Aufnahme von Geflüchteten: „Große Diskrepanz zwischen angegebener Bereitschaft und gelebter Realität“
Am 24. Februar 2022 überfielen russische Truppen die Ukraine. Zwei Jahre später sind über eine Million Menschen von dort nach Deutschland geflüchtet. Die Soziologin Nora Storz vom Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) geht in einer Studie der Frage nach, wie die Bevölkerung diese Geflüchteten aufnimmt – und wie sich die Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten aus Syrien oder Nigeria unterscheidet.
Frau Storz, der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine jährt sich zum zweiten Mal. Hat sich die Solidarität der Deutschen mit den ukrainischen Geflüchteten verändert?
Unsere Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Einstellungen der Deutschen geringfügig negativer werden. Vor allem nimmt aber der Prozentsatz der Befragten zu, die ukrainischen Geflüchteten inzwischen eher neutral und nicht mehrheitlich sehr positiv gegenüberstehen. Ein Jahr nach Kriegsbeginn waren zum Beispiel 19 Prozent der Befragten gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine sehr positiv eingestellt, ein halbes Jahr später waren es noch 12 Prozent. Die „neutrale“ Einstellung stieg im selben Zeitraum von 27 auf 35 Prozent.
Wovon hängt die Einstellung gegenüber bestimmten Menschengruppen ab?
Die Befragungen in der deutschen Bevölkerung basieren auf sogenannten Vignetten, also kurzen, fiktiven Beschreibungen von Geflüchteten. Darin variierten das Herkunftsland, die Religionszugehörigkeit, das Geschlecht, der Ausbildungsabschluss und die Bleibeabsichten. Dabei zeigte sich, dass die Hilfsbereitschaft der Befragten besonders groß ist gegenüber ukrainischen weiblichen Geflüchteten mit hohem Bildungsabschluss und christlichem Hintergrund – die überdies so bald wie möglich in ihr Heimatland zurückkehren wollen. Allerdings zeigte sich auch, dass die Unterschiede in der Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Biografien zwar statistisch bedeutend, jedoch nicht sehr groß sind.
Was heißt das: statistisch bedeutend, aber nicht groß?
Das heißt, es gibt einen nachweisbaren Unterschied, der eine entscheidende Rolle spielt. Unsere Studie zeigt, dass ukrainische Geflüchtete mehr Unterstützung erwarten dürfen als Geflüchtete aus Syrien oder Nigeria. 67 Prozent der Befragten würden ukrainische Geflüchtete bei Behördengängen begleiten, bei syrischen oder nigerianischen Geflüchteten sind es 63 Prozent. Aber im Verhältnis zur großen Hilfsbereitschaft finde ich diesen Unterschied, diese vier Prozentpunkte, nicht besonders groß. Dieses Bild zieht sich durch alle Formen der Hilfsbereitschaft – zum Beispiel, wenn es um Sachspenden oder das Anbieten von Wohnraum geht.
Hat Sie diese große Hilfsbereitschaft bei den Befragten überrascht?
Ja, ich hatte so viel Hilfsbereitschaft ehrlich gesagt nicht erwartet. Vor dem Hintergrund steigender Zahlen an Schutzsuchenden, auch aus ferneren Weltregionen, ist das durchaus bedeutsam.
Nora Storz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR). Sie hat Soziologie an der Universität Leipzig studiert sowie Migration, interethnische Beziehungen und Multikulturalismus an der Universität Utrecht.
Haben Sie eine Erklärung für dieses positive Ergebnis?
Ich nehme an, dass das auch etwas mit unserer Art der Datenerhebung zu tun hat. Es gibt Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass einzelne Personen positiver bewertet werden als ganze Gruppen. Für unsere Befragung haben wir Vignetten genutzt, die fiktive Personen beschreiben. Die Befragten sehen also eher Individuen vor sich als eine anonyme Gruppe von Geflüchteten. Es ist nur natürlich, dass sie mehr Mitgefühl und Fürsorge empfinden, als wenn es um eine Gruppe von Personen geht, von denen sie sich keine Vorstellung machen können.
Ihre Ergebnisse zeigen: Drei von vier Befragten würden spenden, zwei Drittel würden Geflüchtete zu Behörden begleiten, knapp ein Drittel würde Geflüchtete sogar zu Hause aufnehmen. Die tatsächlichen Zahlen sind jedoch viel niedriger.
Ja, nur sechs Prozent aller Befragten engagieren sich tatsächlich auf die eine oder andere Art in der Flüchtlingshilfe. Hier gibt es also eine sehr große Diskrepanz zwischen angegebener Bereitschaft und gelebter Realität.
„Solidarität in der Aufnahmegesellschaft: Wahrnehmung Geflüchteter und Determinanten für Engagement und Hilfsbereitschaft“
In der SVR-Studie wird die Sichtweise der Bevölkerung und die Bereitschaft zur Unterstützung Geflüchteter sowie die zugrundeliegenden Motive für Engagement untersucht. Dabei ist von Interesse, inwieweit verschiedene Motivationen zur Freiwilligenarbeit für Geflüchtete (aus der Ukraine) in Zusammenhang stehen. Zum anderen wird untersucht, inwieweit sich die Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine von der Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten aus anderen, kulturell wie geografisch ferneren Gegenden der Welt, z. B. Syrien oder Nigeria, unterscheidet.
Zur Studie
Warum ist das so?
Wer sich freiwillig engagiert, braucht Zeit, einen starken Willen, Informationen und Strukturen vor Ort, die das Engagement erleichtern. Die drei am häufigsten genannten Gründe gegen ein tatsächlich gelebtes Engagement sind: zu wenig Zeit, ein Engagement für andere Zwecke und ein Nichtwissen darum, wie und wo man überhaupt helfen kann. Diese Erklärungen reichen sicher nicht aus, aber sie zeigen mögliche Gründe auf.
Was können Sie tun, um diese Situation zu verbessern?
Wir haben eine Reihe von Ideen entwickelt. Dazu gehören unter anderem Informationskampagnen, die auf bestimmte Gruppen zugeschnitten sind. Zum Thema Zeitmangel: Beim sogenannten Corporate Volunteering handelt es sich um betriebliche Freiwilligenprogramme, bei denen die Mitarbeiter*innen zum Beispiel zwei Arbeitstage im Jahr für freiwilliges Engagement nutzen können. Diese Ideen fließen in den Abschlussbericht unserer Studie ein.
Menschen, die den staatlichen Institutionen vertrauen, also der Bundesregierung, der Justiz, den Stadt- und Gemeindeverwaltungen, zeigen sich solidarischer mit Geflüchteten als jene, die mit den Institutionen hadern.
Können Sie etwas über die Eigenschaften der Befragten und ihre Einstellung gegenüber Geflüchteten sagen?
Ja, wie erwartet zeigte sich, dass die politische Orientierung eine Rolle spielt. Deutlich wurde zum Beispiel, dass eher links eingestellte Personen eher bereit sind, zu helfen. Der Bildungsstand der Befragten spielte wiederum keine große Rolle. Die Ergebnisse zeigen: Ein Bildungsabschluss spiegelt nicht die Bereitschaft wider, ob jemand spenden, Geflüchtete zu Hause aufnehmen oder bei Behördengängen begleiten würde.
Welche Parameter sind besonders wichtig?
Menschen, die den staatlichen Institutionen vertrauen, also der Bundesregierung, der Justiz, den Stadt- und Gemeindeverwaltungen, zeigen sich solidarischer mit Geflüchteten als jene, die mit den Institutionen hadern. Auch die politische Selbstwirksamkeit spielt eine Rolle. Das beschreibt das Gefühl, von der Politik berücksichtigt und mitgenommen zu werden. Leute, die weniger das Gefühl haben, von der Politik beachtet zu werden, sind auch weniger bereit, anderen Menschen zu helfen.
Was folgt aus diesen Ergebnissen?
All das deutet darauf hin, dass eine Politik, die die Bedürfnisse der Bevölkerung beachtet und somit mehr Vertrauen genießt, für die Solidarität vor Ort wichtig zu sein scheint. Ein Appell wäre also, dass Gemeinden und Kreise auf ein gutes Aufnahme- und Integrationsmanagement hinarbeiten. Politik und Verwaltung sollten sich dabei engagieren. Dann trägt die Bevölkerung die Integration von Geflüchteten besser mit.
„Solidarität in der Aufnahmegesellschaft: Wahrnehmung Geflüchteter und Determinanten für Engagement und Hilfsbereitschaft“
Das von der Stiftung Mercator geförderte Forschungsvorhaben untersucht im Auftrag des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) die Wahrnehmung Geflüchteter, insbesondere von solchen aus den EU- und Drittstaaten sowie von Menschen aus der Ukraine. Dabei geht es um die Sichtweise der aufnehmenden Bevölkerung.
www.svr-migration.de/solidaritaet-in-der-aufnahmegesellschaft