Mehr Grün als Asphalt – die Mobilitätswende im Ruhrgebiet
Die Klimaziele lassen sich ohne Mobilitätswende nicht erreichen. Signifikant mehr Menschen müssten hierfür Alltagswege häufiger zu Fuß, mit dem Rad und öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen. Das seit jeher aufs Auto zentrierte Ruhrgebiet steht dabei vor besonders großen Herausforderungen. Was es für eine gelingende Mobilitätswende braucht, erklären der Mobilitätsforscher Mark Andor und der Leiter der Grünen Hauptstadt Agentur Essen, Kai Lipsius.
Herr Andor, das Ruhrgebiet ist Pendler*innenhochburg. Die Essener*innen legen derzeit 55 Prozent ihrer Wege mit dem Auto zurück und nur sieben Prozent mit dem Rad. Wie wollen Sie das ändern?
Mark Andor: In unserem Projekt „Die Mobilitätswende in Deutschland gemeinsam gestalten – Lehren aus dem Ruhrgebiet“ wollen wir erforschen, wie sich Menschen in der Stadt bewegen, warum sie sich für bestimmte Verkehrsmittel entscheiden und welche Maßnahmen den Umstieg auf klimafreundliche Verkehrsträger beschleunigen können. In Bochum, Dortmund und Essen befragte unser Team im Rahmen der Studie über 1.500 Menschen zu ihrem Mobilitätsverhalten – im gesamten Ruhrgebiet haben wir über 2.500 Menschen befragt. Zusätzlich haben wir auch Umfragen zum 9-Euro-Ticket durchgeführt und ein großes Feldexperiment gestartet: Das Mobilitätsverhalten von mehr als 600 Menschen beobachten wir genau. Einige dieser Teilnehmenden bekamen für sechs Monate ein E-Bike oder ein Deutschland-Ticket – als Alternative zum Auto. Unsere Auswertungen zeigen, dass ein Teil der Menschen bereit ist, auf das Auto zu verzichten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Mark Andor betreut mit seinem Team das Projekt „Die Mobilitätswende in Deutschland gemeinsam gestalten – Lehren aus dem Ruhrgebiet“ am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind prosoziales Verhalten, Experimental- und Verhaltensökonomik – vor allem im Bereich Umwelt, Ressourcen, Verkehr und Energie.
Herr Lipsius, Sie leiten die Grüne Hauptstadt Agentur in Essen. Wie verbessern Sie die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Mobilität?
Kai Lipsius: Wir investieren in Angebotsverbesserung. Mit sogenannten Fahrradachsen wollen wir die Essener Stadtteile miteinander verbinden und für Radfahrende attraktiv machen. Neben der Qualität der Wege geht es da auch um Sicherheit an Kreuzungen sowie um Abstellmöglichkeiten. Außerdem bauen wir in Essen gerade ein Lastenrad-Sharing auf. Auch das hilft dabei, das Thema Autobesitz zu überdenken. Die Forschungsergebnisse von Mark Andor kommen für uns zur rechten Zeit. Wir haben in Essen viel vor – da ist es gut zu wissen, wie und wo wir in der Bevölkerung auf Akzeptanz stoßen.
Einerseits sind die Menschen bereit für die Mobilitätswende. Trotzdem steigt der Autobesitz in Deutschland seit Jahren stetig an. Wie lässt sich dieser Trend stoppen?
Kai Lipsius: Indem man durchgängig gute Alternativen anbietet, damit der Autobesitz runtergeht. Städte wie Amsterdam und Berlin zeigen, dass es funktioniert: Sind die Wege zu Fuß, mit dem ÖPNV und dem Rad durchgängig einfach, sicher und schnell, dann stellen sehr viele fest: Ich brauche das Auto gar nicht!
Kai Lipsius leitet die Grüne Hauptstadt Agentur in Essen. Sie ist entstanden, nachdem die Europäische Kommission die Stadt 2017 mit dem Titel „Grüne Hauptstadt Europas“ ausgezeichnet hatte. Als Stabsstelle des Dezernats für Umwelt, Verkehr und Sport der Stadt Essen koordiniert sie die Zukunftsthemen Klimaschutz, Energie, Nachhaltigkeit, Mobilität und Stadtentwicklung, um gemeinsam mit der Essener Stadtgesellschaft die Ziele der Grünen Hauptstadt konsequent zu verfolgen.
Mark Andor: Wir wollen das Auto als Verkehrsmittel auch nicht komplett abschaffen. Aber die Leute brauchen gute Alternativen. Wir haben jahrzehntelang autogerechte Städte gebaut. Jetzt müssen wir es hinbekommen, die Städte wieder lebenswerter zu machen. Es ist außerdem wichtig, auf negative Faktoren des Autoverkehrs wie Luftqualität, Lärm und Stresslevel aufmerksam zu machen. Die machen krank und beeinträchtigen das Wohlbefinden.
Kai Lipsius: Schon 2020 hat eine Studie von Mark Andor außerdem ergeben, dass Autobesitz viel teurer ist, als es die meisten einschätzen. Hier ist viel Aufklärungsarbeit nötig. Was dabei hilft, sind Angebote wie der Autokostenrechner.
In Essen können sich mindestens 40 Prozent der Befragten vorstellen, deutlich weniger Auto zu fahren.
Wie lassen sich Menschen noch motivieren, vom Auto auf ein umweltverträglicheres Verkehrsmittel umzusteigen?
Mark Andor: Wir sehen, dass die Leute sehr positiv gestimmt und interessiert sind. Vor allem die E-Bike-Nutzung hat die Studienteilnehmer*innen positiv überrascht: Viele können sich sehr gut vorstellen, ein E-Bike in Zukunft weiter zu nutzen. In Essen können sich mindestens 40 Prozent der Befragten vorstellen, deutlich weniger Auto zu fahren. Nur 16 Prozent können sich das gar nicht vorstellen. Aber zwischen „Ich kann es mir vorstellen“ und „Ich mache es wirklich“ liegt ein weiter Weg. Solange es keine guten Alternativen gibt, gelingt der Umstieg nicht.
Mobilitätswende im Ruhrgebiet zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Mark Andor stellt die Ergebnisse der Studie „Die Mobilitätswende in Deutschland gemeinsam gestalten – Lehren aus dem Ruhrgebiet“ am 21. März bei der Stiftung Mercator in Essen vor und diskutiert diese mit Vertreter*innen der teilnehmenden Städte.
Seien Sie dabei und melden Sie sich für die Diskussionsveranstaltung an:
Mobilitätswende im Ruhrgebiet zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Wie können Kommunen den Weg zu einem klimafreundlichen Verkehrssystem gestalten?
Welche Rolle spielen die Kosten der öffentlichen Verkehrsmittel?
Mark Andor: Beim ÖPNV sehen wir, dass Preispolitik nicht unbedingt der beste Weg ist, um die Autonutzung zu reduzieren. Das 9-Euro-Ticket haben zwar viele Menschen genutzt, es hat allerdings nicht zu deutlich weniger Autofahrten geführt. Wir empfehlen deshalb, dynamische Tarife einzuführen, zum Beispiel niedrigere Preise für leere Busse und Bahnen.
Was sagen die Befragten zu Maßnahmen wie höheren Parkkosten oder Citymaut?
Mark Andor: Momentan lehnen noch viele Menschen diese sogenannten Push-Maßnahmen ab. Trotzdem sollte man den Mut aufbringen, auch Dinge durchzuführen, die unbeliebt sind – damit die positiven Folgen solcher Maßnahmen erlebbar werden. In der Stadt Göteborg in Schweden wurde die Citymaut trotz geringer Akzeptanz ausprobiert. Als man dann die positiven Resultate sah, wurde die Citymaut von der Bevölkerung deutlich stärker befürwortet, sodass sie dauerhaft eingeführt wurde.
Kai Lipsius: Deshalb stehen wir beim Thema Citymaut im Austausch mit Göteborg. So haben wir erfahren, dass ein wichtiger Punkt für die Akzeptanz war, dass die Mauteinnahmen für die Verbesserung des ÖPNV bestimmt waren – und diese Verbesserung auch spürbar wurde.
Mark Andor: Es gibt übrigens weitere Push-Maßnahmen, bei denen die Akzeptanz steigt: Beim Tempolimit sehen wir über die Jahre einen Aufwärtstrend bei der Akzeptanz. Oder bei der strengeren Ahndung von Falschparker*innen und Geschwindigkeitsübertretungen.
Zum Schluss ein Ausblick: Wie stellen Sie sich das Ruhrgebiet vor, wenn die Mobilitätswende 2035 gelungen ist?
Mark Andor: Das gesamte Ruhrgebiet stelle ich mir deutlich lebenswerter vor. Wer dann vor die Tür tritt, hat ein Erlebnis von viel Grün und viel Platz. Die Leute kommen sicher, schnell und komfortabel von A nach B. Und die meisten Erledigungen sind in wenigen Minuten zu Fuß, mit dem Rad und dem ÖPNV machbar – Stichwort 15-Minuten-Stadt.
Kai Lipsius: Essen wird leiser sein und gesünder, wegen der besseren Luftqualität. Die Stadt bietet mehr Bewegungsfreiheit und ist klimaneutral. Wenn die Mobilitätswende gelingt, gibt es in Essen mehr Kinder als Autos auf den Straßen und mehr Grün als Asphalt.
Die Mobilitätswende in Deutschland gemeinsam gestalten – Lehren aus dem Ruhrgebiet
Seit 2021 erforscht ein Team des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung das Mobilitätsverhalten in Deutschlands Haushalten, mit einem Fokus auf die Städte im Ruhrgebiet. Ziel des Projektes ist der Aufbau einer Wissensbasis: Mit welchen Verkehrsmitteln sind die Menschen unterwegs, wie treffen sie ihre Wahl, welche Mobilität wünschen sie sich in Zukunft, und welche Maßnahmen können den Umstieg auf klimafreundliche Verkehrsträger beschleunigen? Die Ergebnisse sollen Kommunen bei der Planung der Mobilitätswende helfen.
www.rwi-essen.de/die-mobilitaetswende-in-deutschland-gemeinsam-gestalten-lehren