Mehr Grün als Asphalt – die Mobilitäts­wende im Ruhrgebiet

Verkehr im Ruhrgebiet
Mehr Grün als Asphalt – die Mobilitäts­wende im Ruhrgebiet
Autorin: Valeska Zepp 07.03.2024

Die Klimaziele lassen sich ohne Mobilitäts­wende nicht erreichen. Signifikant mehr Menschen müssten hierfür Alltags­wege häufiger zu Fuß, mit dem Rad und öffentlichen Verkehrs­mitteln zurück­legen. Das seit jeher aufs Auto zentrierte Ruhr­gebiet steht dabei vor besonders großen Heraus­forderungen. Was es für eine gelingende Mobilitäts­wende braucht, erklären der Mobilitäts­forscher Mark Andor und der Leiter der Grünen Hauptstadt Agentur Essen, Kai Lipsius.

Herr Andor, das Ruhrgebiet ist Pendler*innen­hoch­burg. Die Essener*innen legen derzeit 55 Prozent ihrer Wege mit dem Auto zurück und nur sieben Prozent mit dem Rad. Wie wollen Sie das ändern?

Mark Andor: In unserem Projekt „Die Mobilitäts­wende in Deutschland gemeinsam gestalten – Lehren aus dem Ruhr­gebiet“ wollen wir erforschen, wie sich Menschen in der Stadt bewegen, warum sie sich für bestimmte Verkehrs­mittel entscheiden und welche Maßnahmen den Umstieg auf klima­freundliche Verkehrs­träger beschleunigen können. In Bochum, Dortmund und Essen befragte unser Team im Rahmen der Studie über 1.500 Menschen zu ihrem Mobilitäts­verhalten – im gesamten Ruhrgebiet haben wir über 2.500 Menschen befragt. Zusätzlich haben wir auch Umfragen zum 9-Euro-Ticket durch­geführt und ein großes Feld­experiment gestartet: Das Mobilitäts­verhalten von mehr als 600 Menschen beobachten wir genau. Einige dieser Teilnehmenden bekamen für sechs Monate ein E-Bike oder ein Deutschland-Ticket – als Alternative zum Auto. Unsere Auswertungen zeigen, dass ein Teil der Menschen bereit ist, auf das Auto zu verzichten, wenn die Rahmen­bedingungen stimmen.

Dr. Mark Andor
© Mika Volkmann

Mark Andor betreut mit seinem Team das Projekt „Die Mobilitäts­wende in Deutschland gemeinsam gestalten – Lehren aus dem Ruhr­gebiet“ am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschafts­forschung. Seine Forschungs­schwer­punkte sind prosoziales Verhalten, Experimental- und Verhaltens­ökonomik – vor allem im Bereich Umwelt, Ressourcen, Verkehr und Energie.

Herr Lipsius, Sie leiten die Grüne Hauptstadt Agentur in Essen. Wie verbessern Sie die Rahmen­bedingungen für eine nach­haltige Mobilität?

Kai Lipsius: Wir investieren in Angebots­verbesserung. Mit sogenannten Fahrrad­achsen wollen wir die Essener Stadt­teile miteinander verbinden und für Radfahrende attraktiv machen. Neben der Qualität der Wege geht es da auch um Sicherheit an Kreuzungen sowie um Abstell­möglichkeiten. Außerdem bauen wir in Essen gerade ein Lastenrad-Sharing auf. Auch das hilft dabei, das Thema Auto­besitz zu über­denken. Die Forschungs­ergebnisse von Mark Andor kommen für uns zur rechten Zeit. Wir haben in Essen viel vor – da ist es gut zu wissen, wie und wo wir in der Bevölkerung auf Akzeptanz stoßen.

Einerseits sind die Menschen bereit für die Mobilitäts­wende. Trotzdem steigt der Auto­besitz in Deutschland seit Jahren stetig an. Wie lässt sich dieser Trend stoppen?

Kai Lipsius: Indem man durch­gängig gute Alternativen anbietet, damit der Autobesitz runter­geht. Städte wie Amsterdam und Berlin zeigen, dass es funktioniert: Sind die Wege zu Fuß, mit dem ÖPNV und dem Rad durch­gängig einfach, sicher und schnell, dann stellen sehr viele fest: Ich brauche das Auto gar nicht!

Kai Lipsius
© Claudia Anders

Kai Lipsius leitet die Grüne Hauptstadt Agentur in Essen. Sie ist entstanden, nachdem die Europäische Kommission die Stadt 2017 mit dem Titel „Grüne Haupt­stadt Europas“ ausgezeichnet hatte. Als Stabs­stelle des Dezernats für Umwelt, Verkehr und Sport der Stadt Essen koordiniert sie die Zukunfts­themen Klima­schutz, Energie, Nach­haltigkeit, Mobilität und Stadt­entwicklung, um gemeinsam mit der Essener Stadt­gesellschaft die Ziele der Grünen Hauptstadt konsequent zu verfolgen.

Mark Andor: Wir wollen das Auto als Verkehrsmittel auch nicht komplett abschaffen. Aber die Leute brauchen gute Alternativen. Wir haben jahrzehntelang auto­gerechte Städte gebaut. Jetzt müssen wir es hinbekommen, die Städte wieder lebens­werter zu machen. Es ist außerdem wichtig, auf negative Faktoren des Auto­verkehrs wie Luft­qualität, Lärm und Stress­level aufmerksam zu machen. Die machen krank und beeinträchtigen das Wohlbefinden.

Kai Lipsius: Schon 2020 hat eine Studie von Mark Andor außerdem ergeben, dass Auto­besitz viel teurer ist, als es die meisten einschätzen. Hier ist viel Aufklärungs­arbeit nötig. Was dabei hilft, sind Angebote wie der Auto­kosten­rechner.

In Essen können sich mindestens 40 Prozent der Befragten vorstellen, deutlich weniger Auto zu fahren.

Mark Andor

Wie lassen sich Menschen noch motivieren, vom Auto auf ein umwelt­verträglicheres Verkehrs­mittel um­zu­steigen?

Mark Andor: Wir sehen, dass die Leute sehr positiv gestimmt und interessiert sind. Vor allem die E-Bike-Nutzung hat die Studien­teil­nehmer*innen positiv überrascht: Viele können sich sehr gut vorstellen, ein E-Bike in Zukunft weiter zu nutzen. In Essen können sich mindestens 40 Prozent der Befragten vorstellen, deutlich weniger Auto zu fahren. Nur 16 Prozent können sich das gar nicht vorstellen. Aber zwischen „Ich kann es mir vorstellen“ und „Ich mache es wirklich“ liegt ein weiter Weg. Solange es keine guten Alternativen gibt, gelingt der Umstieg nicht.

Mobilitätswende im Ruhrgebiet zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Mark Andor stellt die Ergebnisse der Studie „Die Mobilitäts­wende in Deutschland gemeinsam gestalten – Lehren aus dem Ruhrgebiet“ am 21. März bei der Stiftung Mercator in Essen vor und diskutiert diese mit Vertreter*innen der teilnehmenden Städte.
Seien Sie dabei und melden Sie sich für die Diskussions­veranstaltung an:
Mobilitätswende im Ruhrgebiet zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Wie können Kommunen den Weg zu einem klimafreundlichen Verkehrssystem gestalten?

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Welche Rolle spielen die Kosten der öffentlichen Verkehrs­mittel?

Mark Andor: Beim ÖPNV sehen wir, dass Preispolitik nicht unbedingt der beste Weg ist, um die Auto­nutzung zu reduzieren. Das 9-Euro-Ticket haben zwar viele Menschen genutzt, es hat allerdings nicht zu deutlich weniger Auto­fahrten geführt. Wir empfehlen deshalb, dynamische Tarife ein­zu­führen, zum Beispiel niedrigere Preise für leere Busse und Bahnen.

Was sagen die Befragten zu Maßnahmen wie höheren Parkkosten oder Citymaut?

Mark Andor: Momentan lehnen noch viele Menschen diese sogenannten Push-Maßnahmen ab. Trotzdem sollte man den Mut aufbringen, auch Dinge durch­zu­führen, die unbeliebt sind – damit die positiven Folgen solcher Maßnahmen erlebbar werden. In der Stadt Göteborg in Schweden wurde die Citymaut trotz geringer Akzeptanz ausprobiert. Als man dann die positiven Resultate sah, wurde die Citymaut von der Bevölkerung deutlich stärker befürwortet, sodass sie dauerhaft eingeführt wurde.

Kai Lipsius: Deshalb stehen wir beim Thema Citymaut im Austausch mit Göteborg. So haben wir erfahren, dass ein wichtiger Punkt für die Akzeptanz war, dass die Maut­einnahmen für die Verbesserung des ÖPNV bestimmt waren – und diese Verbesserung auch spürbar wurde.

Mark Andor: Es gibt übrigens weitere Push-Maßnahmen, bei denen die Akzeptanz steigt: Beim Tempo­limit sehen wir über die Jahre einen Aufwärts­trend bei der Akzeptanz. Oder bei der strengeren Ahndung von Falsch­parker*innen und Geschwindigkeits­über­tretungen.

Zum Schluss ein Ausblick: Wie stellen Sie sich das Ruhrgebiet vor, wenn die Mobilitäts­wende 2035 gelungen ist?

Mark Andor: Das gesamte Ruhrgebiet stelle ich mir deutlich lebens­werter vor. Wer dann vor die Tür tritt, hat ein Erlebnis von viel Grün und viel Platz. Die Leute kommen sicher, schnell und komfortabel von A nach B. Und die meisten Erledigungen sind in wenigen Minuten zu Fuß, mit dem Rad und dem ÖPNV machbar – Stichwort 15-Minuten-Stadt.

Kai Lipsius: Essen wird leiser sein und gesünder, wegen der besseren Luft­qualität. Die Stadt bietet mehr Bewegungs­freiheit und ist klima­neutral. Wenn die Mobilitäts­wende gelingt, gibt es in Essen mehr Kinder als Autos auf den Straßen und mehr Grün als Asphalt.

Die Mobilitätswende in Deutschland gemeinsam gestalten – Lehren aus dem Ruhrgebiet

Seit 2021 erforscht ein Team des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschafts­forschung das Mobilitäts­verhalten in Deutschlands Haushalten, mit einem Fokus auf die Städte im Ruhrgebiet. Ziel des Projektes ist der Aufbau einer Wissens­basis: Mit welchen Verkehrs­mitteln sind die Menschen unterwegs, wie treffen sie ihre Wahl, welche Mobilität wünschen sie sich in Zukunft, und welche Maßnahmen können den Umstieg auf klima­freundliche Verkehrs­träger beschleunigen? Die Ergebnisse sollen Kommunen bei der Planung der Mobilitätswende helfen.
www.rwi-essen.de/die-mobilitaetswende-in-deutschland-gemeinsam-gestalten-lehren