Ankommen auf Schwedisch
Sie ist Vermittlerin, Vertraute und Wegbegleiterin für Geflüchtete in Schweden: Sozialarbeiterin Caroline Simonsson hilft als Fallmanagerin bei der Integration. Vor welchen Herausforderungen steht sie, und was können wir in Deutschland von ihr lernen?
„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du gerade mit deinem neuen Sprachkurs angefangen. Wie läuft es denn?“ Caroline Simonsson lächelt der jungen Frau aufmunternd zu, die ihr gegenübersitzt. Ihre Gesprächspartnerin: Nada Ibrahim* aus Syrien. Die 26-Jährige lebt erst seit Oktober in Schweden. An diesem Vormittag trägt sie Kopftuch, eine rosafarbene Jacke und Sneakers. „Wir üben im Kurs gerade, ein Vorstellungsgespräch zu führen“, erzählt Ibrahim auf Schwedisch. „Aha!“, sagt Simonsson. Sie zwinkert ihr zu und antwortet, ebenfalls auf Schwedisch: „Anscheinend lernst du viel dazu.“ Ibrahim dagegen ist mit ihren Sprachkenntnissen nicht zufrieden. Ungeduldig wippt sie mit dem Bein. Im Libanon hat sie Pharmazie studiert und möchte möglichst bald in einer Apotheke arbeiten.
Simonsson will ihr helfen, dorthin zu kommen. Die 51-Jährige arbeitet als Sozialarbeiterin für die südschwedische Küstenstadt Kalmar. Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen kümmert sie sich darum, dass anerkannte Geflüchtete auch wirklich ankommen. Sie hilft ihnen dabei, Briefe von den Behörden zu beantworten, Anträge rechtzeitig zu stellen und Schwedisch zu lernen, damit sie fit für den Arbeitsmarkt werden. Und sie will, dass sie sich verstanden fühlen und Vertrauen fassen. Letzteres sei oft nicht leicht, berichtet Simonsson. Das gelte insbesondere für Menschen aus Ländern mit viel Behördenwillkür, erzählt sie. Ibrahim und ihrer Familie haben Simonsson und ihre Kolleg*innen etwa geholfen, eine Wohnung zu finden, finanzielle Unterstützung zu beantragen, eine schwedische Personennummer zu bekommen und ein Konto zu eröffnen.
Und obwohl das eigentlich nicht zu ihrer Jobbeschreibung gehört: Für viele der Geflüchteten ist Simonsson außerdem eine seelische Stütze. „Manche kommen hier schwer traumatisiert an“, sagt die Sozialarbeiterin. Auf einem kleinen Tisch am Fenster liegt, wie zum Beweis, eine Packung Taschentücher. „Manchmal sitzen wir hier zwei Stunden lang“, berichtet Ibrahim. „Ich erzähle Caroline alles.“ Öffentlich möchte sie über diese Dinge nicht sprechen. „Ich versuche, den Geflüchteten zuzuhören, offene Fragen zu stellen, damit sie von sich aus reden“, erklärt Simonsson. Auch wenn ihre bunte Wanduhr tickt: Für die Gespräche nimmt sie sich so viel Zeit wie nötig.
Individuelle Beratung für bessere Integration
Rund einhundert Personen betreut Simonsson als Fallmanagerin in den ersten beiden Jahren nach deren Ankunft. Im ersten Monat trifft sie sich zwei- bis dreimal pro Woche mit ihnen, danach erst mal ein- bis zweimal pro Monat und später mit den meisten nach Bedarf. Für die 51-Jährige sind es nicht nur Namen in den Mappen, die fein säuberlich in ihrer Schreibtischschublade aufgereiht sind. Sie kennt ihre Geschichten und kann dadurch als Brückenbauerin zwischen Geflüchteten und den Ämtern und Institutionen fungieren, mit denen die Geflüchteten Kontakt haben.
Genau darin liege die Stärke des Fallmanagements, sagt Verwaltungswissenschaftler Professor Jörg Bogumil von der Ruhr-Universität Bochum: „Es gibt eine zentrale Person, die die Verantwortung für den gesamten Integrationsprozess übernimmt.“ Daran mangele es in deutschen Kommunen, in denen es keine Fallmanager*innen gibt, weil die Zuständigkeiten für die Integrationsarbeit bei verschiedenen Fachbehörden und Organisationen liegen. „Das Fallmanagement bringt alles zusammen. Dort wird geschaut: Welche Stärken bringen die Personen mit, welchen Bedarf haben sie, und wo muss man ansetzen?“
Ein*e Fallmanager*in kenne die persönliche Lebenslage einer Person und könne zwischen dieser und den behördlichen Vorgaben koordinieren, ergänzt Professorin Sabine Kuhlmann von der Universität Potsdam. Gemeinsam mit Bogumil leitet sie ein Forschungsprojekt, in dem die beiden mit ihren Teams Akteurinnen und Akteure, Strukturen und Prozesse im lokalen Integrationsmanagement untersuchen. Dazu haben sie unter anderem Interviews in 14 Kommunen aus fünf Bundesländern in Deutschland sowie jeweils zwei Kommunen in Frankreich und Schweden geführt. Aus ihren Eindrücken wollen sie bewährte Praktiken herausarbeiten, um das gegenseitige Lernen und den Austausch zwischen den Ländern zu fördern und die kommunale Integrationsarbeit auch in Deutschland weiter zu verbessern. Kalmar wurde ihnen in ihren Gesprächen als Beispiel für eine Kommune genannt, die Geflüchtete durch Fallmanagement besonders eng und vergleichsweise lang begleitet.
Fallmanager*innen sind Bezugspersonen
Wie entscheidend die Rolle von Fallmanagerin Simonsson sein kann, wird am Beispiel von Salma Haddad* deutlich. Die 32-jährige Sudanesin wohnt mit ihren fünf Kindern in einem Reihenhaus in Påryd, etwa 20 Minuten Autofahrt von Kalmar entfernt. Nicht mal 1.000 Einwohner*innen leben hier, meist in Einfamilienhäusern aus Holz mit einladenden Gärten. Ein kleiner Bach plätschert vor sich hin.
„Caroline!“ Strahlend begrüßt Salma Haddad die Sozialarbeiterin an der Tür, die etwa zehn Monate alte Haja* auf dem Arm. Die zehnjährige Israa* poltert die Treppe herunter, schlingt die Arme um Simonsson. Die erwidert die Umarmung. „Wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht gesehen!“ Wenn die Fallmanagerin Haddad besucht, sind die Kinder in der Regel in der Schule oder im Kindergarten. Doch gerade sind Ferien, das Haus ist voller Leben.
Die Sudanesin bedeutet ihrer Besucherin, auf dem dunkelgrauen Sofa im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Aus einer Vitrine holt sie einen Stapel Briefe, der sich seit Simonssons letztem Besuch angehäuft hat. Einer ist von der Migrationsbehörde. „Da holen wir eine Übersetzerin dazu“, sagt Simonsson, nachdem sie den Inhalt des Briefs überflogen hat. Sie kramt ein rundes Gerät mit Lautsprecher aus ihrer Tasche hervor, aus dem kurz darauf eine Frauenstimme zu hören ist. Haddad spricht kein Englisch und bislang nur wenig Schwedisch. Wegen ihrer Schwangerschaft und Elternzeit hat sie bislang keinen Schwedischkurs belegen können, erzählt sie. Simonsson und sie verständigen sich oft mit Händen und Füßen. Doch das hier ist wichtig.
Für die jüngste Tochter, Haja*, müssen Haddad und ihr Noch-Ehemann Asyl beantragen. Dafür sollen sie schon am nächsten Tag bei der Migrationsbehörde vorsprechen – gemeinsam. „Ich rufe gleich nach unserem Treffen dort an“, meint Simonsson. „Denn das geht ja nicht.“ Haddad sieht sie dankbar an und nickt. Von der Situation des Ehepaars weiß die Behörde nichts.
Persönliche Lebenssituation der Geflüchteten entscheidend
Haddad kam vor einem Jahr mit Mann und Kindern nach Kalmar und bekam Simonsson als Fallmanagerin zugeteilt. Die Sozialarbeiterin traf sich daraufhin mit beiden Eheleuten auch allein. In einem dieser Einzelgespräche erklärte sie Salma Haddad die Regeln, die in Schweden in einer Partnerschaft gelten. „Daraufhin hat sie sich mir anvertraut und mir von Gewalt in ihrer Ehe erzählt“, sagt Simonsson. Die Fallmanagerin kontaktierte die Behörden. Sie half Haddad, ihren Mann bei der Polizei anzuzeigen und die Scheidung zu beantragen. Auch seine Kinder darf er nicht mehr sehen. Bei der Integration wird er weiterhin unterstützt – allerdings von Simonssons Kollegen.
Simonsson holt ihre Brille heraus und studiert den Brief noch einmal genau. Sie ist seit 1995 Sozialarbeiterin, macht ihren Job aus Überzeugung und mit Leidenschaft. Doch die Bürokratie und die schwierige Kommunikation zwischen den zuständigen Ämtern und Institutionen bereiten ihr bisweilen Kopfzerbrechen, wie sie sagt.
Zentralisierung soll Integrationsarbeit erleichtern
Um den Integrationsprozess zu vereinfachen und zu vereinheitlichen, habe Schweden 2010 im Zuge einer Reform zentralere Strukturen geschaffen – vor allem, was die Arbeitsmarktintegration angehe, sagt Professorin Kuhlmann. Die Organisation des zuvor geschaffenen Integrationsprogramms, das Geflüchtete während ihrer ersten zwei Jahre nach Erhalt ihres Aufenthaltstitels unterstützt, sei weitestgehend von den Kommunen auf die schwedische Arbeitsagentur übergegangen. „Die Kommunen sind weiterhin für die Umsetzung wesentlicher Bestandteile des Programms vor Ort zuständig“, erklärt sie. Dafür bekämen sie Geld aus Stockholm. „Das Geld dürfen sie nur für die Integrationsarbeit ausgeben. Wofür sie es genau ausgeben und welche Akteurinnen und Akteure welche Aufgaben übernehmen, liegt jedoch in ihrer Hand.“
Deshalb gebe es auch in Schweden weiterhin Unterschiede darin, wie die Kommunen die Integrationspolitik gestalteten und ob sie zum Beispiel Fallmanager*innen einsetzten oder nicht. „Hinzu kommt, dass es innerhalb der zwei Jahre längst nicht alle Geflüchteten auf den Arbeitsmarkt schaffen“, betont Kuhlmann. „Und danach müssen die Kommunen die Finanzierung der Integration wieder alleine stemmen, wenn die Geflüchteten nicht von einer anderen Förderung der schwedischen Arbeitsagentur profitieren.“
In Deutschland ist ein großer Teil der Integrationsarbeit ebenfalls bei den Kommunen angesiedelt, wie Wissenschaftler Bogumil erklärt. „Integration ist jedoch keine Pflichtaufgabe der Kommunen, weshalb die Umsetzung der Integrationsarbeit von Ort zu Ort sehr unterschiedlich ist“, sagt er. Auch die durch den Bund geförderten Migrationsberatungsstellen, Wohlfahrtsträger sowie zahlreiche Ehrenamtliche weisen Migrant*innen den Weg durch den Behördendschungel. „Eine große Aufgabe des lokalen Integrationsmanagements in Deutschland ist es deshalb, Aufgaben gut zu koordinieren.“
Fehlende finanzielle Planbarkeit problematisch
Auch die Finanzierung der Integrationsarbeit unterscheide sich innerhalb Deutschlands stark: In manchen Bundesländern bekämen die Kommunen vom Land zusätzliches Geld aus speziellen Förderprogrammen. „Entscheidend dafür, wie sehr sich eine Kommune engagiert, ist ganz oft der Migrationsdruck“, sagt Bogumil. „Aber auch die finanzielle Ausgestaltung der Integrationsarbeit beeinflusst das Eigenengagement der Kommunen.“
Die Zahl an Fallmanager*innen steige, meist seien es Sozialpädagog*innen oder Sozialarbeiter*innen. Doch es hat bei Weitem nicht jede geflüchtete Person eine individuelle Ansprechperson, wie sie Ibrahim und Haddad mit Simonsson haben. „In Deutschland haben wir den Eindruck gewonnen, dass oft die sehr komplexen Fälle bei Fallmanager*innen auflaufen, für die Behörden vielleicht nicht die Zeit haben“, sagt Bogumil. Wie viele das genau sind, ist den offiziellen Statistiken nicht zu entnehmen.
Der Erfolg von Fallmanager*innen ist unumstritten, aber er ist auch schwer messbar. Kein Wunder, wie Simonsson sagt: „Wir verhindern im besten Fall, dass Probleme überhaupt erst entstehen. Wie will man das messen?“ Genau diese fehlende Messbarkeit erschwere es den Kommunen jedoch, zu begründen, wie wichtig Fallmanager*innen wie Simonsson für die Integration sind, erklärt Wissenschaftlerin Kuhlmann. Außerdem könnten sich mit einem politischen Wechsel auch immer die Vorgaben für die Integrationsarbeit verändern. „Kommunen können so nur schwer planen“, sagt Kuhlmann. „Das macht es umso wichtiger, dass sie sich untereinander noch stärker vernetzen und über ‚good practices‘ austauschen.“ Das gemeinsame Forschungsprojekt aus Bochum und Potsdam könne dabei unterstützen: „Manchmal sind es ein Blick von außen und der Vergleich mit Praktiken anderer Länder, die die Besonderheiten des eigenen Ansatzes erst hervorheben und vor Augen führen.“
Für den Moment hat Sozialarbeiterin Simonsson in Kalmar alles geklärt. Als sie auf dem Weg zur Haustür an Salma Haddads Küche vorbeikommt, zeigt die Sudanesin auf einen Teller mit Bananenpfannkuchen, die sie für Simonsson gebacken hat. Die winkt ab: „Nicht heute, Salma. Beim nächsten Mal wieder!“ Doch Haddad lässt nicht locker. Schnell holt sie eine Packung Trauben aus dem Kühlschrank und hält sie der Fallmanagerin hin. Lachend pflückt Simonsson ein paar der Früchte vom Stängel. „Sie ist so gastfreundlich“, sagt sie über Haddad. Und dann, leiser: „Und stark. Sie wird ihren Weg hier schon machen.“
* Name von der Redaktion geändert
Lokales Integrationsmanagement
Das Forschungsprojekt der Universität Potsdam und der Ruhr-Universität Bochum untersucht Strukturen, Prozesse, Akteurinnen und Akteure sowie Koordinations- und Leistungsfähigkeit des lokalen Integrationsmanagements in Deutschland, Schweden und Frankreich. Neben einer empirischen Bestandsaufnahme liegt der Fokus auf „good practices“ in den drei Ländern.