Was macht Deutschland als Einwanderungsland aus?

Ankommen im Einwanderungsland Deutschland. Kind und Vater sind in einer Geflüchtenenunterkunft gelandet.
Was macht Deutschland als Einwanderungsland aus?
Autorin: Marion Sendker 05.12.2023

Einerseits will die Ampelkoalition konsequenter abschieben, andererseits möchte sie mehr qualifizierte Fach­kräfte nach Deutschland locken. Der Völker­rechtler Daniel Thym erklärt im Interview, warum die USA in einem ähnlichen Dilemma stecken und weshalb Deutschland ein neues Selbst­bild benötigt, um Einwanderung in Zukunft besser zu steuern.

Die Bundesregierung geht das Thema Migration neu an und hat verschiedene Maßnahmen im Sinn: strengere Grenz­kontrollen, konsequentere Abschiebungen und Abkommen zur Rücknahme mit Dritt­staaten wie Tunesien. Das ist ein Kurs­wechsel. Wurde Migration denn bislang nicht richtig gesteuert?

Ja, wir haben die Steuerung der Migration vernachlässigt, und wir haben ein großes Umsetzungs­problem. Daran werden auch neue Gesetze scheitern. Ob Ausweisung von Menschen, die kriminellen Vereinigungen angehören, Abschiebungs­haft oder Rück­führungen: All diese Maßnahmen setzen Personal­ressourcen voraus, und die Behörden sind hoffnungslos überlastet. Fehlende Digitalisierung ist auch ein Punkt. Wir sind einfach ineffizient. Wird ein Asyl­antrag abgelehnt, klagen die aller­meisten Betroffenen dagegen. Das ist völlig okay. Die Gerichte brauchen im Durch­schnitt aber mehr als 20 Monate, weil sie zu viele Fälle bearbeiten müssen. Nach zwei, drei Jahren erhalten die Personen dann den Ausreise­bescheid. Dass sie diesen dann nicht mehr ganz ernst nimmt, ist ja irgend­wie klar.

Diese Menschen haben in der Regel auch ein Arbeits­verbot. Das soll nun gelockert werden. Kann das helfen – auch weil in Deutschland viele Fach­kräfte fehlen?

Das stimmt so nicht. Ohnehin dürfen alle arbeiten, deren Asyl­antrag erfolgreich ist. Das ist ja der Sinn des Asylrechts: Wer Schutz­bedarf hat, darf bleiben und bekommt alle Rechte. Auch Ausreise­pflichtige können nach einigen Monaten arbeiten, wenn die Behörden das erlauben. In einigen Bundes­ländern geht das unbürokratisch. Die Bundes­regierung will das noch weiter erleichtern. Auch dann müssen wir weiterhin zwischen der Asyl­migration und dem Fach­kräfte­mangel unter­scheiden.

Daniel Thym
© privat

Prof. Dr. Daniel Thym, geboren 1973 in Tübingen, ist deutscher Jurist und lehrt an der Universität Konstanz, wo er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa­recht und Völker­recht innehat. Seine Schwerpunkte sind das deutsche, europäische und inter­nationale Migrations- und Flüchtlings­recht. Als Sach­verständiger berät er den Innen­ausschuss des Deutschen Bundes­tages.

An der University of California in San Diego in den USA setzt Thym als Mercator Senior Fellow die Besonder­heiten der deutschen Einwanderungs­debatte in Beziehung zu Erfahrungen klassischer Einwanderungs­länder wie den USA. Seine Beobachtungen und Schluss­folgerungen plant er, in einem Sachbuch fest­zu­halten, das voraus­sichtlich 2024 erscheint.

Migration ist kein einheitliches Phänomen. Wir wissen aus Studien, dass mehr als 60 Prozent derjenigen, die über das Asylsystem kommen, nicht die Qualifikations­anforderungen erfüllen, um als Fach­kraft zu arbeiten. Das sind also zwei Paar Stiefel. Trotzdem kann es sinnvoll sein, dass Ausreise­pflichtige arbeiten dürfen. Die Politik steckt in einem Dilemma: Viele Ausreise­pflichtige werden erfahrungs­gemäß in Deutschland bleiben. Deshalb ist Integration sinnvoll. Gleich­zeitig ist Arbeit jedoch ein wichtiger Grund, warum Menschen ohne Schutz­bedarf kommen, was die Politik eigentlich nicht will. Aus dem Dilemma gibt es keinen perfekten Ausweg.

Wie ist diese Situation in den USA?

US-Präsident Joe Biden hat im Oktober mehreren Hundert­tausend Venezolaner*innen ein Arbeits­recht gegeben. Das hatte die Stadt New York vehement gefordert, weil die Obdachlosen­unter­künfte hoffnungs­los überlaufen waren. In den USA müssen Asyl­bewerber*innen nämlich für sich selbst sorgen und bekommen meistens keine Unterkunft. In New York war das anders, was ein Grund war, weshalb viele dorthin gingen. Präsident Biden hofft nun, dass die Personen die staatlichen Unterkünfte verlassen, wenn sie arbeiten. Zugleich besteht die große Sorge, dass weitere Venezolaner*innen kommen. Deswegen hat sogar Biden entschieden, die von Donald Trump initiierte Mauer an der Grenze zu Mexiko weiter­zu­bauen. Das ist ein Symbol, dass nicht alle kommen sollen. Die USA sind in demselben Dilemma wie die Bundes­republik. Es existiert keine perfekte Lösung. Mauern sind das garantiert auch nicht.

Wer darf bleiben, wer ist nur geduldet, wer muss zurück in die Heimat? Wegen der Überlastung der Gerichte in Deutschland erhalten manchen Menschen erst nach zwei, drei Jahren nach ihrer Ankunft einen Ausreise­bescheid.
Wer darf bleiben, wer ist nur geduldet, wer muss zurück in die Heimat? Wegen der Überlastung der Gerichte in Deutschland erhalten manchen Menschen erst nach zwei, drei Jahren nach ihrer Ankunft einen Ausreise­bescheid. © picture alliance

Sie forschen gerade in den USA zum Thema Migration. Können wir uns etwas von den USA abschauen?

Das kommt darauf an. Die praktische Politik unterscheidet sich deutlich. Sozial­leistungen gibt es kaum, und an den Grenzen gibt es softe Pushbacks mit extrem kurzen Verfahren. Außerdem sind viele Zehn­tausende inhaftiert. Trotzdem kommen nicht weniger Menschen. Das führt dazu, dass das System weit­gehend dysfunktional ist, dass Teile der Bevölkerung das Gefühl haben, es herrscht ein Kontroll­verlust. In der Folge verroht der öffentliche Diskurs, was radikale Kräfte ausnutzen. Donald Trump warnt vor einer „Invasion“ – und führt in den Umfragen. Wir können also lernen, wie wichtig es ist, dass die Politik das Gefühl vermittelt, die Situation halbwegs zu kontrollieren. Nur dann werden sich auf Dauer nicht diejenigen durch­setzen, die einfache Lösungen und Grenz­schließungen versprechen. Die Lektion ist also, es anders zu machen als die USA. Leicht wird das nicht. Gerade erst gewann Geert Wilders in den Niederlanden mit dem Versprechen eines „Asylstopps“ die Parlaments­wahl.

Insgesamt 3,26 Millionen Menschen waren Ende Juni als Geflüchtete in Deutschland registriert – dabei handelt es sich auch um Kriegsgeflüchtete, Asylsuchende oder Geduldete.
Insgesamt 3,26 Millionen Menschen waren Ende Juni als Geflüchtete in Deutschland registriert – dabei handelt es sich auch um Kriegsgeflüchtete, Asylsuchende oder Geduldete. © unsplash

Der Diskurs hat auch hierzulande radikalere Züge angenommen. Das Narrativ: Wer nach Deutschland kommt, will vor allem von Sozial­leistungen profitieren. Was entgegnen Sie darauf?

Vereinfacht gesagt können wir drei Faktoren unter­scheiden: Zuerst gehen Menschen dahin, wo Verwandte, Bekannte, Lands­leute sind. Dann: der Arbeits­markt. Die Leute wollen wirtschaftlich aktiv sein, Sozial­leistungen sind weniger ihr Ziel. Der dritte Faktor sind die Aufnahme­bedingungen – ein ganz weites Feld. Es geht um das gesellschaftliche Klima, Toleranz und Offenheit, aber auch um Wohnungen, Gesundheit und Geldzahlungen. Sozial­leistungen sind also nur ein Faktor unter vielen anderen.

Empirisch gesehen ist Deutsch­land ein Ein­wanderungs­land, und es ist absolut notwendig, dass wir als Gesellschaft über Migration diskutieren.

Daniel Thym

Die Debatte um Sozialleistungen macht sich vor allem die AfD zunutze. Wie sollen wir als Gesellschaft damit umgehen?

Nur weil die AfD ein Thema nutzt, sollten wir diesem nicht aus dem Weg gehen. Empirisch gesehen ist Deutschland ein Einwanderungs­land, und es ist absolut notwendig, dass wir als Gesellschaft über Migration diskutieren. Einmal müssen wir Menschen mit Migrations­biografie, die schon länger hier leben oder hier geboren wurden, von denjenigen unter­scheiden, die neu einreisen. Nur weil wir vielleicht Probleme haben im Asyl­system oder die Gesellschaft Probleme wahrnimmt, heißt das nicht, dass wir diejenigen, die dauer­haft und legal hier leben, oft auch Deutsche sind, irgendwie ausgrenzen. Das passiert aber andauernd, weil Politik, Gesellschaft und Medien nicht unterscheiden.

Wir sollten von Kanada und Australien lernen, wo auch heftig diskutiert wird, aber Menschen, die dauer­haft im Land leben, trotz aller Probleme als gleich­berechtigte Bürger*innen anerkannt werden. Damit das auch in Deutschland gelingt, müssen wir aktiv über unser Selbst­bild reden: Was ist eigentlich deutsch? Nur auf den Zusammen­halt zu verweisen, ist eine Leer­stelle. Die Antworten dürfen sich aber auch nicht darin erschöpfen, dass wir sagen: „Es gibt eine deutsche Leitkultur, und alle müssen sich anpassen.“ Oder: „Es gibt gar keine deutsche Kultur.“ Mit der Debatte „Leitkultur versus Rassismus“ werden wir nicht weiter­kommen. Ich bin für einen Mittelweg, der alle mitnimmt. Wir müssen eine Erzählung entwickeln, was Deutschland als Einwanderungs­land ausmacht.

Deutschland will nun mit einem neuen Einwanderungsgesetz auch mehr Arbeitskräfte anlocken. Kann das gelingen?

Das Gesetz ist ordentlich und besitzt das Potenzial, dass künftig qualifizierte Arbeits­kräfte aus der ganzen Welt kommen – nicht nur aus Ländern, die eine vergleichbare Ausbildungs­struktur haben. Der große Haken ist jedoch die Umsetzung. Die Probleme sind banal. Deutschland hat es bisher nicht geschafft, halbwegs schnell Visa zu vergeben und eine interne digitale Kommunikation zwischen Landes­ämtern für Einwanderung und Visa­stellen her­zu­stellen. Teilweise werden zwischen Konsulaten und deutschen Behörden in kleineren Städten noch Briefe hin- und hergeschickt. Hinzu kommen hohe Steuern auf ein gutes Einkommen, eine schwer zu erlernende Sprache und die Ablehnung, die Menschen erfahren, die als „fremd“ wahr­genommen werden. Daran verzweifeln die Fach­kräfte.


Mercator Fellowship-Programm

Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideen­reich einem Forschungs- oder Praxis­­vorhaben zu widmen.

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