Rassismus abbauen: Vier Visionen

Rassismus abbauen: Vier Visionen
Autorin: Kristina Kara Illustrationen: Samy Löwe 07.09.2021

Rassismus in Deutschland soll aktiv bekämpft werden. Ein Kabinetts­aus­schuss stellte Ende 2020 Maßnahmen dafür vor. Das Netzwerk Bundes­konferenz der Migranten­organisationen (BKMO) zeigte sich von den 89 Einzel­maßnahmen enttäuscht – und hielt mit einer eigenen „Anti­rassismus Agenda 2025“ gegen. „Wir fordern unter anderem konkretere rechtliche Schritte“, erklärt Susanna Steinbach, Bundes­geschäfts­führerin der Türkischen Gemeinde in Deutschland, einem der Treiber der BKMO. Welche Miss­stände dann gelöst wären, schildert Steinbach in vier Visionen von einem besseren Deutschland.

Vision: Ein reformiertes Allgemeines Gleich­behandlungs­gesetz macht Verbands­klagen möglich

Hamburg, 2025. Das Amtsgericht Hamburg-Altona hat eine städtische Wohnungs­bau­gesellschaft zu einer Entschädigungs­zahlung von insgesamt 2.000 Euro wegen Diskriminierung bei der Wohnungs­vergabe verurteilt. Die Wohnungs­bau­gesellschaft hatte sieben Interessent*innen mit einem deutsch klingenden Nachnamen zu einem Besichtigungs­termin eingeladen. Sechs weiteren Bewerber*innen mit weniger deutsch klingenden Namen wurde mitgeteilt, dass die Wohnung bereits vermietet worden sei. Aufgeflogen war das Ganze, weil sich der betroffene Walid A. Hilfe suchend an die Anti­diskriminierungs­beratungs­stelle „amira“ gewandt hatte. Mit einem Test­verfahren konnte diese belegen, dass der syrisch­stämmige Chemiker und weitere Wohnungs­suchende aufgrund ihrer Herkunft nicht zur Wohnungs­besichtigung eingeladen worden waren. Die Beratungs­stelle verklagte daraufhin stell­vertretend für Walid A. die Wohnungs­bau­gesellschaft.

Menschen halten einen Richterhammer
© Samy Löwe

Dass diese Klage überhaupt möglich war, ist einer im Jahr 2022 beschlossenen Novelle des Allgemeinen Gleich­behandlungs­gesetzes (AGG) von 2006 zu verdanken, die Vertreter*innen von migrantischen Organisationen und Anti­diskriminierungs­verbänden jahrelang gefordert hatten. Bereits zum zehn­jährigen Bestehen des AGG hatten sie darauf hingewiesen, dass das Gesetz in seiner bis dahin bestehenden Form keinen umfassenden Schutz vor Diskriminierungen sicher­stelle. Die Empfehlungen des Anti­rassismus-Ausschusses der Vereinten Nationen hatten eine Änderung des AGG ebenfalls angemahnt. Entsprechende Landes- und Bundes­anti­diskriminierungs­gesetze wurden im Jahr 2022 ebenfalls geschaffen, sodass Betroffene nun auch effektiv gegen Diskriminierung durch Unternehmen, Organisationen und Behörden vorgehen können.

Als anerkannter Anti­diskriminierungs­verband hat „amira“ nun auch das Recht, Verbands­klagen in Fällen von struktureller Diskriminierung zu führen, also unabhängig vom Einzel­fall. Denn der Schutz vor Diskriminierung darf nicht den Betroffenen über­lassen werden. Er ist eine gesamt­gesellschaftliche Aufgabe, die von allen Institutionen getragen und unter­stützt werden muss. Das Recht zu Verbands­klagen hatte zuvor bereits in Bereichen wie Umwelt- oder Verbraucher­schutz zur konsequenteren Einhaltung von Gesetzen geführt.

Vision: Wohn­bevölkerung gleich Wahl­bevölkerung

Marktgemeinde Lam, 2025. An einem Sonntag im Herbst steht Franz-Josef Buchbichl vor einer zum Wahl­lokal umfunktionierten Schule in der Ober­pfalz. Als er seine Kegel­freund*innen Luise und Wolfgang trifft, lächelt er stolz. Während die Bundes­tags­wahlen für die anderen beiden Routine sind, haben sie für ihn, unabhängig von ihrem Ausgang, auf jeden Fall historische Bedeutung: Sie sind sein „erstes Mal“. Obwohl er seit über 30 Jahren in Bayern lebt und arbeitet, durfte der gebürtige Österreicher bislang nie über kommunale Geschicke hinaus mit­bestimmen. Doch nun darf er tatsächlich für die Kandidat*innen seiner Wahl seine Kreuzchen machen. Die noch amtierende Bundes­regierung hat 2024 das Wahl­recht geändert. Deutschland ist seitdem nach Chile, Uruguay, Malawi und Neuseeland der fünfte der aktuell 193 anerkannten Staaten der Welt, die ihren ausländischen Mitbürger*innen die politische Mitbestimmung auf nationaler Ebene ermöglichen. Hier gilt nun: Wer seit fünf Jahren in Deutschland lebt, arbeitet und Steuern zahlt, darf mitentscheiden.

© Samy Löwe

Buchbichl lässt sich Zeit. „Endlich fühle ich mich hier wirklich angekommen“, kommentiert er die Gesetzes­änderung, die eine lange Vor­geschichte hat. Ein Urteil des Bundes­verfassungs­gerichts von 1990 setzte für das Wahlrecht die Eigenschaft als Deutsche*r voraus. Befürworter*innen eines erweiterten Wahlrechts argumentierten mit Artikel 20 des Grund­gesetzes dagegen, der die Wahlen für das Bundes­parlament regelt: „Das Volk wählt“ ist dort zu lesen, nicht „Das deutsche Volk wählt“. Sie gewannen die Grund­satz­diskussion und ebneten so den Weg für fast zehn Millionen mehr Wahl­berechtigte in Deutschland.

Vision: Keine Organisations­entwicklung ohne Diversität

Berlin, 2025. Bei einem großen Wohl­fahrts­verband finden diese Woche viele Vor­stellungs­gespräche statt. Neue Stellen für Sozial­arbeiter*innen und Projekt­referent*innen, Abteilungs­leiter*innen und Stand­ort­leitungen sind aus­geschrieben. Die Personal­chefin schaut sich gemeinsam mit ihrem Assistenten ihren Termin­kalender an. Um neun Uhr kommt Yildiz Sahin, es folgen Tarik Noor und um zwölf Uhr Sade Ayo. Nach dem Mittag­essen ist Dan Nguyhen dran, weiter geht es mit Aleksej Bojogevic. Die beiden Personaler*innen sprechen darüber, wie die Namen richtig ausgesprochen werden. Die Vorstands­vorsitzende hatte angeordnet, insbesondere bei der Auswahl neuer Mitarbeiter*innen für die mittlere und die Führungs­ebene auf Diversität zu achten. Das spiegelt sich auch in den Formulierungen der Stellen­anzeigen wider. Der Anteil der Berliner*innen mit Ein­wanderungs­geschichte beträgt rund 35 Prozent. Wer es als Organisation nicht schafft, die Belegschaft diverser auf­zu­stellen, riskiert, öffentliche Förderungen zu verlieren – wie in diesem Fall durch das Familien­ministerium.

Berwerbungsakten
© Samy Löwe

So steht es im 2023 verabschiedeten Gleich­stellungs- und Partizipations­gesetz. Es schreibt eine diversitäts­orientierte und diskriminierungs­kritische Entwicklung von Organisationen wie Behörden und Verwaltungen vor. Weiterhin legt es verpflichtende Quoten für Menschen mit Migrations­hinter­grund und/oder Rassismus­erfahrung fest. So soll lang­fristig dafür gesorgt werden, dass in allen Organisationen, auch in den Spitzen­positionen, sämtliche Gruppen so vertreten sind, wie es ihrem Anteil in der Bevölkerung entspricht. Der erste Gesetzes­vorstoß des seit 2022 bestehenden neuen Ministeriums für die Gestaltung der Ein­wanderungs­gesellschaft sieht in diesem Zug außerdem vor, dass öffentliche Förder­mittel an Diversity-Kriterien gebunden sind und dementsprechend vergeben werden.

© Samy Löwe

Vision: Doppel­staatlichkeit als Ausdruck von Teilhabe

Duisburg, 2025. „Ich bin aufs Amt gegangen und hatte das Gefühl, dass die mich wirklich wollten“, grinst Emine Sekerci und winkt mit ihrem neuen deutschen Pass. Dann hält sie verschmitzt inne und holt einen türkischen Reisepass aus der Tasche. „Ich freue mich sehr über die Einbürgerung“, sagt sie, „aber den hier hätte ich nicht abgegeben. Ich bin froh, dass ich jetzt beide haben kann. Das passt zu mir. Ich bin Türkin und Deutsche!“ Emine Sekerci ist 1963 nach Frankenthal gezogen und hat ihr gesamtes Berufsleben bei einem großen Chemie­konzern in Rheinland-Pfalz gearbeitet. Die deutsche Staats­bürgerschaft hätte sie bis vor Kurzem nur erhalten können, wenn sie ihre türkische abgegeben hätte. Für viele Menschen, die wie Sekerci ihr halbes Leben in ihrem Geburts­land verbracht haben, bevor sie nach Deutschland kamen, kaum denkbar.

Seit 2022 müssen sie sich nicht mehr entscheiden: Anlässlich des 60. Jubiläums der Anwerbung türkischer Gast­arbeiter*innen nach Deutschland hat die Bundes­regierung die Doppel­staatlichkeit ermöglicht. Eine Maßnahme, um sich bei den Menschen, die anreisten, um das deutsche Wirtschafts­wunder zu beflügeln, für ihre Leistungen zu bedanken. Sukzessive soll Menschen, die ihr Arbeits­leben in Deutschland verbringen oder verbracht haben, ermöglicht werden, sich ein­zu­bürgern – ohne die Staats­bürgerschaft ihres Herkunfts­landes aufgeben zu müssen. Spätestens mit der Verschärfung des Einbürgerungs­rechts im Jahr 2019 hatten viele migrantische Initiativen zunächst den Eindruck, dass Einbürgerung in Deutschland eher verhindert als angestrebt werden sollte. Das ist nun revidiert.

Bundes­konferenz der Migranten­organisationen (BKMO)

Die von der Stiftung Mercator geförderte Bundes­konferenz der Migranten­organisationen ist ein integrations­politisches Diskussions­forum, in dem Migrant*innen­verbände in Deutschland selbst­bestimmt und mit eigener Agenda zusammen­kommen und sich vernetzen.
bundeskonferenz-mo.de