Flucht in die Selbstständigkeit?
Sasan Jasemi und Ahmad Daoud haben es gewagt: Sie haben sich selbstständig gemacht. Diesen Wunsch hegen Geflüchtete oft. Denn für viele von ihnen ist es schwierig, einen Job zu finden, der sie ausfüllt. Häufig sind sie unterbeschäftigt und nehmen befristete Helfer*innentätigkeiten an. In einem Forschungsprojekt wird nun untersucht, ob die Gründung eines Unternehmens Geflüchteten womöglich einen neuen Weg und eine erfolgreiche Integration in den deutschen Arbeitsmarkt eröffnen kann.
Sasan Jasemi, 36, stammt aus dem Iran. Dort hat er Informatik studiert und neun Jahre als IT-Mann bei einer Ölfirma gearbeitet. 2015 ist er nach Deutschland gekommen. „Erst musste ich die Sprache lernen“, erzählt der junge Mann am Telefon. Dann fing er an, im Eiscafé eines Freundes zu jobben, später arbeitete er als Florist. Drei Jahre lang war er angestellt beschäftigt, eine Ausbildung konnte er nicht absolvieren. „Ich habe mir vieles über Bücher angeeignet“, meint er. Denn allmählich reifte die Idee: Warum nicht lieber selber gründen? Einen kleinen Blumenladen hatte er schon in seiner Heimat gemeinsam mit einem Freund betrieben. Zwei Motive gaben den Ausschlag: Die Beschäftigung mit IT habe ihm keinen besonderen Spaß gemacht. Und: „Ich hätte hier noch mal neu studieren müssen.“ Seine Abschlüsse werden in Europa nicht anerkannt, weshalb er hier de facto trotz Studium als Geringqualifizierter gilt.
Kaum Daten über Geflüchtete als Gründer*innen
Christoph Sajons leitet den Forschungsbereich „Arbeitsmarkt und Selbstständigkeit“ am Institut für Mittelstandsforschung (ifm) der Universität Mannheim. Gemeinsam mit seinem Team möchte er in einem zweijährigen Forschungsvorhaben die Frage beantworten, in welchem Maße die unternehmerische Selbstständigkeit zu einer erfolgreichen und nachhaltigen Integration von Geflüchteten in den deutschen Arbeitsmarkt beitragen kann. Der Arbeitstitel umreißt das Problem: „Fachkräfte der Zukunft oder langfristig marginalisiert? Möglichkeiten der Integration von geringfügig qualifizierten Geflüchteten“. Die bisherige Faktenlage ist dünn. Offizielle Stellen und auch die Handelskammern seien bis dato noch gar nicht auf diesen Personenkreis ausgerichtet, so der Volkswirtschaftler. In den Arbeitsagenturen werde oft von einer Gründung abgeraten oder die Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen. Dabei verfügten 40 bis 50 Prozent der Geflüchteten laut Sajons über konkrete selbstständige Erfahrung in ihrem jeweiligen Herkunftsland. Das Interesse, unternehmerisch aktiv zu werden, ist folglich in vielen Fällen gegeben. Eine erste große Hürde stellt der Aufenthaltstitel dar: ohne Titel keine Gründung.
Ein eigenes Blumenreich
Eigenverantwortlich zu arbeiten, sein eigener Chef zu sein – das ist auch Sasan Jasemis Antrieb. Er gesteht überdies, unterschwellig ständig in Sorge vor einer Kündigung gelebt zu haben und in der Angst, sein Chef könnte jemanden finden, der besser Deutsch spricht. „Es war kein sicherer Platz für mich.“ Ein Jahr hat der Iraner nach einer Location gesucht, bis er per Zufall fündig wurde. In guter Lage hat er einen kleinen Laden aufgemacht, der vorher zehn Jahre leer gestanden hatte und von den örtlichen Zeitungen deshalb als „Schandfleck“ bezeichnet worden war. Am 11. November 2020, während der weltweiten Pandemie, wagte er den Schritt und eröffnete sein „Blumen Imperium“ in Köln-Sülz.
„Das migrantische Unternehmertum ist ein veritabler Wirtschaftsfaktor“, betont Martin Kaufmann. Er ist Leiter des Projekts ActNow im Rahmen des Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ und vermittelt Migrant*innen und Geflüchteten unternehmerische Kenntnisse und Kompetenzen. „Mit Sasan haben wir einen Crashkurs durchgezogen“, erinnert er sich, denn dieser sei kurz vor knapp zu ihnen gekommen. „Einfach machen“ sei die Devise, nach der die meisten Geflüchteten vorgingen. Und damit hat Kaufmann – ganz ohne Wertung – auch einen faktischen Mentalitätsunterschied ausgemacht: „Das ist ein Gegenmodell zu typischen deutschen Existenzgründer*innen, die sich eher ein Übermaß an Informationen aneignen, bevor sie zur Tat schreiten.“
Bei Sasan Jasemi sehe es trotz der beschwerlichen Corona-Zeiten Erfolg versprechend aus. Was für ihn spricht: der Standort seines Ladens, außerdem sein unternehmerisches Konzept. Im „Blumen Imperium“ blühen nicht Rosen, Tulpen und Nelken, sondern Palmenblätter und Pampasgras. Jasemis Lieblingsblume, die Königsprotea, sorgt für orientalischen Flair. Damit besetzt er eine Nische. Zudem ist der 36-jährige Autodidakt auch im Marketing erfolgreich: Sein Onlineshop und besonders der Instagram-Account dazu haben die lokalen Medien aufmerksam gemacht.
Der viele Papierkram hemmt
Eine Schlüsselrolle für eine gelungene Existenzgründung, da ist sich der Arbeitsökonom Sajons sicher, spielten Gründungsberatungen von freien Trägern wie Migrafrica, die ActNow ins Leben gerufen haben. Für Sasan Jasemi war so eine kompetente Begleitung immens wichtig. „Bis heute muss ich nachfragen und verstehe noch nicht, warum plötzlich eine Mahnung kommt“, erzählt er. Formulare ausfüllen, der überbordende Papierkram, die Bürokratie – ein Buch mit sieben Siegeln und ein großes Hemmnis.
Das Mannheimer Forschungsprojekt betritt mit seinem Konzept Neuland. Zum einen untersucht das Team von Christoph Sajons erstmals zwei spezielle Zielgruppen von Geflüchteten: Da sind zunächst die formal Qualifizierten, die wie Sasan Jasemi womöglich sogar akademische Abschlüsse vorweisen können, für die es in der EU jedoch keine analoge Anerkennung gibt. Die zweite Gruppe umfasst Personen ohne formalen Abschluss, aber mit „relevanter Berufserfahrung von mehr als fünf Jahren im Herkunftsland“. Das kann ein*e Schuster*in sein, ein*e Schneider*in, ein*e Friseur*in, aber auch ein*e Handwerker*in oder ein*e Gastronom*in. Diese Gruppe verfüge über jede Menge informeller Kompetenzen. „In beiden Fällen“, so Arbeitsmarktforscher Sajons, „könnte eine selbstständige Tätigkeit dazu beitragen, dass die vorhandenen Fähigkeiten auch in Deutschland angemessen eingesetzt werden können.“
Ebenso neu ist die Idee der Forscher*innen, „das Ganze vom Ende her zu betrachten“. Sie wollen herausfinden, wie Arbeitgeber*innen bei Bewerber*innen eine phasenweise selbstständige unternehmerische Tätigkeit bewerten, wenn diese de facto gescheitert ist. „Das mag wie eine Marginalie klingen“, sagt Christoph Sajons, „aber jede Unternehmensgründung ist auch ein Risiko. So kann es leicht sein, dass Gründer*innen sich über kurz oder lang wieder um einen regulären Job bewerben müssen und dabei ihre Selbstständigkeit eine Rolle spielt.“ So könnten Personaler*innen den Mut, die Kreativität, das Engagement wertschätzen oder die Betonung aufs Scheitern und Versagen legen. „Was wir an dieser Stelle herausfinden, könnte also sehr wichtig sein für die Diskussion darüber, ob es Sinn macht, die Selbstständigkeit als Weg für Geflüchtete in den Arbeitsmarkt zu fördern.“
Mit Herz und Talent zum eigenen Restaurant
Ans Ende möchte Ahmad Daoud noch nicht denken, obwohl der 43-Jährige im Moment ziemlich frustriert ist: „Wenn ich weiter Schulden mache, muss ich aufgeben.“ Seit fünf Jahren und sieben Monaten ist der Syrer in Deutschland. „Es geht mir nicht gut“, klagt der vierfache Vater und klingt dabei sehr traurig. Alle objektiven Hindernisse hat er gemeistert: „Syrien und Deutschland sind im Grunde komplett unterschiedlich“ – Sprache, Gesetze, Regeln. Viele Freund*innen, auch deutsche Freund*innen, haben ihn dabei unterstützt, seiner Leidenschaft nachzugehen. Er ist Koch, seit 22 Jahren schon, und hatte im Libanon lange ein kleines Restaurant. Ahmad Daoud gehört für die Forscher*innen in die Zielgruppe mit den informellen Kompetenzen. Herz und Talent kann man ihm nicht absprechen: „Wenn ich meine Gäste über ihrem Teller lächeln sehe, macht mich das glücklich.“ Deshalb sei für ihn immer klar gewesen, dass er wieder ein Restaurant eröffnen wolle. „Ich kann auch nichts anderes.“
In Wuppertal hat er lange gesucht und schließlich den Tipp bekommen, dass die Vereinsgaststätte am Freibad eine*n neue*n Pächter*in suche. Am 1. März 2019 feierte sein Lokal mit allein 150 Plätzen auf der großen Terrasse Eröffnung. Der Sommer 2019 war schön, alles ließ sich gut an. Doch dann kam Corona, die Gastronomie musste geschlossen werden, Hochzeiten wurden abgesagt, Jazzabende verschoben, Tanzveranstaltungen ebenfalls. Ideen hat Ahmad Daoud viele. Seit Ende Dezember betreibt er notgedrungen einen Lieferservice. Dagegen hat er sich zu Beginn der Pandemie noch gesträubt: „Ich bin kein Plastik-Fan“, sagt er. Essen zu liefern verursache viel Müll. Nach langer Recherche hat er in wiederverwendbare Glasbehälter investiert. „Das war teuer, aber das ist es mir wert.“ Seine nächste Idee: beim Ausliefern nur noch E-Mobile zu verwenden. „Dann bin ich nachhaltig und klimaneutral.“ Die finanziellen Mittel will er über Crowdfunding eintreiben. Bisher haben ihm Freund*innen und Unterstützer*innen Geld vorgestreckt, denn er muss eine Vollzeitkraft und zwei Minijobber*innen bezahlen. Einen Bankkredit hat er nicht bekommen. „Das Kapital ist sicherlich eine große Hürde“, meint auch Forschungsleiter Christoph Sajons. Ahmad Daoud und Sasan Jasemi investieren aber noch viel mehr als Geld. Beide meistern 12- bis 13-Stunden-Tage, um ihren Traum vom selbstbestimmten Job leben zu können.
Fachkräfte der Zukunft oder langfristig marginalisiert? Möglichkeiten der Integration von geringfügig qualifizierten Geflüchteten
In dem von der Stiftung Mercator geförderten Forschungsprojekt „Fachkräfte der Zukunft oder langfristig marginalisiert?“ untersuchen Wissenschaftler*innen des Forschungsbereichs „Arbeitsmarkt und Selbstständigkeit“ des Instituts für Mittelstandsforschung (ifm) der Universität Mannheim neben dem Thema „Selbstständigkeit von Geflüchteten“ auch gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Arbeitsmarktökonomik der Universität Würzburg, den Bereich „Ausbildung von Geflüchteten“.
http://www.institut-fuer-mittelstandsforschung.de