Begegnung mit der Sprühdose

Begegnung mit der Sprühdose
Autorin: Maren Beck Fotos: Martin Domagala 14.01.2021

Im Alltag an einer Bochumer Berufsschule eilen die knapp 2.000 Schüler*innen aus Deutschland und der ganzen Welt aneinander vorbei zum nächsten Unterrichtsblock. Mehr Nähe und Begegnung sollte ein Street-Art-Workshop bringen. Er brachte noch mehr: 19 sehr stolze Teilnehmer*innen.

Als noch viele Menschen dicht gedrängt in einem Raum zusammenkommen konnten, da erlebte Daniel Neuendorf einen kurzen Schreckmoment: Einige bunt gesprayte Selbstporträts lösten sich langsam von der Wand im Ausstellungsraum der Bochumer Technischen Beruflichen Schule 1 (TBS 1). Das doppelseitige Klebeband hinter den Kunstwerken hielt der steigenden Luftfeuchtigkeit nicht stand. „Glücklicherweise ist kein Bild kaputtgegangen oder jemand draufgetreten“, lacht der Schulsozialarbeiter erleichtert. „Der Raum war wirklich proppenvoll!“

Was da an der Wand hing und von zahlreichen Lehrer*innen, Schüler*innen und Mitarbeiter*innen verschiedener Bochumer Institutionen betrachtet wurde, war das Ergebnis eines dreiwöchigen Workshops an der Berufsschule. 19 Teilnehmer*innen hatten sich auf die Chance gestürzt, einmal selbst Street-Art zu machen. „Elf von ihnen stammten aus unseren Internationalen Förderklassen“, erzählt Daniel Neuendorf. Diese Klassen gibt es an der TBS 1 seit 2015. Gegründet wurden sie, da man sie schlichtweg brauchte, um den vielen schulpflichtigen Geflüchteten einen Ort des Lernens, des An- und Weiterkommens zu bieten. In diesen Klassen können sie ihren ersten deutschen Abschluss machen und Fachpraxisunterricht in Chemietechnik belegen. Ein engagiertes Kollegium und der Schulsozialarbeiter Neuendorf kümmern sich um die Schüler*innen, um ihre Sorgen und Nöte, die häufig mit Ämtern, Anträgen und Behördendeutsch zu tun haben.

Kunstpädagoge Martin Domagala (links) und Schulsozialarbeiter Daniel Neuendorf. © privat

„Neben den Schüler*innen aus den Regelklassen wollten wir mit dem Workshop gezielt die Förderklassen ansprechen.“ Denn obwohl die Klassen mit den Schüler*innen aus der ganzen Welt mittlerweile ein fest verankerter Teil der TBS 1 sind, fehlt es an Austausch. „Als Berufskolleg haben wir kaum Begegnungsräume oder Möglichkeiten, um Kontakte außerhalb des eigenen Bildungsgangs oder der eigenen Klasse zu knüpfen“, erzählt Daniel Neuendorf. Die Street-Art-Woche sollte genau so einen Raum schaffen.

Warum Graffiti?

An einem Herbsttag packte Martin Domagala schließlich Beamer, Laptop, Sprühfarben, Skalpelle und weitere Materialien in eine große Tasche und fuhr von Essen nach Bochum. Der Künstler und Kunstpädagoge erstellte mit den knapp 20 Schüler*innen gesprayte Selbstporträts. Konkret hieß das: Entlang der Konturen des eigenen Bildes wurde eine Schablone ausgeschnitten. Mit ihr wurde dann im Graffiti-Stil mit Sprühfarbe der eigene Kopf neu inszeniert. Warum genau diese Art von Kunst? „Graffiti und Street-Art sprechen viele Jugendliche an. Damit können sich die meisten eher identifizieren als mit Landschaftsmalerei“, erklärt der 37-Jährige. „Und ohne es zu merken, machen sie dennoch Kunst.“ Denn das sind Street-Art und Graffiti natürlich auch.

Für Martin Domagala sind sie sogar mehr als sein halbes Leben: Als Teenager fing er mit dem Sprayen an, studierte nach dem Abitur Gestaltungstechnik und anschließend Kunstpädagogik. Er ist überzeugt: „Auch wenn Graffiti etwas Verbotenes anhaftet: Für viele, die sprayen, ist es der Grundstein für einen kreativen Beruf in verschiedensten Bereichen – vom Grafikdesign bis zur Architektur.“ Martin Domagala selbst ist das beste Beispiel: Neben seiner freien künstlerischen Arbeit ist er als Kunstpädagoge an Schulen im ganzen Ruhrgebiet und in Nordrhein-Westfalen unterwegs und begeistert Schüler*innen in jedem Alter und jeder Schulform mit seinem Steckenpferd, der Street-Art.

Im ersten Schritt wurde die Schablone gezeichnet. © Martin Domagala
Sie war die Basis für das gesprayte Selbstporträt. © Martin Domagala
Die Aussicht, einmal Street-Art zu machen, lockte viele Schüler*innen in den freiwilligen Workshop. © Martin Domagala

Technik vs. Kunst?

Eine davon ist Bianca Dörfing. Die heute 19-Jährige saß an ebendiesem Herbsttag als Teilnehmerin im Projektraum der TBS 1 und lauschte, wie Martin Domagala zunächst ein wenig über Street-Art und Graffiti erzählte. An ihrer alten Schule hatte sie schon bei einem ähnlichen Projekt mitgemacht. Noch einmal mit Sprayfarben zu hantieren wollte sie sich nicht entgehen lassen, „denn das macht wirklich Spaß!“ Wie ihre 18 Mitstreiter*innen lernt sie etwas eher sachlich Faktisches, nämlich chemisch-technische Assistentin (CTA). Von der Kunst hält sie das aber mitnichten ab. „Ich habe schon ein bisschen Erfahrung mit Ausstellungen“, sagt die angehende CTA. Auch für die anderen Schüler*innen war die Kunst wohl kein Widerspruch zu ihren technischen Bildungsgängen: Der Workshop war im Nu ausgebucht und eine Warteliste gefüllt. Daniel Neuendorfs Idee, Kunst als Begegnungsmedium zu nutzen, schien aufzugehen. Obwohl er zu Beginn Zweifel hatte, wie er offen zugibt. „Ich habe mich jedoch eines Besseren belehren lassen“, berichtet er. Da man Graffiti in Videos, Filmen und an Gebäuden überall sehen könne, sei diese Kunstform sehr gegenwärtig – was wiederum die Berührungsängste offensichtlich kleiner mache.

Die Ausstellung am Schluss des Projekts war für alle ein stolzer Moment. © Martin Domagala
Hier kamen Gäste und Jungkünstler*innen ins Gespräch. © Martin Domagala
Die fertigen Bilder erinnern die Schüler*innen daran, dass jeder künstlerisch tätig sein kann. © Martin Domagala

Mit Kunst gesellschaftlich handeln

Auch wenn man täglich an Graffiti vorbeiläuft, kennt kaum jemand deren weitreichende Geschichte, die Martin Domagala den Berufsschüler*innen im Raum mit Bildern und Rückblicken näherbrachte. Interessiert lauschten die jungen Leute den Schilderungen über die Wurzeln der Graffiti-Kultur in New York und Philadelphia in den 70er-Jahren. Als Teil der Hip-Hop-Kultur hatten junge Menschen vor allem gegen Missstände gesprayt oder mit ihren Bildern und Schriften darauf aufmerksam gemacht. Sie hatten nach einem Ausdruck für ihre Empfindungen gesucht, der ins Auge fiel. Für einige Bochumer Schüler*innen war das Neuland, aber die Verbindung zwischen Kunst und gesellschaftlichem Handeln wurde ihnen plötzlich klarer. Von diesem Erkenntnismoment erzählt Kunstpädagoge Martin Domagala gerne: „Das ist das Tolle an Projekten wie diesem: Sie vermitteln ganz nebenbei und sehr kompakt Themen wie Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder Partizipation.“ Beleuchte man diese Dinge im „normalen“ schulischen Rahmen, erschienen sie oft weniger spannend und greifbar. „Im Kontext mit der Kunst wird vieles verständlich und nachvollziehbar.“

Kann ich das schaffen?

Genug Geschichte – darauf folgte nun der Plan, was in der Woche passieren sollte. Martin Domagala erklärte die einzelnen Arbeitsschritte und blickte dabei in skeptische, unsichere Gesichter. „Kann ich das schaffen?“, schienen sich die meisten Jugendlichen zu fragen. Sie konnten. Mit jedem nachmittäglichen Treffen wurde die Stimmung gelöster und die Jugendlichen offener. Sie merkten: Wenn man der Anleitung genau folgt, klappt alles. Beim Schablonenzeichnen unterstützten sie sich gegenseitig und hielten die Bilder an der Tafel fest. Beim Ausschneiden mit dem Skalpell konzentrierten sie sich mit gerunzelter Stirn und freuten sich wie nach einem Anstieg auf einen Gipfel über die genommene Hürde. Mit den Farben, mit denen sie anschließend mit der Schablone ihr Porträt sprühten, gestalteten sie ihr eigenes Abbild nach ihren Vorstellungen. Heraus kamen 19 einzigartige Bilder von 19 genauso einzigartigen jungen Menschen. „Alle waren extrem stolz auf ihre Bilder und regelrecht verwundert, dass sie zu so etwas in der Lage waren“, erinnert sich Martin Domagala. Es deckte sich mit seinen Erfahrungen an anderen Schulen: „Die Schüler*innen gehen immer bestärkt aus solchen Wochen heraus. Die Persönlichkeit wächst an so etwas.“

Selbstverständlich begegnen

Schritt für Schritt ist im Projekt noch etwas Weiteres passiert: Man hat sich gegenseitig geholfen. Egal, wer gerade zwei zusätzliche Hände für den nächsten Arbeitsschritt brauchte – sie waren da. „Ich glaube nicht, dass hier im Workshop innige Freundschaften entstanden sind“, resümiert Daniel Neuendorf, „aber der Abstand zueinander fiel weg.“ Es war ihm wichtig, genau so eine Form der Begegnung zu schaffen, die es ermöglicht, ganz natürlich, ganz selbstverständlich miteinander in Kontakt zu kommen. Wenn die Coronapandemie es zulässt, sollen weitere solche Formate angeboten werden. „Schüler*innen verlangen nach so etwas, wenn sie es einmal erfahren haben“, weiß Kunstpädagoge Martin Domagala und betont: „Der Workshop an der TBS 1 war kein Pflichtprogramm. Alle haben dafür freiwillig die Nachmittage in der Schule verbracht – und keiner hat auch nur einmal gefehlt.“ Das freue ihn besonders. Genau wie die stolzen Gesichter, die er in der Schlussausstellung beobachten konnte. Dieses Gefühl hält länger als jedes doppelseitige Klebeband.

Wegbereiter – Bildungswege für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche bereiten

Das von der Stiftung Mercator geförderte Projekt nimmt mit den Kommunen Bochum, Mülheim an der Ruhr und dem Kreis Recklinghausen die Integration in das Schulsystem und die Verbesserung des Bildungserfolgs von neu zugewanderten und geflüchteten Kindern und Jugendlichen in den Blick. Die Bildungsinitiative RuhrFutur und das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen setzen es in Zusammenarbeit mit der Landesweiten Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren um.
www.wegbereiter.ruhr