Was macht Deutschland als Einwanderungsland aus?
Einerseits will die Ampelkoalition konsequenter abschieben, andererseits möchte sie mehr qualifizierte Fachkräfte nach Deutschland locken. Der Völkerrechtler Daniel Thym erklärt im Interview, warum die USA in einem ähnlichen Dilemma stecken und weshalb Deutschland ein neues Selbstbild benötigt, um Einwanderung in Zukunft besser zu steuern.
Die Bundesregierung geht das Thema Migration neu an und hat verschiedene Maßnahmen im Sinn: strengere Grenzkontrollen, konsequentere Abschiebungen und Abkommen zur Rücknahme mit Drittstaaten wie Tunesien. Das ist ein Kurswechsel. Wurde Migration denn bislang nicht richtig gesteuert?
Ja, wir haben die Steuerung der Migration vernachlässigt, und wir haben ein großes Umsetzungsproblem. Daran werden auch neue Gesetze scheitern. Ob Ausweisung von Menschen, die kriminellen Vereinigungen angehören, Abschiebungshaft oder Rückführungen: All diese Maßnahmen setzen Personalressourcen voraus, und die Behörden sind hoffnungslos überlastet. Fehlende Digitalisierung ist auch ein Punkt. Wir sind einfach ineffizient. Wird ein Asylantrag abgelehnt, klagen die allermeisten Betroffenen dagegen. Das ist völlig okay. Die Gerichte brauchen im Durchschnitt aber mehr als 20 Monate, weil sie zu viele Fälle bearbeiten müssen. Nach zwei, drei Jahren erhalten die Personen dann den Ausreisebescheid. Dass sie diesen dann nicht mehr ganz ernst nimmt, ist ja irgendwie klar.
Diese Menschen haben in der Regel auch ein Arbeitsverbot. Das soll nun gelockert werden. Kann das helfen – auch weil in Deutschland viele Fachkräfte fehlen?
Das stimmt so nicht. Ohnehin dürfen alle arbeiten, deren Asylantrag erfolgreich ist. Das ist ja der Sinn des Asylrechts: Wer Schutzbedarf hat, darf bleiben und bekommt alle Rechte. Auch Ausreisepflichtige können nach einigen Monaten arbeiten, wenn die Behörden das erlauben. In einigen Bundesländern geht das unbürokratisch. Die Bundesregierung will das noch weiter erleichtern. Auch dann müssen wir weiterhin zwischen der Asylmigration und dem Fachkräftemangel unterscheiden.
Prof. Dr. Daniel Thym, geboren 1973 in Tübingen, ist deutscher Jurist und lehrt an der Universität Konstanz, wo er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht innehat. Seine Schwerpunkte sind das deutsche, europäische und internationale Migrations- und Flüchtlingsrecht. Als Sachverständiger berät er den Innenausschuss des Deutschen Bundestages.
An der University of California in San Diego in den USA setzt Thym als Mercator Senior Fellow die Besonderheiten der deutschen Einwanderungsdebatte in Beziehung zu Erfahrungen klassischer Einwanderungsländer wie den USA. Seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen plant er, in einem Sachbuch festzuhalten, das voraussichtlich 2024 erscheint.
Migration ist kein einheitliches Phänomen. Wir wissen aus Studien, dass mehr als 60 Prozent derjenigen, die über das Asylsystem kommen, nicht die Qualifikationsanforderungen erfüllen, um als Fachkraft zu arbeiten. Das sind also zwei Paar Stiefel. Trotzdem kann es sinnvoll sein, dass Ausreisepflichtige arbeiten dürfen. Die Politik steckt in einem Dilemma: Viele Ausreisepflichtige werden erfahrungsgemäß in Deutschland bleiben. Deshalb ist Integration sinnvoll. Gleichzeitig ist Arbeit jedoch ein wichtiger Grund, warum Menschen ohne Schutzbedarf kommen, was die Politik eigentlich nicht will. Aus dem Dilemma gibt es keinen perfekten Ausweg.
Wie ist diese Situation in den USA?
US-Präsident Joe Biden hat im Oktober mehreren Hunderttausend Venezolaner*innen ein Arbeitsrecht gegeben. Das hatte die Stadt New York vehement gefordert, weil die Obdachlosenunterkünfte hoffnungslos überlaufen waren. In den USA müssen Asylbewerber*innen nämlich für sich selbst sorgen und bekommen meistens keine Unterkunft. In New York war das anders, was ein Grund war, weshalb viele dorthin gingen. Präsident Biden hofft nun, dass die Personen die staatlichen Unterkünfte verlassen, wenn sie arbeiten. Zugleich besteht die große Sorge, dass weitere Venezolaner*innen kommen. Deswegen hat sogar Biden entschieden, die von Donald Trump initiierte Mauer an der Grenze zu Mexiko weiterzubauen. Das ist ein Symbol, dass nicht alle kommen sollen. Die USA sind in demselben Dilemma wie die Bundesrepublik. Es existiert keine perfekte Lösung. Mauern sind das garantiert auch nicht.
Sie forschen gerade in den USA zum Thema Migration. Können wir uns etwas von den USA abschauen?
Das kommt darauf an. Die praktische Politik unterscheidet sich deutlich. Sozialleistungen gibt es kaum, und an den Grenzen gibt es softe Pushbacks mit extrem kurzen Verfahren. Außerdem sind viele Zehntausende inhaftiert. Trotzdem kommen nicht weniger Menschen. Das führt dazu, dass das System weitgehend dysfunktional ist, dass Teile der Bevölkerung das Gefühl haben, es herrscht ein Kontrollverlust. In der Folge verroht der öffentliche Diskurs, was radikale Kräfte ausnutzen. Donald Trump warnt vor einer „Invasion“ – und führt in den Umfragen. Wir können also lernen, wie wichtig es ist, dass die Politik das Gefühl vermittelt, die Situation halbwegs zu kontrollieren. Nur dann werden sich auf Dauer nicht diejenigen durchsetzen, die einfache Lösungen und Grenzschließungen versprechen. Die Lektion ist also, es anders zu machen als die USA. Leicht wird das nicht. Gerade erst gewann Geert Wilders in den Niederlanden mit dem Versprechen eines „Asylstopps“ die Parlamentswahl.
Der Diskurs hat auch hierzulande radikalere Züge angenommen. Das Narrativ: Wer nach Deutschland kommt, will vor allem von Sozialleistungen profitieren. Was entgegnen Sie darauf?
Vereinfacht gesagt können wir drei Faktoren unterscheiden: Zuerst gehen Menschen dahin, wo Verwandte, Bekannte, Landsleute sind. Dann: der Arbeitsmarkt. Die Leute wollen wirtschaftlich aktiv sein, Sozialleistungen sind weniger ihr Ziel. Der dritte Faktor sind die Aufnahmebedingungen – ein ganz weites Feld. Es geht um das gesellschaftliche Klima, Toleranz und Offenheit, aber auch um Wohnungen, Gesundheit und Geldzahlungen. Sozialleistungen sind also nur ein Faktor unter vielen anderen.
Empirisch gesehen ist Deutschland ein Einwanderungsland, und es ist absolut notwendig, dass wir als Gesellschaft über Migration diskutieren.
Die Debatte um Sozialleistungen macht sich vor allem die AfD zunutze. Wie sollen wir als Gesellschaft damit umgehen?
Nur weil die AfD ein Thema nutzt, sollten wir diesem nicht aus dem Weg gehen. Empirisch gesehen ist Deutschland ein Einwanderungsland, und es ist absolut notwendig, dass wir als Gesellschaft über Migration diskutieren. Einmal müssen wir Menschen mit Migrationsbiografie, die schon länger hier leben oder hier geboren wurden, von denjenigen unterscheiden, die neu einreisen. Nur weil wir vielleicht Probleme haben im Asylsystem oder die Gesellschaft Probleme wahrnimmt, heißt das nicht, dass wir diejenigen, die dauerhaft und legal hier leben, oft auch Deutsche sind, irgendwie ausgrenzen. Das passiert aber andauernd, weil Politik, Gesellschaft und Medien nicht unterscheiden.
Wir sollten von Kanada und Australien lernen, wo auch heftig diskutiert wird, aber Menschen, die dauerhaft im Land leben, trotz aller Probleme als gleichberechtigte Bürger*innen anerkannt werden. Damit das auch in Deutschland gelingt, müssen wir aktiv über unser Selbstbild reden: Was ist eigentlich deutsch? Nur auf den Zusammenhalt zu verweisen, ist eine Leerstelle. Die Antworten dürfen sich aber auch nicht darin erschöpfen, dass wir sagen: „Es gibt eine deutsche Leitkultur, und alle müssen sich anpassen.“ Oder: „Es gibt gar keine deutsche Kultur.“ Mit der Debatte „Leitkultur versus Rassismus“ werden wir nicht weiterkommen. Ich bin für einen Mittelweg, der alle mitnimmt. Wir müssen eine Erzählung entwickeln, was Deutschland als Einwanderungsland ausmacht.
Deutschland will nun mit einem neuen Einwanderungsgesetz auch mehr Arbeitskräfte anlocken. Kann das gelingen?
Das Gesetz ist ordentlich und besitzt das Potenzial, dass künftig qualifizierte Arbeitskräfte aus der ganzen Welt kommen – nicht nur aus Ländern, die eine vergleichbare Ausbildungsstruktur haben. Der große Haken ist jedoch die Umsetzung. Die Probleme sind banal. Deutschland hat es bisher nicht geschafft, halbwegs schnell Visa zu vergeben und eine interne digitale Kommunikation zwischen Landesämtern für Einwanderung und Visastellen herzustellen. Teilweise werden zwischen Konsulaten und deutschen Behörden in kleineren Städten noch Briefe hin- und hergeschickt. Hinzu kommen hohe Steuern auf ein gutes Einkommen, eine schwer zu erlernende Sprache und die Ablehnung, die Menschen erfahren, die als „fremd“ wahrgenommen werden. Daran verzweifeln die Fachkräfte.
Mercator Fellowship-Programm
Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxisvorhaben zu widmen.