Flucht in die Selbst­ständigkeit?

Flucht in die Selbst­ständigkeit?
Autorin: Cornelia Heim Fotos: Joosep Martinson 03.08.2021

Sasan Jasemi und Ahmad Daoud haben es gewagt: Sie haben sich selbst­ständig gemacht. Diesen Wunsch hegen Geflüchtete oft. Denn für viele von ihnen ist es schwierig, einen Job zu finden, der sie ausfüllt. Häufig sind sie unter­beschäftigt und nehmen befristete Helfer*innen­tätig­keiten an. In einem Forschungs­projekt wird nun unter­sucht, ob die Gründung eines Unternehmens Geflüchteten womöglich einen neuen Weg und eine erfolg­reiche Integration in den deutschen Arbeits­markt eröffnen kann.

Sasan Jasemi, 36, stammt aus dem Iran. Dort hat er Informatik studiert und neun Jahre als IT-Mann bei einer Ölfirma gearbeitet. 2015 ist er nach Deutschland gekommen. „Erst musste ich die Sprache lernen“, erzählt der junge Mann am Telefon. Dann fing er an, im Eiscafé eines Freundes zu jobben, später arbeitete er als Florist. Drei Jahre lang war er angestellt beschäftigt, eine Ausbildung konnte er nicht absolvieren. „Ich habe mir vieles über Bücher angeeignet“, meint er. Denn allmählich reifte die Idee: Warum nicht lieber selber gründen? Einen kleinen Blumen­laden hatte er schon in seiner Heimat gemeinsam mit einem Freund betrieben. Zwei Motive gaben den Ausschlag: Die Beschäftigung mit IT habe ihm keinen besonderen Spaß gemacht. Und: „Ich hätte hier noch mal neu studieren müssen.“ Seine Abschlüsse werden in Europa nicht anerkannt, weshalb er hier de facto trotz Studium als Gering­qualifizierter gilt.

Kaum Daten über Geflüchtete als Gründer*innen

Christoph Sajons leitet den Forschungsbereich „Arbeits­markt und Selbst­ständigkeit“ am Institut für Mittel­stands­forschung (ifm) der Universität Mannheim. Gemeinsam mit seinem Team möchte er in einem zwei­jährigen Forschungs­vorhaben die Frage beantworten, in welchem Maße die unter­nehmerische Selbst­ständigkeit zu einer erfolg­reichen und nac­hhaltigen Integration von Geflüchteten in den deutschen Arbeits­markt beitragen kann. Der Arbeits­titel umreißt das Problem: „Fachkräfte der Zukunft oder lang­fristig marginalisiert? Möglichkeiten der Integration von gering­fügig qualifizierten Geflüchteten“. Die bisherige Fakten­lage ist dünn. Offizielle Stellen und auch die Handels­kammern seien bis dato noch gar nicht auf diesen Personen­kreis aus­gerichtet, so der Volks­wirtschaftler. In den Arbeits­agenturen werde oft von einer Gründung abgeraten oder die Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen. Dabei verfügten 40 bis 50 Prozent der Geflüchteten laut Sajons über konkrete selbst­ständige Erfahrung in ihrem jeweiligen Herkunfts­land. Das Interesse, unter­nehmerisch aktiv zu werden, ist folglich in vielen Fällen gegeben. Eine erste große Hürde stellt der Aufenthalts­titel dar: ohne Titel keine Gründung.

Christoph Sajons
Christoph Sajons und sein Team untersuchen, wie sich unternehmerische Selbstständigkeit von Geflüchteten auf die Integration in den Arbeitsmarkt auswirkt. © Julia Wolfinger

Ein eigenes Blumenreich

Eigenverantwortlich zu arbeiten, sein eigener Chef zu sein – das ist auch Sasan Jasemis Antrieb. Er gesteht überdies, unter­schwellig ständig in Sorge vor einer Kündigung gelebt zu haben und in der Angst, sein Chef könnte jemanden finden, der besser Deutsch spricht. „Es war kein sicherer Platz für mich.“ Ein Jahr hat der Iraner nach einer Location gesucht, bis er per Zufall fündig wurde. In guter Lage hat er einen kleinen Laden aufgemacht, der vorher zehn Jahre leer gestanden hatte und von den örtlichen Zeitungen deshalb als „Schand­fleck“ bezeichnet worden war. Am 11. November 2020, während der weltweiten Pandemie, wagte er den Schritt und eröffnete sein „Blumen Imperium“ in Köln-Sülz.

Sasan Jasemis
Sasan Jasemi lebte mit der Angst vor einer Kündigung - einer der Gründe für seine Selbstständigkeit. © Joosep Martinson
Sasan Jasemis
Sein "Blumen Imperium" läuft - die Lage, seine Spezialisierung auf besondere Blumen und die Werbung auf Instagram helfen. © Joosep Martinson

„Das migrantische Unternehmertum ist ein veritabler Wirtschafts­faktor“, betont Martin Kaufmann. Er ist Leiter des Projekts ActNow im Rahmen des Förder­programms „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ und vermittelt Migrant*innen und Geflüchteten unter­nehmerische Kenntnisse und Kompetenzen. „Mit Sasan haben wir einen Crashkurs durch­gezogen“, erinnert er sich, denn dieser sei kurz vor knapp zu ihnen gekommen. „Einfach machen“ sei die Devise, nach der die meisten Geflüchteten vorgingen. Und damit hat Kaufmann – ganz ohne Wertung – auch einen faktischen Mentalitäts­unterschied ausgemacht: „Das ist ein Gegen­modell zu typischen deutschen Existenz­gründer*innen, die sich eher ein Übermaß an Informationen aneignen, bevor sie zur Tat schreiten.“

Bei Sasan Jasemi sehe es trotz der beschwerlichen Corona-Zeiten Erfolg versprechend aus. Was für ihn spricht: der Standort seines Ladens, außerdem sein unter­nehmerisches Konzept. Im „Blumen Imperium“ blühen nicht Rosen, Tulpen und Nelken, sondern Palmenblätter und Pampasgras. Jasemis Lieblings­blume, die Königs­protea, sorgt für orientalischen Flair. Damit besetzt er eine Nische. Zudem ist der 36-jährige Auto­didakt auch im Marketing erfolg­reich: Sein Onlineshop und besonders der Instagram-Account dazu haben die lokalen Medien aufmerksam gemacht.

Trotz der vielen Bürokratie ließ sich Sasan Jasemi nicht vom Gründen abhalten. © Joosep Martinson
Ahmad Daoud arbeitet seit 22 Jahren als Koch - seine große Leidenschaft. © Joosep Martinson

Der viele Papierkram hemmt

Eine Schlüsselrolle für eine gelungene Existenz­gründung, da ist sich der Arbeits­ökonom Sajons sicher, spielten Gründungs­beratungen von freien Trägern wie Migrafrica, die ActNow ins Leben gerufen haben. Für Sasan Jasemi war so eine kompetente Begleitung immens wichtig. „Bis heute muss ich nach­fragen und verstehe noch nicht, warum plötzlich eine Mahnung kommt“, erzählt er. Formulare ausfüllen, der über­bordende Papierkram, die Bürokratie – ein Buch mit sieben Siegeln und ein großes Hemmnis.

Das Mannheimer Forschungsprojekt betritt mit seinem Konzept Neuland. Zum einen untersucht das Team von Christoph Sajons erstmals zwei spezielle Ziel­gruppen von Geflüchteten: Da sind zunächst die formal Qualifizierten, die wie Sasan Jasemi womöglich sogar akademische Abschlüsse vorweisen können, für die es in der EU jedoch keine analoge Anerkennung gibt. Die zweite Gruppe umfasst Personen ohne formalen Abschluss, aber mit „relevanter Berufs­erfahrung von mehr als fünf Jahren im Herkunfts­land“. Das kann ein*e Schuster*in sein, ein*e Schneider*in, ein*e Friseur*in, aber auch ein*e Handwerker*in oder ein*e Gastronom*in. Diese Gruppe verfüge über jede Menge informeller Kompetenzen. „In beiden Fällen“, so Arbeits­markt­forscher Sajons, „könnte eine selbst­ständige Tätigkeit dazu beitragen, dass die vorhandenen Fähigkeiten auch in Deutschland angemessen eingesetzt werden können.“

Ebenso neu ist die Idee der Forscher*innen, „das Ganze vom Ende her zu betrachten“. Sie wollen heraus­finden, wie Arbeit­geber*innen bei Bewerber*innen eine phasen­weise selbst­ständige unternehmerische Tätigkeit bewerten, wenn diese de facto gescheitert ist. „Das mag wie eine Marginalie klingen“, sagt Christoph Sajons, „aber jede Unternehmens­gründung ist auch ein Risiko. So kann es leicht sein, dass Gründer*innen sich über kurz oder lang wieder um einen regulären Job bewerben müssen und dabei ihre Selbstständigkeit eine Rolle spielt.“ So könnten Personaler*innen den Mut, die Kreativität, das Engagement wertschätzen oder die Betonung aufs Scheitern und Versagen legen. „Was wir an dieser Stelle heraus­finden, könnte also sehr wichtig sein für die Diskussion darüber, ob es Sinn macht, die Selbst­ständigkeit als Weg für Geflüchtete in den Arbeits­markt zu fördern.“

Ahmad Daoud pachtet ein Restaurant in Wuppertal. Nachhaltigkeit ist dem Syrer wichtig, weshalb er sich für sein Lieferkonzept während Corona spezielle Maßnahmen ausgedacht hat. © Joosep Martinson

Mit Herz und Talent zum eigenen Restaurant

Ans Ende möchte Ahmad Daoud noch nicht denken, obwohl der 43-Jährige im Moment ziemlich frustriert ist: „Wenn ich weiter Schulden mache, muss ich aufgeben.“ Seit fünf Jahren und sieben Monaten ist der Syrer in Deutschland. „Es geht mir nicht gut“, klagt der vierfache Vater und klingt dabei sehr traurig. Alle objektiven Hindernisse hat er gemeistert: „Syrien und Deutschland sind im Grunde komplett unter­schiedlich“ – Sprache, Gesetze, Regeln. Viele Freund*innen, auch deutsche Freund*innen, haben ihn dabei unter­stützt, seiner Leidenschaft nach­zu­gehen. Er ist Koch, seit 22 Jahren schon, und hatte im Libanon lange ein kleines Restaurant. Ahmad Daoud gehört für die Forscher*innen in die Zielgruppe mit den informellen Kompetenzen. Herz und Talent kann man ihm nicht absprechen: „Wenn ich meine Gäste über ihrem Teller lächeln sehe, macht mich das glücklich.“ Deshalb sei für ihn immer klar gewesen, dass er wieder ein Restaurant eröffnen wolle. „Ich kann auch nichts anderes.“

In Wuppertal hat er lange gesucht und schließlich den Tipp bekommen, dass die Vereins­gast­stätte am Freibad eine*n neue*n Pächter*in suche. Am 1. März 2019 feierte sein Lokal mit allein 150 Plätzen auf der großen Terrasse Eröffnung. Der Sommer 2019 war schön, alles ließ sich gut an. Doch dann kam Corona, die Gastronomie musste geschlossen werden, Hochzeiten wurden abgesagt, Jazz­abende verschoben, Tanz­veranstaltungen ebenfalls. Ideen hat Ahmad Daoud viele. Seit Ende Dezember betreibt er not­gedrungen einen Liefer­service. Dagegen hat er sich zu Beginn der Pandemie noch gesträubt: „Ich bin kein Plastik-Fan“, sagt er. Essen zu liefern verursache viel Müll. Nach langer Recherche hat er in wieder­verwendbare Glas­behälter investiert. „Das war teuer, aber das ist es mir wert.“ Seine nächste Idee: beim Ausliefern nur noch E-Mobile zu verwenden. „Dann bin ich nach­haltig und klim­aneutral.“ Die finanziellen Mittel will er über Crowd­funding eintreiben. Bisher haben ihm Freund*innen und Unter­stützer*innen Geld vor­gestreckt, denn er muss eine Voll­zeit­kraft und zwei Mini­jobber*innen bezahlen. Einen Bank­kredit hat er nicht bekommen. „Das Kapital ist sicherlich eine große Hürde“, meint auch Forschungs­leiter Christoph Sajons. Ahmad Daoud und Sasan Jasemi investieren aber noch viel mehr als Geld. Beide meistern 12- bis 13-Stunden-Tage, um ihren Traum vom selbst­bestimmten Job leben zu können.

Fachkräfte der Zukunft oder lang­fristig marginalisiert? Möglichkeiten der Integration von gering­fügig qualifizierten Geflüchteten

In dem von der Stiftung Mercator geförderten Forschungs­projekt „Fachkräfte der Zukunft oder lang­fristig marginalisiert?“ unter­suchen Wissenschaftler*innen des Forschungs­bereichs „Arbeits­markt und Selbst­ständigkeit“ des Instituts für Mittel­stands­forschung (ifm) der Universität Mannheim neben dem Thema „Selbst­ständigkeit von Geflüchteten“ auch gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Arbeits­markt­ökonomik der Universität Würzburg, den Bereich „Ausbildung von Geflüchteten“.

http://www.institut-fuer-mittelstandsforschung.de