Heimat im Plural
Prägung, Selbstverständnis und Gefühle: Für Millionen sei der Begriff „Heimat“ ein zu enges Korsett, sagt der Sozialaktivist Ali Can im Interview. „Wir müssen von einer kulturellen Eindeutigkeit wegkommen.“
In den vergangenen Jahren wurde viel darüber diskutiert: Was ist für Sie eigentlich Heimat, Herr Can?
Ali Can: Für mich ist Heimat eine veraltete Vorstellung von Zugehörigkeit. Ich spreche lieber von Heimatgefühlen, da es letztlich um Prägung und Selbstverständnis geht, um Gefühle und persönliche Vorlieben. Für Millionen von Menschen ist Heimat ein zu enges Korsett, da sie mehrere Heimaten haben. Jede Heimat schmeckt für mich anders: Essen, Warendorf im Münsterland, Gießen, Pazarcik in der Türkei.
Sie schreiben davon, Deutschsein neu definieren zu wollen. Was macht denn das Deutschsein bislang aus Ihrer Sicht aus? Und wie sollte sich das ändern?
Can: Kurz und ehrlich beschrieben, bedeutet für viele Menschen Deutschsein noch, dass weiß-blonde Menschen ohne Migrationshintergrund seit Generationen in Deutschland leben. Wir müssen von einer kulturellen Eindeutigkeit wegkommen: Man kann Deutsch sein und auch etwas anderes. Meine persönliche Definition aus meinem neuen Buch, das bezeichnenderweise im Duden Verlag erschienen ist, lautet: Deutsch ist die Summe aller Menschen, die in Deutschland leben.
Ali Can
Ali Can ist Sozialaktivist, Mitbegründer und Leiter des Essener VielRespektZentrums. Er ist Autor des Buchs Mehr als eine Heimat.
Sie haben 2018 den Hashtag #MeTwo initiiert. Tausende berichteten auf Twitter von alltäglichen Rassismus-Erfahrungen. Im Rückblick: Was hat das aus Ihrer Sicht gebracht?
Can: #MeTwo ist die größte Chiffre gegen Alltagsrassismus in Deutschland. Es ist ein Fundus an Erfahrungen und Meinungen, so dass sich jeder Mensch darüber bilden kann. Auf jeder Social Media-Plattform oder in jeder Suchmaschine kann man erfahren, wie es von Rassismus Betroffenen geht, wo sie ihre Ausgrenzungserfahrungen machen und vieles mehr. Die #MeTwo-Bewegung hat vor allem die Betroffenen bestärkt, dass sie zu Zehntausenden ihre Geschichten teilen. Als wir gemerkt haben, dass wir die Aufmerksamkeit von der Politik und den Medien haben, war das für uns ein emanzipatorischer Akt: Wir reden, ihr hört mal zu. Das war das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass Alltagsrassismus in der Dimension besprochen wurde – und zwar von den Betroffenen.
Es stellte auch einen Paradigmenwechsel dar: Die weiße Mehrheitsgesellschaft hat verstanden, dass sie mal zuhören muss, dass es verschiedene Perspektiven gibt. #MeTwo-Menschen, also solche, die migrantisiert werden, einen Migrationshintergrund haben und von Rassismus betroffen sind – wir bringen eine andere Lebensrealität mit. Darüber hinaus haben Studierende, Dozent*innen und Lehrkräfte aus #MeTwo viel für ihre Forschung beziehungsweise für ihren Unterricht gezogen, behandeln das Thema damit und sensibilisieren andere. Die Landesregierung NRW hat den Beirat für Integration und Teilhabe gegründet und mich wegen #MeTwo hineingenommen. #MeTwo hat auch Selbstbewusstsein geschaffen und den Weg für weitere Diskurse geebnet, wie zum Beispiel #BlackLivesMatter.
Digitaler Mercator Salon mit Ali Can
26. Nov. 2020, 17:00 Uhr
Mehr Respekt für Vielfalt – durch Engagement der Zivilgesellschaft?
Mit dem von ihm initiierten Hashtag #MeTwo wurden im Sommer 2018 in den sozialen Medien Tausende von alltäglichen Rassismuserfahrungen sicht- und hörbar. Wie wirken sich diese auf das Zugehörigkeitsgefühl und die Identität vieler Betroffener aus? Mehr Informationen finden Sie hier.
Sie engagieren sich seit Jahren gegen Rassismus. Hat sich im Laufe der Zeit etwas verändert?
Can: Ich habe verschiedene Ansätze, um mich gegen Rassismus und für eine offene Gesellschaft einzusetzen. Das Problem ist zu komplex, als dass eine Projektidee, eine bestimmte Agenda reichen würde. Momentan unterstütze ich Black, Indigenous and People of Color (BlPoCs) sehr und unterstütze Menschen in ihrem Engagement.