Gekommen, um zu bleiben
Wer die eigene Heimat verlässt, will anderswo ankommen. Nicht nur in einem Land, sondern ganz konkret in einer Stadt, einem Viertel, einer Wohnung. Wo Geflüchtete sich niederlassen, ist nicht immer reiner Zufall. Sogenannte Ankunftsquartiere bieten für viele eine erste Anlaufstelle – oder sogar eine dauerhafte neue Heimat. Wie lebt es sich in so einem Quartier, und was macht es aus?
Abdul Majid Saidi schiebt den Kinderwagen, seine Frau Khadije Akbari trägt das gemeinsame Baby auf dem Arm. „Das machen wir immer so“, sagt Majid und lacht. „Denn im Buggy beginnt unsere Tochter zu weinen.“ Das junge Paar, er 27, sie 21 Jahre alt, ist auf dem Weg zum Spielplatz. Sie laufen durch Altendorf, einen quirligen Stadtteil inmitten von Essen. Über die dicht befahrene Hauptverkehrsstraße quietschen Straßenbahnen, und im regnerischen Grau des Frühlingstages werden die Schilder von Gemüsehändler*innen und Dönerläden zu bunten Farbtupfern.
Ankommen ist kein Zufall
Altendorf gilt als ein sogenanntes Ankunftsquartier – ein Stadtteil, in dem Menschen aus anderen Ländern und Kulturen zumindest vorübergehend ein neues Zuhause finden. Majid und Khadije stammen aus Afghanistan. „In Afghanistan herrscht schon lange Krieg“, sagt Khadije, die wie ihr Mann fast akzentfrei Deutsch spricht. „2012 sind meine Eltern deshalb mit meinen Geschwistern und mir nach Deutschland geflohen. Wir kamen nach Frankfurt, dort habe ich auch die Schule besucht.“ Majid erreichte Deutschland ungefähr zur gleichen Zeit. Er war allein und landete zunächst im Saarland. Schließlich folgte er einem Freund, der für ihn zur Familie in der Fremde geworden war, nach Essen-Altendorf. Das Paar lernte sich über das Internet kennen. „Nach den ersten Treffen stand für mich fest, dass ich zu Majid nach Altendorf ziehen möchte“, erinnert sich Khadije. „Ich mag es hier. Die Supermärkte, die Spielplätze, die Innenstadt – alles ist in der Nähe. In Frankfurt musste ich immer mit der Straßenbahn fahren, sogar zum Einkaufen.“
Es gibt ganz unterschiedliche Typen von Ankunftsquartieren, stellt Heike Hanhörster heraus, die am Institut für Landes- und Stadtentwicklung (ILS) die Entwicklung von Städten im Zuge von Zuwanderung erforscht. Da sind innerstädtische Quartiere wie Altendorf in größeren Metropolen oder solche, die sich an der Peripherie ansiedeln, etwa in London. Gleichzeitig können sich ländliche Regionen durch Arbeitsplätze etwa in der fleischverarbeitenden Industrie oder durch Erstaufnahmeeinrichtungen zu Quartieren der temporären oder längerfristigen Ankunft entwickeln. „Aber egal, wo man seine Recherche zu Ankunftsquartieren räumlich startet: Man wird in der Beschäftigung mit ihnen immer besser verstehen können, wie Menschen ihren Weg in einer Stadt finden“, so die Wissenschaftlerin. „Und woran es liegt, dass sie entweder in dem einen oder dem anderen Quartier landen.“ Als gemeinsames Merkmal stellt Hanhörster die Zugänglichkeit des Wohnungsmarktes heraus: „Klar: Wohnungen müssen verfügbar und bezahlbar sein, damit Menschen im Viertel neu Fuß fassen können“, erklärt die promovierte Raumplanerin.
Der Wohnungsmarkt gestaltet die Viertel
In der ruhigen Seitenstraße, in der Majid und Khadije zu Hause sind, erzählen einige Häuser von der Nachkriegszeit, andere mit ihren steinernen Schnörkeln von der Wende zum 20. Jahrhundert. Alle Gebäude überzieht als Erinnerung an das Erbe des Steinkohlebergbaus vergangener Tage ein grauer Schleier. Die Wohnung haben die jungen Eltern über eine Wohnungsbaugenossenschaft gefunden, und für etwa 60 Quadratmeter zahlen sie monatlich ungefähr 350 Euro kalt. Im Essener Süden müssten sie für eine vergleichbare Unterkunft mindestens 550 Euro aufbringen und zudem mit zahlreichen Mitbewerber*innen konkurrieren – wobei ihr Name möglicherweise für Benachteiligung gesorgt hätte. Laut einer repräsentativen Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes machten rund 15 Prozent aller Befragten, die in den vergangenen zehn Jahren auf Wohnungssuche waren, die Erfahrung, aus rassistischen Gründen und wegen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder der Herkunft aus einem anderen Land benachteiligt zu werden. „Wo Wohnungsunternehmen gezielt Viertel gestalten, indem sie in gediegenen Quartieren wenig an Menschen mit internationalem Hintergrund vermieten, in diversen Stadtteilen hingegen schon, bilden sich Ankunftsquartiere“, fasst Heike Hanhörster zusammen.
Ankunftsquartiere prägen außerdem bestimmte Infrastrukturen. Es gibt zahlreiche offizielle Einrichtungen wie Beratungsstellen, Übersetzungsbüros, Vereine und religiöse Stätten. Majid und Khadije wenden sich häufig an ein Stadtteilbüro des Diakoniewerks Essen. Die Mitarbeiter*innen beraten Menschen, die frisch angekommen sind, oder auch solche, die bereits länger in Deutschland leben und Unterstützung beim Asylverfahren benötigen. Typische Hilfestellungen seien die Suche nach einer Kita, einer Schule oder möglicherweise sogar Anleitung bei der Rückkehr in die Heimat. „Wenn ich beim Sozialamt angerufen habe, hing ich oft sehr lange in der Warteschleife und hatte keinen Erfolg“, sagt Majid. „Ganz anders war es, wenn Frau Simic vom Diakoniewerk sich gekümmert hat. Bei ihr ging es immer ganz schnell. Ich weiß nicht, ob sie eine Zaubertelefonleitung hat, aber sie konnte uns immer helfen, und wir sind ihr wirklich sehr dankbar.“
Wo Wissen gehandelt wird
Neben den offiziellen Anlaufstellen existieren informelle Strukturen als Möglichkeit des Austausches. In Altendorf kleben an den Schaufenstern mancher Imbissstuben, Kitas oder Schneidereien Zettel mit Informationen. Da werden Sprachkurse angeboten, Speisekarten wurden ins Türkische und Arabische übersetzt, und ein pandemiebedingt geschlossener Secondhandladen bietet Basteltüten für Kinder zum Abholen an. Diese wilden Schwarzen Bretter vermitteln unkompliziert Wissen und versorgen vermutlich insbesondere Neuankömmlinge aus anderen Kulturen mit Informationen und Ideen. Und nicht nur das. Als Khadije und Majid an der Helenenstraße vorbeikommen, dem zentralen Knotenpunkt Altendorfs, bleibt Majid vor einer Trinkhalle stehen, die das Rund der Straßenecke aufnimmt. „Hier hat uns letztens eine Frau angesprochen“, erzählt er, und Khadije nickt. „Ja, ganz spontan, auf Persisch, unserer Muttersprache. Ob wir mit unserer Tochter zu einer Babygruppe kommen wollen, hat sie gefragt. Für uns war das ein guter Zufall, denn wir haben noch keine Gruppe und freuen uns darauf.“
Der Bürgersteig vor einem Kiosk, die Bäckerei oder das Schaufenster eines kleinen Geschäfts: Solche inoffiziellen Orte der Begegnung erschließen ganz zentrale Ressourcen für den Prozess des Ankommens, erklärt Heike Hanhörster. „Denn so trifft man auf Menschen, die über ‚arrival knowledge‘ verfügen, also über ein ankunftsspezifisches Wissen, das gebrokert, gehandelt und ausgetauscht wird.“
Auch der Spielplatz ist eine Stätte der Begegnung. Er liegt ungefähr 15 Minuten von der Wohnung des Pärchens entfernt im Krupp-Park, einem für das dicht bebaute Gebiet überraschend grünen Areal. Sanfte Hügel, auf denen sich einzelne Bäume erheben, wellen sich bis zum Horizont, und ein See, hinter dem ein Förderturm aufragt, leuchtet blau. Früher stand hier eine Gussstahlfabrik der Industriellenfamilie Krupp; nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg hat die Stadt heute an dieser Stelle einen großzügigen Park angelegt. „Wir kommen jeden Tag her, auch wenn es einen Spielplatz gibt, der sich noch näher bei unserer Wohnung befindet“, sagt Khadije. „Aber wir lieben die Natur.“ Sie setzt ihre Tochter vorsichtig auf die Schaukel und gibt ihr abwechselnd mit ihrem Mann Schwung. „Ich jogge außerdem oft durch den Park“, berichtet Majid. Woran er währenddessen denkt? Vielleicht schmiedet er Zukunftspläne. Denn der 27-Jährige, dessen Eltern und Geschwister in Teheran leben, möchte gerne einen Supermarkt für iranische und afghanische Produkte in Altendorf eröffnen. „Viele Menschen aus Afghanistan oder aus dem Iran vermissen Lebensmittel aus ihrer Heimat. Wir auch. So kam ich auf die Idee, und ich hoffe, es klappt“, sagt er. Sein Erfolg spräche laut Heike Hanhörster für Altendorf als Ankunftsquartier. „Denn ein funktionierendes Ankunftsquartier sollte seinen Bewohner*innen die Möglichkeit eröffnen, im Verlauf ihrer Wohnbiografie das Ankunftsgebiet zu verlassen.“
Majid und Khadije finden in Essen-Altendorf eine neue Heimat. Für andere bleibt der drei Haltestellen vom Shoppingtempel Berliner Platz und dem Universitätsviertel entfernte Stadtteil ein Ort, an dem man „das Auto abends von innen verriegelt“ – aus Angst, an einer roten Ampel überfallen zu werden. Tatsächlich stufte das Innenministerium die Gegend rund um die Altendorfer Straße 2017 als einen der gefährlichsten Orte in NRW ein. Drogenhandel und Massenschlägereien bringen das Viertel immer wieder in die Schlagzeilen der Lokalpresse. Doch es gibt auch andere Seiten, und die wissen Khadije und Majid zu schätzen. Die beiden haben ihre kleine Tochter Tina genannt. „Tina ist ein internationaler Name“, sagt Khadije. „Es gibt ihn im Persischen, im Deutschen, im Spanischen und im Englischen. Ich möchte, dass meine Tochter mit diesem Namen so aufwächst, dass sie alle Chancen im Leben hat. Sie soll damit alles werden können, was sie möchte.“
Migration und Integration in Stadt und Quartier
Die Stiftung Mercator fördert das Projekt „Ankunftsquartiere: Charakteristika und Funktion für die Integration Zugewanderter und den sozialen Zusammenhalt von Stadtgesellschaften“ am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung. Analysiert wird, welche integrationsfördernden Strukturen Ankunftsquartiere bereithalten und welche Herausforderungen sich hier stellen.
www.ils-forschung.de/forschung/migration-und-integration-in-stadt-und-quartier/