Rassismus abbauen: Vier Visionen
Rassismus in Deutschland soll aktiv bekämpft werden. Ein Kabinettsausschuss stellte Ende 2020 Maßnahmen dafür vor. Das Netzwerk Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO) zeigte sich von den 89 Einzelmaßnahmen enttäuscht – und hielt mit einer eigenen „Antirassismus Agenda 2025“ gegen. „Wir fordern unter anderem konkretere rechtliche Schritte“, erklärt Susanna Steinbach, Bundesgeschäftsführerin der Türkischen Gemeinde in Deutschland, einem der Treiber der BKMO. Welche Missstände dann gelöst wären, schildert Steinbach in vier Visionen von einem besseren Deutschland.
Vision: Ein reformiertes Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz macht Verbandsklagen möglich
Hamburg, 2025. Das Amtsgericht Hamburg-Altona hat eine städtische Wohnungsbaugesellschaft zu einer Entschädigungszahlung von insgesamt 2.000 Euro wegen Diskriminierung bei der Wohnungsvergabe verurteilt. Die Wohnungsbaugesellschaft hatte sieben Interessent*innen mit einem deutsch klingenden Nachnamen zu einem Besichtigungstermin eingeladen. Sechs weiteren Bewerber*innen mit weniger deutsch klingenden Namen wurde mitgeteilt, dass die Wohnung bereits vermietet worden sei. Aufgeflogen war das Ganze, weil sich der betroffene Walid A. Hilfe suchend an die Antidiskriminierungsberatungsstelle „amira“ gewandt hatte. Mit einem Testverfahren konnte diese belegen, dass der syrischstämmige Chemiker und weitere Wohnungssuchende aufgrund ihrer Herkunft nicht zur Wohnungsbesichtigung eingeladen worden waren. Die Beratungsstelle verklagte daraufhin stellvertretend für Walid A. die Wohnungsbaugesellschaft.
Dass diese Klage überhaupt möglich war, ist einer im Jahr 2022 beschlossenen Novelle des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) von 2006 zu verdanken, die Vertreter*innen von migrantischen Organisationen und Antidiskriminierungsverbänden jahrelang gefordert hatten. Bereits zum zehnjährigen Bestehen des AGG hatten sie darauf hingewiesen, dass das Gesetz in seiner bis dahin bestehenden Form keinen umfassenden Schutz vor Diskriminierungen sicherstelle. Die Empfehlungen des Antirassismus-Ausschusses der Vereinten Nationen hatten eine Änderung des AGG ebenfalls angemahnt. Entsprechende Landes- und Bundesantidiskriminierungsgesetze wurden im Jahr 2022 ebenfalls geschaffen, sodass Betroffene nun auch effektiv gegen Diskriminierung durch Unternehmen, Organisationen und Behörden vorgehen können.
Als anerkannter Antidiskriminierungsverband hat „amira“ nun auch das Recht, Verbandsklagen in Fällen von struktureller Diskriminierung zu führen, also unabhängig vom Einzelfall. Denn der Schutz vor Diskriminierung darf nicht den Betroffenen überlassen werden. Er ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die von allen Institutionen getragen und unterstützt werden muss. Das Recht zu Verbandsklagen hatte zuvor bereits in Bereichen wie Umwelt- oder Verbraucherschutz zur konsequenteren Einhaltung von Gesetzen geführt.
Vision: Wohnbevölkerung gleich Wahlbevölkerung
Marktgemeinde Lam, 2025. An einem Sonntag im Herbst steht Franz-Josef Buchbichl vor einer zum Wahllokal umfunktionierten Schule in der Oberpfalz. Als er seine Kegelfreund*innen Luise und Wolfgang trifft, lächelt er stolz. Während die Bundestagswahlen für die anderen beiden Routine sind, haben sie für ihn, unabhängig von ihrem Ausgang, auf jeden Fall historische Bedeutung: Sie sind sein „erstes Mal“. Obwohl er seit über 30 Jahren in Bayern lebt und arbeitet, durfte der gebürtige Österreicher bislang nie über kommunale Geschicke hinaus mitbestimmen. Doch nun darf er tatsächlich für die Kandidat*innen seiner Wahl seine Kreuzchen machen. Die noch amtierende Bundesregierung hat 2024 das Wahlrecht geändert. Deutschland ist seitdem nach Chile, Uruguay, Malawi und Neuseeland der fünfte der aktuell 193 anerkannten Staaten der Welt, die ihren ausländischen Mitbürger*innen die politische Mitbestimmung auf nationaler Ebene ermöglichen. Hier gilt nun: Wer seit fünf Jahren in Deutschland lebt, arbeitet und Steuern zahlt, darf mitentscheiden.
Buchbichl lässt sich Zeit. „Endlich fühle ich mich hier wirklich angekommen“, kommentiert er die Gesetzesänderung, die eine lange Vorgeschichte hat. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1990 setzte für das Wahlrecht die Eigenschaft als Deutsche*r voraus. Befürworter*innen eines erweiterten Wahlrechts argumentierten mit Artikel 20 des Grundgesetzes dagegen, der die Wahlen für das Bundesparlament regelt: „Das Volk wählt“ ist dort zu lesen, nicht „Das deutsche Volk wählt“. Sie gewannen die Grundsatzdiskussion und ebneten so den Weg für fast zehn Millionen mehr Wahlberechtigte in Deutschland.
Vision: Keine Organisationsentwicklung ohne Diversität
Berlin, 2025. Bei einem großen Wohlfahrtsverband finden diese Woche viele Vorstellungsgespräche statt. Neue Stellen für Sozialarbeiter*innen und Projektreferent*innen, Abteilungsleiter*innen und Standortleitungen sind ausgeschrieben. Die Personalchefin schaut sich gemeinsam mit ihrem Assistenten ihren Terminkalender an. Um neun Uhr kommt Yildiz Sahin, es folgen Tarik Noor und um zwölf Uhr Sade Ayo. Nach dem Mittagessen ist Dan Nguyhen dran, weiter geht es mit Aleksej Bojogevic. Die beiden Personaler*innen sprechen darüber, wie die Namen richtig ausgesprochen werden. Die Vorstandsvorsitzende hatte angeordnet, insbesondere bei der Auswahl neuer Mitarbeiter*innen für die mittlere und die Führungsebene auf Diversität zu achten. Das spiegelt sich auch in den Formulierungen der Stellenanzeigen wider. Der Anteil der Berliner*innen mit Einwanderungsgeschichte beträgt rund 35 Prozent. Wer es als Organisation nicht schafft, die Belegschaft diverser aufzustellen, riskiert, öffentliche Förderungen zu verlieren – wie in diesem Fall durch das Familienministerium.
So steht es im 2023 verabschiedeten Gleichstellungs- und Partizipationsgesetz. Es schreibt eine diversitätsorientierte und diskriminierungskritische Entwicklung von Organisationen wie Behörden und Verwaltungen vor. Weiterhin legt es verpflichtende Quoten für Menschen mit Migrationshintergrund und/oder Rassismuserfahrung fest. So soll langfristig dafür gesorgt werden, dass in allen Organisationen, auch in den Spitzenpositionen, sämtliche Gruppen so vertreten sind, wie es ihrem Anteil in der Bevölkerung entspricht. Der erste Gesetzesvorstoß des seit 2022 bestehenden neuen Ministeriums für die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft sieht in diesem Zug außerdem vor, dass öffentliche Fördermittel an Diversity-Kriterien gebunden sind und dementsprechend vergeben werden.
Vision: Doppelstaatlichkeit als Ausdruck von Teilhabe
Duisburg, 2025. „Ich bin aufs Amt gegangen und hatte das Gefühl, dass die mich wirklich wollten“, grinst Emine Sekerci und winkt mit ihrem neuen deutschen Pass. Dann hält sie verschmitzt inne und holt einen türkischen Reisepass aus der Tasche. „Ich freue mich sehr über die Einbürgerung“, sagt sie, „aber den hier hätte ich nicht abgegeben. Ich bin froh, dass ich jetzt beide haben kann. Das passt zu mir. Ich bin Türkin und Deutsche!“ Emine Sekerci ist 1963 nach Frankenthal gezogen und hat ihr gesamtes Berufsleben bei einem großen Chemiekonzern in Rheinland-Pfalz gearbeitet. Die deutsche Staatsbürgerschaft hätte sie bis vor Kurzem nur erhalten können, wenn sie ihre türkische abgegeben hätte. Für viele Menschen, die wie Sekerci ihr halbes Leben in ihrem Geburtsland verbracht haben, bevor sie nach Deutschland kamen, kaum denkbar.
Seit 2022 müssen sie sich nicht mehr entscheiden: Anlässlich des 60. Jubiläums der Anwerbung türkischer Gastarbeiter*innen nach Deutschland hat die Bundesregierung die Doppelstaatlichkeit ermöglicht. Eine Maßnahme, um sich bei den Menschen, die anreisten, um das deutsche Wirtschaftswunder zu beflügeln, für ihre Leistungen zu bedanken. Sukzessive soll Menschen, die ihr Arbeitsleben in Deutschland verbringen oder verbracht haben, ermöglicht werden, sich einzubürgern – ohne die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes aufgeben zu müssen. Spätestens mit der Verschärfung des Einbürgerungsrechts im Jahr 2019 hatten viele migrantische Initiativen zunächst den Eindruck, dass Einbürgerung in Deutschland eher verhindert als angestrebt werden sollte. Das ist nun revidiert.
Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO)
Die von der Stiftung Mercator geförderte Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen ist ein integrationspolitisches Diskussionsforum, in dem Migrant*innenverbände in Deutschland selbstbestimmt und mit eigener Agenda zusammenkommen und sich vernetzen.
bundeskonferenz-mo.de