Wege aus dem Labyrinth?
Es ist nicht einfach für junge Neuzugewanderte: Viele irren in den EU-Ländern durch ein Labyrinth von berufsvorbereitenden Angeboten mit komplexen Anforderungen. Zum Teil so komplex und mit langen Wartezeiten, dass sie eher einen Job im Niedriglohnsektor annehmen, statt eine Ausbildung zu beginnen. Eine gerade erschienene Studie aus dem Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) wirft einen Blick auf die Situation in vier Ländern.
Europa übt eine große Anziehungskraft auf junge Menschen aus. Seit 2014 sind mehr als fünf Millionen Jugendliche und junge Erwachsene in die EU geflüchtet, aus anderen Gründen zugewandert oder innerhalb der Union umgezogen. Doch wie gelingt es ihnen, Fuß zu fassen und Teil der jeweiligen Gesellschaft zu werden? Für Lena Rother, Co-Autorin der Studie „Heraus aus dem Labyrinth. Jungen Neuzugewanderten in Europa den Weg zur Berufsbildung erleichtern“, steht fest: „Integration und gesellschaftliche Teilhabe ergeben sich vor allem über eine Ausbildung und die spätere Möglichkeit einer qualifizierten Beschäftigung.“ Besonders der Zugang zur Bildung ebne den Weg zur Integration. Gerade in Pandemiezeiten, wenn viele Menschen in ungelernten Jobs ihre Arbeit verlieren, zeige sich, wie wichtig eine qualifizierte Beschäftigung sei. Berufliche Bildung und ein praxisorientierter Einstieg haben folglich einen hohen Stellenwert. Doch wie diesen finden – in einem fremden Land und häufig, ohne der Sprache mächtig zu sein? Das haben sich die Studienautor*innen in Deutschland, Österreich, Slowenien und Spanien in jeweils zwei Kommunen genauer angeschaut.
Komplexe Anerkennungsverfahren
Die Sozial- und Politikwissenschaftlerin Lena Rother betont, dass es große Parallelen in den acht Kommunen gebe hinsichtlich der aufenthaltsrechtlichen Hürden, der Sprachbarrieren und einem hohen Lernpensum. Dazu geselle sich eine fehlende zentrale Anlaufstelle oder Information: Statt wie am Flughafen eine Art Servicepoint vorzufinden, der im fremden Land zur ersten Orientierung verhelfe, kämen sich die Neuankömmlinge in den meisten Fällen wie in einem Labyrinth mit undurchsichtigen Regularien und zahlreichen Voraussetzungen vor. Vor allem die Anerkennungsverfahren sind in den untersuchten Ländern komplex und langwierig. So hat es Olga (Name geändert) erlebt, eine 19-jährige Weißrussin. Als sie in Barcelona einen Sprachkurs absolvierte, wurde ihr plötzlich mitgeteilt, dass ihr Abschluss doch nicht anerkannt und sie ohne mittleren Schulabschluss bald wieder zurück in ihre Heimat geschickt würde: „Ich habe das ganz spät erfahren und nur per Zufall noch einen Platz in der Abendschule, also über die Erwachsenenbildung, erhalten, um den Abschluss nachzuholen.“
Sprachlos in Deutschland
Irrwege, Umwege, Sackgassen – das ist die Realität auf dem Weg in die berufliche Bildung. Viele der Geflüchteten zwischen 16 und 25 Jahren machen sich ohne Familie auf den Weg. So wie Mahir (Name geändert), ein junger Mann aus Syrien mit kurdischer Abstammung, den es 2015 nach Deutschland verschlagen hat. In seinem Heimatland musste er die Schule schon nach der zweiten Klasse abbrechen. Von klein auf habe er „in verschiedenen Ländern gearbeitet“, nicht nur in Syrien, sondern auch im Libanon und der Türkei, speziell in Istanbul. Als er 2015 nach München kam, war er weder imstande zu lesen noch zu schreiben. Oder wie er es selbst formuliert: „Ich war sprachlos.“
Und trotzdem wurde seine Integration durch mehrere Umstände erleichtert. Zum einen war er 2015 noch minderjährig: Es war also von vorneherein klar, dass er schulpflichtig ist. Nach nur einem halben Jahr erhielt er zudem bereits eine Aufenthaltserlaubnis, die so etwas wie ein Freifahrtschein für alle weiteren Schritte darstellt. Oder umgekehrt formuliert: Ohne Aufenthaltsstatus hängen Neuankömmlinge in der Warteschleife zu Vorbereitungskursen frustrierend lange fest. Mahir indes konnte zügig mit einem Alphabetisierungskurs starten. In einem knappen Jahr lernte er die Grundzüge der Sprache. Von einer einheimischen Familie, der er bis heute nahesteht – „sie sind wie meine Eltern“ –, bekam er außerdem den Tipp, sich für eine der bayerischen Berufsintegrationsklassen (BIK) anzumelden. Nebenher arbeitete er in einer Motorradwerkstatt, wo sein handwerkliches Talent zur Geltung kam. Das Ergebnis: Nach lediglich zwei Jahren in der BIK kann der junge Mann in der Werkstatt einen Ausbildungsplatz als Zweiradmechatroniker antreten. Er ist überglücklich: „Mein Traumberuf für Deutschland.“ Nun arbeitet er im Betrieb und geht parallel in die Schule.
Für Lena Rother bestätigt sich mit seiner Geschichte einmal mehr, „dass es eine große Hilfe ist, wenn Zugewanderte und Betriebe durch Praktika oder Nebenjobs bereits früh in Kontakt kommen.“ Für Mahir lässt sich mit Fug und Recht behaupten: Er ist in einem neuen Alltag in Deutschland angekommen. De facto, so sagt er selbst, musste er nur mit der Sprache kämpfen. Deutsch sei doch sehr schwierig, „ansonsten war alles easy“.
Puzzleteile auf dem Weg zur Integration
Damit nimmt Mahir eindeutig eine Ausnahmestellung ein – viele andere junge Zugewanderte verheddern sich im Kampf mit den Regularien. Mit 122 jungen Menschen zwischen 16 und 25 Jahren wurde in dem SVR-Forschungsprojekt gesprochen. Ein Fazit von Lena Rother: „Es bestehen große Unterschiede je nach Herkunftsland.“ Für Mahir fügte sich ein Puzzleteil ans andere: Aufenthaltsstatus, Sprachkurs, Berufsintegrationsklasse, Praktika, Ausbildung, Berufsschule, eigene Wohnung. Geradlinig, ohne größere Umleitungen, auch dank der Hilfe engagierter Lehrer*innen und Ehrenamtler*innen wie der deutschen Familie, die ihn durchlotsen hin zu seinem ohnehin favorisierten Beruf.
Zwar bieten alle vier Staaten Sprachkurse und häufig auch fachliche Fortbildungen an, doch komme dieses Angebot entweder unübersichtlich daher – etwa in Deutschland oder Österreich – oder sei eher unzureichend, so in Spanien oder Slowenien. Außerdem müssten potenzielle Teilnehmer*innen derartiger Kurse etliche Voraussetzungen erfüllen, ähnlich wie bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz auch. Hinzu kommen weitere belastende Faktoren, die viele Neuzugewanderte teilen: eine finanziell angespannte Situation, wenig Sprach- und Systemkenntnis, ein hohes sprachliches und fachliches Lernpensum sowie bisweilen psychische, soziale und wohnräumliche Schwierigkeiten oder auch Diskriminierung.
Mehr Koordination und Ausbildung aus einer Hand
Was sollte sich folglich ändern? Hier macht die Studie einige Vorschläge, die einerseits die Koordination zwischen den EU-Ländern betrifft und andererseits die Bildungsetappen in jedem einzelnen Land. Bei der internationalen Anpassung der Ausbildungsstruktur könnte zum Beispiel die Bologna-Reform mit ihren einheitlichen Studienabschlüssen als Vorlage dienen. Durch sie weiß jedes europäische Land, was ein Bachelor, was ein Master beinhaltet. Ähnlich sollte es bei der Zertifizierung von Ausbildung sein. Für das große Ziel „Ausbildungsvorbereitung aus einer Hand“ formuliert Lena Rother ihre zentrale Handlungsempfehlung: „Es sollte eine Anlaufstelle geben, das müsste gar kein physischer Ort sein, aber an diese müsste ich als Zugewanderte*r mich immer wenden können.“ Wie sich das im Einzelnen gestaltet, könne man nicht für ganz Europa empfehlen. Aber bereits bestehende positive Beispiele könnten durchaus Impulse geben – so wie die Berufsintegrationsklasse, die Mahir in München durchlaufen hat: Sprachkurs, fachliche Vorbereitung plus Zertifikat an einem Ort. Als weitere gelungene Beispiele zitiert Lena Rother Projekte wie „Neue Familien in Barcelona“, die die Neuzugewanderten im Rahmen der Familienzusammenführung begleiten, aber auch die Wiener Bildungsdrehscheibe mit ihrer besonders frühen Beratung und dem Zugang in Sprach- und Fachkurse kurz nach Ankunft.
Der Handlungsspielraum von Behörden entscheidet
Eine Schlüsselrolle nähmen auch die Mitarbeiter*innen der verschiedenen amtlichen Institutionen und deren Spielraum ein. Ihre Entscheidungen können den Weg in die berufliche Bildung erleichtern – aber auch mit Hürden verbauen. „Ich fand es sehr interessant, zu beobachten, was eine*n Mitarbeiter*in zum Beispiel in einer Ausländerbehörde oder einer Berufsschule beeinflusst, seinen beziehungsweise ihren Ermessensspielraum so oder so auszulegen.“ Ein großer Unterschied zeigte sich beispielsweise darin, ob die Mitarbeiter*innen direkten Kontakt zu den Neuankömmlingen haben oder nicht.
Da Integration in den Kommunen geschehe, müsste man demnach auch zweidimensional denken, resümiert Studien-Co-Autorin Lena Rother. Nicht nur die Neuankömmlinge gelte es zu unterstützen, sondern mit den kommunalen Mitarbeiter*innen auch diejenigen, die die jungen Menschen auf dem Weg in die Ausbildung begleiten.
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration
Unsere Partnergesellschaft Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) ist ein unabhängiges, interdisziplinär besetztes Gremium von Expert*innen, das die Politik handlungsorientiert berät und der Öffentlichkeit sachliche Informationen zur Verfügung stellt.
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