beitragen, diese Debatte zu versachlichen.

Susanne Spindler: Als wir 2021 mit dem Projekt starteten, gab es einen Koalitions­vertrag mit geplanten positiven Bestimmungen für geduldete Menschen. Aktuell herrscht ein restriktiver und oftmals faktenfreier Migrations­diskurs. Für uns gehört das Thema auch auf die wissenschaftliche Agenda. Zur Situation von Personen in Duldung gibt es bisher kaum Forschung.

Laut aktuellen Zahlen der Bundes­regierung gab es 2023 rund 225.000 geduldete Menschen in Deutschland. Warum wird ihre Situation gesellschafts­politisch kaum diskutiert?

Spindler: Je komplexer ein Sachverhalt, desto schwieriger ist es, ihn in der Öffentlichkeit zu vermitteln. Die Gruppe der Personen in Duldung ist sehr heterogen, ebenso ihre Lebensumstände. Hinzu kommen komplexe büro­kratische Bedingungen, von denen sie abhängig sind.

Scherschel: Zudem schrumpft Migration im öffentlichen Diskurs auf etwas zusammen, das bedrohlich und überfordernd ist. Wie selbst­verständlich reproduzieren Medien eine scharfe populistische Sprache, die zu einem verkürzten Verständnis von Duldung und Migration führt.

© privat

Prof. Dr. Karin Scherschel lehrt und forscht seit 2020 als Professorin für Flucht- und Migrations­forschung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und ist Leiterin des Zentrums Flucht und Migration (ZFM). Nach ihrem Soziologie-Studium an den Universitäten in Saarbrücken und Bielefeld promovierte sie 2003 an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld zum „Thema Rassismus als flexible symbolische Ressource – Eine Studie über rassistische Argumentations­figuren“. Sie ist zudem u. a. Mitglied im Rat für Migration, im Netzwerk Flucht­forschung und im Netzwerk kritische Migrations- und Grenz­regime­forschung sowie Vertrauens­dozentin der Hans-Böckler-Stiftung.

Ende 2022 trat das Chancen-Aufenthalts­recht in Kraft. Geduldete Personen können durch eine 18-monatige Aufenthalts­erlaubnis die Möglichkeit bekommen, die notwendigen Voraus­setzungen für ein Bleibe­recht zu erfüllen. Was hat sich dadurch verändert?

Spindler: Die Möglichkeit, für einen längeren Zeitraum einen gesicherten Aufenthalt zu haben, wurde positiv aufgenommen und hat vielen Hoffnung gemacht. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass wir es mit einem komplexen Bedingungs­gefüge und sehr hohen Anforderungen zu tun haben.

Inwiefern?

Scherschel: Für Menschen, die durch ein Arbeitsverbot lange in einer desintegrierten Situation waren, sind 18 Monate ein sehr kurzer Zeitraum, um etwa den Lebens­unterhalt zu sichern und Deutsch zu lernen. Es kann sein, dass viele es nicht schaffen und in die Duldung zurückfallen.

Zuletzt fanden deutschlandweit Groß­demos für Vielfalt und Demokratie und gegen die AfD statt. Das sind Forderungen, die eine plurale Einwanderungs­gesellschaft voraussetzen. Gleichzeitig trug die Regierung die Reform des EU-Asylsystems GEAS mit, führte Bezahlkarten für Geflüchtete ein, der Kanzler sprach von „Abschiebungen im großen Stil“. Wie wirkt sich das auf die Situation junger Menschen in Duldung aus?

Spindler: Sie sind sehr verunsichert, und ihre Angst vor Abschiebung hat sich deutlich verstärkt. Genau wie das Gefühl, in Deutschland absolut unerwünscht zu sein.

Scherschel: Umso wertvoller ist nun zivil­gesellschaftliches Engagement gegen die AfD, für migrantische und geduldete Personen. Eine starke politische Zivilgesellschaft kann vor allem auf kommunaler Ebene viel bewegen.

Susanne Spindler
© Sugata Tyler

Prof. Dr. Susanne Spindler ist seit 2017 Professorin für Soziale Arbeit und Migration am Fach­bereich Sozial- und Kultur­wissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Nach ihrem Studium der Erziehungs­wissenschaften mit Schwerpunkt Sozial­pädagogik promovierte sie zum Thema „Rassismus, Männlichkeit und Kriminalisierung im Leben jugendlicher Migranten“ an der Universität zu Köln. Seit 2019 ist sie Co-Sprecherin der Fach­gruppe Flucht, Migration, Rassismus- und Anti­­semitismus­­kritik der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit e. V. Sie ist Mitglied des Rats für Migration und Vertrauens­­dozentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In Interviews haben junge Geduldete ihre Erfahrungen in den Kommunen mit Ihnen geteilt. Was hat Sie besonders bewegt?

Spindler: Die große Resilienz vieler geduldeter Personen, die immer wieder neuen Anlauf nehmen, um ihren Weg zu gehen. Die Aufenthaltsverfestigung ist kein System, bei dem man einfach Stufe um Stufe nimmt, um weiter­zu­kommen. Es erinnert mich eher an die Gemälde von M. C. Escher. Die Treppen führen irgend­wo­hin – und dann geht es nicht weiter.

Scherschel: Mich bewegt es, immer wieder zu sehen, dass diese Menschen nicht die gleichen Chancen im Leben haben wie ich selbst. Sie haben Träume, sind engagiert, finden mit Glück ein Unternehmen, das sie einstellen will. Und dann gibt es Behörden, die das aus Ermessens­gründen ablehnen. Das ist tragisch.


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„Was ich mir für die Zukunft wünsche? Dass das Thema Duldung im Leben nachfolgender Generationen keine so große Rolle mehr spielt. Es ist schwer auszuhalten, dass sogar meiner zweijährigen Tochter, die in Deutschland zur Welt kam, ein Duldungsstatus droht.“

„Ich bin 29 Jahre alt und habe noch nie Urlaub gemacht. Ich würde gerne einfach mit meiner Tochter ins Auto steigen und nach Holland fahren können. Durch die Duldung ist das nicht erlaubt.“

„Ich möchte eines Tages mit meiner Tochter nach Afrika fliegen. Dort wurde meine Frau beerdigt, an ihrem Begräbnis konnte ich nicht teilnehmen. Mein Wunsch ist es, endlich ihr Grab zu besuchen. Darauf werde ich leider noch warten müssen.“

„Ich bin 32 Jahre alt und möchte endlich damit loslegen, zu arbeiten. Mein Wunsch ist es, selbstständig zu sein und nicht abhängig – weder vom Jobcenter noch vom Sozialamt noch von einem Mann.“

„Meinen Mann habe ich hier in Deutschland kennengelernt und islamisch geheiratet. Nach sieben Jahren bewilligte mir die Ausländerbehörde endlich, dass wir zusammenziehen können – unter der Voraussetzung, dass ich meinen Duldungsstatus verlängere. Ich wollte zu meinem Mann, also habe ich unterschrieben.“

„Auch wenn man im Heimatland etwa IT oder Mathematik studiert hat, muss man in Deutschland trotzdem Aus- oder Weiterbildungen machen. Auch die Anerkennung von Zeugnissen ist zeitaufwendig und schwierig.“

„Ich habe einen Duldungsstatus, ich bin Mutter und ich trage ein Kopftuch. Ich habe sehr viele Bewerbungen geschrieben. Kein einziges Mal wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, oft habe ich nicht einmal eine Absage bekommen.“

„Ich kenne jemanden, der sich bei Lebensmitteldiscountern beworben hat. Er hat sie alle angeschrieben und wurde nirgendwo angestellt. Ein Grund dafür ist sicher der Duldungsstatus, aber auch der Nachname.“

„Während meiner Ausbildung gab es einen Kollegen, der mich immer wieder rassistisch beleidigte. Ich habe versucht, den Betrieb zu wechseln, was leider nicht funktioniert hat. Wenn ich die Ausbildung abgebrochen hätte, wäre ich abgeschoben worden. Aus Angst davor habe ich mich entschieden, die Anfeindungen auszuhalten und weiterzumachen. Letztendlich konnte ich die Ausbildung verkürzen und habe meinen Abschluss geschafft.“


Vor welchen Herausforderungen stehen junge Geduldete?

Scherschel: Unter anderem fehlt die berufliche Anerkennung. In vielen Ländern gibt es kein berufs­bildendes System. Ohne zertifizierten Abschluss werden Ausbildungen hier jedoch nicht anerkannt.

Spindler: Wir hörten in Interviews davon, dass Personen etwa als Fahrrad­kurier für Lebens­mittel tätig waren und nur mit Essen entlohnt wurden. Die potenzielle Ausbeut­barkeit dieser Gruppe ist sehr groß, da ihr Aufenthalts­titel an die Arbeit geknüpft ist.

Wie können Kommunen die Situation junger Geduldeter konkret verbessern?

Scherschel: Dazu haben wir umfang­reiche Handlungs­empfehlungen entwickelt. Ein Aspekt ist, bereits bestehende Strukturen und Integrations­angebote auch für Menschen in Duldung zu öffnen. Sie sollten in kommunal­politischen Leit­bildern verankert und mit der lokalen Wirtschaft zusammen­gebracht werden.

Spindler: Um nachhaltige Wege in Arbeit und Ausbildung zu schaffen, muss ein Umdenken statt­finden. Bisher werden geduldete Personen als Gruppe betrachtet, die Bedingungen und Auflagen zu erfüllen hat. Sie als Akteur*innen ihres eigenen Lebens an­zu­erkennen, die selbst­wirksam agieren, könnte vieles verändern.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft junger geduldeter Menschen in Deutschland?

Scherschel: Dass sie ihr Recht auf Jugend wahrnehmen, ihren beruflichen Weg frei wählen und ihre Träume verfolgen können. Seit Jahren werden sie in schädlichen Lebens­situationen gehalten. Wenn die Duldung als migrations­politisches Instrument weiter besteht, muss sie radikal entbüro­kratisiert werden.

Spindler: Stattdessen sollte es eine Regelung geben, die das Bleibe­recht ebenso sichert wie ein würdevolles Leben. Ein Leben ohne Beschäftigungs­verbote, mit Bewegungs­freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe. Sie sollen ihre Potenziale so nutzen können wie jede*r andere auch.


Teilhabe trotz Duldung? Kommunale Gestaltungs­räume für geduldete Jugendliche und junge Erwachsene

Das von der Stiftung Mercator geförderte Forschungs­projekt „Teilhabe trotz Duldung? Kommunale Gestaltungs­räume für geduldete Jugendliche und junge Erwachsene“ befasst sich mit den Wegen in Aufenthalts­sicherung, Arbeit und Ausbildung. Dabei wurden sowohl Expert*innen aus Sozialer Arbeit, Verwaltung und Zivil­gesellschaft interviewt als auch junge Menschen im Duldungs­status in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Das Verbund­team – bestehend aus Susanne Spindler (Hochschule Düsseldorf), Karin Scherschel (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), Ilker Ataç (Hochschule Fulda) sowie wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen – erarbeitete zehn Handlungs­empfehlungen, die nun ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.

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