Ankommen auf Schwedisch

Integrationshilfe Schweden
Ankommen auf Schwedisch
Autorin: Julia Wäschenbach Fotos: Michael Campanella 05.07.2022

Sie ist Vermittlerin, Vertraute und Weg­begleiterin für Geflüchtete in Schweden: Sozial­arbeiterin Caroline Simonsson hilft als Fall­managerin bei der Integration. Vor welchen Heraus­forderungen steht sie, und was können wir in Deutschland von ihr lernen?

„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du gerade mit deinem neuen Sprach­kurs angefangen. Wie läuft es denn?“ Caroline Simonsson lächelt der jungen Frau aufmunternd zu, die ihr gegen­über­sitzt. Ihre Gesprächs­partnerin: Nada Ibrahim* aus Syrien. Die 26-Jährige lebt erst seit Oktober in Schweden. An diesem Vormittag trägt sie Kopftuch, eine rosa­farbene Jacke und Sneakers. „Wir üben im Kurs gerade, ein Vorstellungs­gespräch zu führen“, erzählt Ibrahim auf Schwedisch. „Aha!“, sagt Simonsson. Sie zwinkert ihr zu und antwortet, eben­falls auf Schwedisch: „Anscheinend lernst du viel dazu.“ Ibrahim dagegen ist mit ihren Sprach­kenntnissen nicht zufrieden. Ungeduldig wippt sie mit dem Bein. Im Libanon hat sie Pharmazie studiert und möchte möglichst bald in einer Apotheke arbeiten.

Simonsson will ihr helfen, dorthin zu kommen. Die 51-Jährige arbeitet als Sozial­arbeiterin für die südschwedische Küsten­stadt Kalmar. Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen kümmert sie sich darum, dass anerkannte Geflüchtete auch wirklich ankommen. Sie hilft ihnen dabei, Briefe von den Behörden zu beantworten, Anträge recht­zeitig zu stellen und Schwedisch zu lernen, damit sie fit für den Arbeits­markt werden. Und sie will, dass sie sich verstanden fühlen und Vertrauen fassen. Letzteres sei oft nicht leicht, berichtet Simonsson. Das gelte insbesondere für Menschen aus Ländern mit viel Behörden­willkür, erzählt sie. Ibrahim und ihrer Familie haben Simonsson und ihre Kolleg*innen etwa geholfen, eine Wohnung zu finden, finanzielle Unter­stützung zu beantragen, eine schwedische Personen­nummer zu bekommen und ein Konto zu eröffnen.

Die 51-jährige Caroline Simonsson unterstützt Geflüchtete dabei, sich ein neues Leben in Südschweden aufzubauen.
Wegbegleiterin und gute Seele: Die 51-jährige Caroline Simonsson unter­stützt Geflüchtete dabei, sich ein neues Leben in Süd­schweden auf­zu­bauen. © Michael Campanella
Helfende Hände
Helfende Hände: Simonsson kümmert sich um jede Menge Papier­kram – nimmt sich aber auch immer Zeit für persönliche Gespräche. © Michael Campanella

Und obwohl das eigentlich nicht zu ihrer Job­beschreibung gehört: Für viele der Geflüchteten ist Simonsson außerdem eine seelische Stütze. „Manche kommen hier schwer traumatisiert an“, sagt die Sozial­arbeiterin. Auf einem kleinen Tisch am Fenster liegt, wie zum Beweis, eine Packung Taschen­tücher. „Manchmal sitzen wir hier zwei Stunden lang“, berichtet Ibrahim. „Ich erzähle Caroline alles.“ Öffentlich möchte sie über diese Dinge nicht sprechen. „Ich versuche, den Geflüchteten zuzuhören, offene Fragen zu stellen, damit sie von sich aus reden“, erklärt Simonsson. Auch wenn ihre bunte Wanduhr tickt: Für die Gespräche nimmt sie sich so viel Zeit wie nötig.

Individuelle Beratung für bessere Integration

Rund einhundert Personen betreut Simonsson als Fall­managerin in den ersten beiden Jahren nach deren Ankunft. Im ersten Monat trifft sie sich zwei- bis dreimal pro Woche mit ihnen, danach erst mal ein- bis zweimal pro Monat und später mit den meisten nach Bedarf. Für die 51-Jährige sind es nicht nur Namen in den Mappen, die fein säuberlich in ihrer Schreib­tisch­schublade aufgereiht sind. Sie kennt ihre Geschichten und kann dadurch als Brücken­bauerin zwischen Geflüchteten und den Ämtern und Institutionen fungieren, mit denen die Geflüchteten Kontakt haben.

Genau darin liege die Stärke des Fall­managements, sagt Verwaltungs­wissenschaftler Professor Jörg Bogumil von der Ruhr-Universität Bochum: „Es gibt eine zentrale Person, die die Verantwortung für den gesamten Integrations­prozess über­nimmt.“ Daran mangele es in deutschen Kommunen, in denen es keine Fall­manager*innen gibt, weil die Zuständigkeiten für die Integrations­arbeit bei verschiedenen Fach­behörden und Organisationen liegen. „Das Fall­management bringt alles zusammen. Dort wird geschaut: Welche Stärken bringen die Personen mit, welchen Bedarf haben sie, und wo muss man ansetzen?“

Caroline Simonsson
Für rund einhundert Personen ist Simonsson als Fallmanagerin – und Brückenbauerin zu Ämtern – im Einsatz. © Michael Campanella
mobiler Lautsprecher und Mikrofon
Wenn sie im Gespräch mit Geflüchteten auf Schwedisch und Englisch nicht weiter­kommt, holt sie eine Über­setzerin dazu. © Michael Campanella
Alles im Blick: Bei Caroline Simonsson laufen viele Stränge zusammen. Sie begleitet den gesamten Integrations­prozess. © Michael Campanella

Ein*e Fallmanager*in kenne die persönliche Lebens­lage einer Person und könne zwischen dieser und den behördlichen Vorgaben koordinieren, ergänzt Professorin Sabine Kuhlmann von der Universität Potsdam. Gemeinsam mit Bogumil leitet sie ein Forschungs­projekt, in dem die beiden mit ihren Teams Akteurinnen und Akteure, Strukturen und Prozesse im lokalen Integrations­management unter­suchen. Dazu haben sie unter anderem Interviews in 14 Kommunen aus fünf Bundes­ländern in Deutschland sowie jeweils zwei Kommunen in Frankreich und Schweden geführt. Aus ihren Eindrücken wollen sie bewährte Praktiken heraus­arbeiten, um das gegen­seitige Lernen und den Austausch zwischen den Ländern zu fördern und die kommunale Integrations­arbeit auch in Deutschland weiter zu verbessern. Kalmar wurde ihnen in ihren Gesprächen als Beispiel für eine Kommune genannt, die Geflüchtete durch Fall­management besonders eng und vergleichs­weise lang begleitet.

Fallmanager*innen sind Bezugs­personen

Wie entscheidend die Rolle von Fallmanagerin Simonsson sein kann, wird am Beispiel von Salma Haddad* deutlich. Die 32-jährige Sudanesin wohnt mit ihren fünf Kindern in einem Reihen­haus in Påryd, etwa 20 Minuten Autofahrt von Kalmar entfernt. Nicht mal 1.000 Einwohner*innen leben hier, meist in Ein­familien­häusern aus Holz mit einladenden Gärten. Ein kleiner Bach plätschert vor sich hin.

Caroline Simonsson auf Hausbesuch
Hausbesuch: Simonsson trifft sich mit der Sudanesin Salma Haddad, um gemeinsam Behördenbriefe zu sichten und die nächsten Schritte zu besprechen. © Michael Campanella

„Caroline!“ Strahlend begrüßt Salma Haddad die Sozial­arbeiterin an der Tür, die etwa zehn Monate alte Haja* auf dem Arm. Die zehn­jährige Israa* poltert die Treppe herunter, schlingt die Arme um Simonsson. Die erwidert die Umarmung. „Wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht gesehen!“ Wenn die Fall­managerin Haddad besucht, sind die Kinder in der Regel in der Schule oder im Kinder­garten. Doch gerade sind Ferien, das Haus ist voller Leben.

Die Sudanesin bedeutet ihrer Besucherin, auf dem dunkel­grauen Sofa im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Aus einer Vitrine holt sie einen Stapel Briefe, der sich seit Simonssons letztem Besuch angehäuft hat. Einer ist von der Migrations­behörde. „Da holen wir eine Über­setzerin dazu“, sagt Simonsson, nachdem sie den Inhalt des Briefs über­flogen hat. Sie kramt ein rundes Gerät mit Laut­sprecher aus ihrer Tasche hervor, aus dem kurz darauf eine Frauen­stimme zu hören ist. Haddad spricht kein Englisch und bislang nur wenig Schwedisch. Wegen ihrer Schwanger­schaft und Eltern­zeit hat sie bislang keinen Schwedisch­kurs belegen können, erzählt sie. Simonsson und sie verständigen sich oft mit Händen und Füßen. Doch das hier ist wichtig.

Für die jüngste Tochter, Haja*, müssen Haddad und ihr Noch-Ehemann Asyl beantragen. Dafür sollen sie schon am nächsten Tag bei der Migrations­behörde vorsprechen – gemeinsam. „Ich rufe gleich nach unserem Treffen dort an“, meint Simonsson. „Denn das geht ja nicht.“ Haddad sieht sie dankbar an und nickt. Von der Situation des Ehepaars weiß die Behörde nichts.

Caroline Simonsson im Gespräch
Im Einzelgespräch traute sich Salma Haddad, von ihren Erfahrungen mit Gewalt in der Ehe zu berichten. Mit Simonssons Hilfe zeigte sie ihren Mann schließlich an. © Michael Campanella

Persönliche Lebens­situation der Geflüchteten entscheidend

Haddad kam vor einem Jahr mit Mann und Kindern nach Kalmar und bekam Simonsson als Fall­managerin zugeteilt. Die Sozial­arbeiterin traf sich daraufhin mit beiden Eheleuten auch allein. In einem dieser Einzel­gespräche erklärte sie Salma Haddad die Regeln, die in Schweden in einer Partnerschaft gelten. „Daraufhin hat sie sich mir anvertraut und mir von Gewalt in ihrer Ehe erzählt“, sagt Simonsson. Die Fall­managerin kontaktierte die Behörden. Sie half Haddad, ihren Mann bei der Polizei anzuzeigen und die Scheidung zu beantragen. Auch seine Kinder darf er nicht mehr sehen. Bei der Integration wird er weiterhin unterstützt – allerdings von Simonssons Kollegen.

Simonsson holt ihre Brille heraus und studiert den Brief noch einmal genau. Sie ist seit 1995 Sozial­arbeiterin, macht ihren Job aus Über­zeugung und mit Leidenschaft. Doch die Bürokratie und die schwierige Kommunikation zwischen den zuständigen Ämtern und Institutionen bereiten ihr bisweilen Kopf­zerbrechen, wie sie sagt.

Caroline Simonsson
Caroline Simonsson liebt ihren Job - auch wenn der Umgang mit Behörden mitunter schwierig ist. © Michael Campanella
Anträge und Formulare
Anträge und Formulare zu verstehen und richtig auszufüllen gehört zum Arbeitsalltag der Fallmanagerin. © Michael Campanella

Zentralisierung soll Integrations­arbeit erleichtern

Um den Integrationsprozess zu vereinfachen und zu vereinheitlichen, habe Schweden 2010 im Zuge einer Reform zentralere Strukturen geschaffen – vor allem, was die Arbeits­markt­integration angehe, sagt Professorin Kuhlmann. Die Organisation des zuvor geschaffenen Integrations­programms, das Geflüchtete während ihrer ersten zwei Jahre nach Erhalt ihres Aufenthalts­titels unter­stützt, sei weitest­gehend von den Kommunen auf die schwedische Arbeits­agentur über­gegangen. „Die Kommunen sind weiterhin für die Umsetzung wesentlicher Bestand­teile des Programms vor Ort zuständig“, erklärt sie. Dafür bekämen sie Geld aus Stockholm. „Das Geld dürfen sie nur für die Integrations­arbeit ausgeben. Wofür sie es genau ausgeben und welche Akteurinnen und Akteure welche Aufgaben übernehmen, liegt jedoch in ihrer Hand.“

Deshalb gebe es auch in Schweden weiterhin Unterschiede darin, wie die Kommunen die Integrations­politik gestalteten und ob sie zum Beispiel Fall­manager*innen einsetzten oder nicht. „Hinzu kommt, dass es innerhalb der zwei Jahre längst nicht alle Geflüchteten auf den Arbeits­markt schaffen“, betont Kuhlmann. „Und danach müssen die Kommunen die Finanzierung der Integration wieder alleine stemmen, wenn die Geflüchteten nicht von einer anderen Förderung der schwedischen Arbeits­agentur profitieren.“

Caroline Simonsson im Auto unterwegs
Unterwegs, um zu helfen: „Wir verhindern im besten Fall, dass Probleme überhaupt erst entstehen“, sagt Simonsson. © Michael Campanella

In Deutschland ist ein großer Teil der Integrations­arbeit ebenfalls bei den Kommunen angesiedelt, wie Wissenschaftler Bogumil erklärt. „Integration ist jedoch keine Pflichtaufgabe der Kommunen, weshalb die Umsetzung der Integrations­arbeit von Ort zu Ort sehr unterschiedlich ist“, sagt er. Auch die durch den Bund geförderten Migrations­beratungs­stellen, Wohl­fahrts­träger sowie zahl­reiche Ehren­amtliche weisen Migrant*innen den Weg durch den Behördend­schungel. „Eine große Aufgabe des lokalen Integrations­managements in Deutschland ist es deshalb, Aufgaben gut zu koordinieren.“

Fehlende finanzielle Plan­bar­keit problematisch

Auch die Finanzierung der Integrations­arbeit unterscheide sich innerhalb Deutschlands stark: In manchen Bundes­ländern bekämen die Kommunen vom Land zusätzliches Geld aus speziellen Förder­programmen. „Entscheidend dafür, wie sehr sich eine Kommune engagiert, ist ganz oft der Migrations­druck“, sagt Bogumil. „Aber auch die finanzielle Ausgestaltung der Integrations­arbeit beeinflusst das Eigen­engagement der Kommunen.“

Die Zahl an Fallmanager*innen steige, meist seien es Sozial­pädagog*innen oder Sozial­arbeiter*innen. Doch es hat bei Weitem nicht jede geflüchtete Person eine individuelle Ansprech­person, wie sie Ibrahim und Haddad mit Simonsson haben. „In Deutschland haben wir den Eindruck gewonnen, dass oft die sehr komplexen Fälle bei Fall­manager*innen auflaufen, für die Behörden vielleicht nicht die Zeit haben“, sagt Bogumil. Wie viele das genau sind, ist den offiziellen Statistiken nicht zu entnehmen.

Caroline Simonsson während eines Beratungsgesprächs
Was steht drin, was muss rein? Stift und Smartphone sind ständige Begleiter während der Beratungsgespräche. © Michael Campanella

Der Erfolg von Fallmanager*innen ist unumstritten, aber er ist auch schwer messbar. Kein Wunder, wie Simonsson sagt: „Wir verhindern im besten Fall, dass Probleme überhaupt erst entstehen. Wie will man das messen?“ Genau diese fehlende Messbarkeit erschwere es den Kommunen jedoch, zu begründen, wie wichtig Fall­manager*innen wie Simonsson für die Integration sind, erklärt Wissenschaftlerin Kuhlmann. Außerdem könnten sich mit einem politischen Wechsel auch immer die Vorgaben für die Integrations­arbeit verändern. „Kommunen können so nur schwer planen“, sagt Kuhlmann. „Das macht es umso wichtiger, dass sie sich untereinander noch stärker vernetzen und über ‚good practices‘ austauschen.“ Das gemeinsame Forschungs­projekt aus Bochum und Potsdam könne dabei unter­stützen: „Manchmal sind es ein Blick von außen und der Vergleich mit Praktiken anderer Länder, die die Besonderheiten des eigenen Ansatzes erst hervorheben und vor Augen führen.“

Für den Moment hat Sozial­arbeiterin Simonsson in Kalmar alles geklärt. Als sie auf dem Weg zur Haustür an Salma Haddads Küche vorbeikommt, zeigt die Sudanesin auf einen Teller mit Bananen­pfann­kuchen, die sie für Simonsson gebacken hat. Die winkt ab: „Nicht heute, Salma. Beim nächsten Mal wieder!“ Doch Haddad lässt nicht locker. Schnell holt sie eine Packung Trauben aus dem Kühl­schrank und hält sie der Fallmanagerin hin. Lachend pflückt Simonsson ein paar der Früchte vom Stängel. „Sie ist so gast­freundlich“, sagt sie über Haddad. Und dann, leiser: „Und stark. Sie wird ihren Weg hier schon machen.“

* Name von der Redaktion geändert


Lokales Integrations­management

Das Forschungs­projekt der Universität Potsdam und der Ruhr-Universität Bochum unter­sucht Strukturen, Prozesse, Akteurinnen und Akteure sowie Koordinations- und Leistungs­fähigkeit des lokalen Integrations­managements in Deutschland, Schweden und Frankreich. Neben einer empirischen Bestands­auf­nahme liegt der Fokus auf „good practices“ in den drei Ländern.