Aufleuchtender Gemeinsinn
Gerade erst ist er veröffentlicht: der Bericht „Ostdeutschland. Ein neuer Blick“. Carsten Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung, möchte ein differenziertes, individuelles Bild vom heutigen Osten Deutschlands vermitteln. Beim Blick aufs Bürgergesellschaftliche Engagement fällt auf: Nur zehn Prozent der Bürger*innenstiftungen sind in Ostdeutschland beheimatet. „Zusammenhalt“ von openTransfer und der Stiftung Bürgermut sorgen dafür, dass es mehr werden.
Ballenstedt ist ein hübsches, altes Städtchen in Sachsen-Anhalt rund 40 Kilometer südlich von Magdeburg. Sein beeindruckendes Barockschloss lockt auswärtige Besucher*innen an. Den rund 9.500 Einwohner*innen aber hat die Harzstadt seit Jahren immer weniger zu bieten. Der Bahnhof ist schon seit Langem stillgelegt, am Wochenende sind die Straßen oft menschenleer. Das soziale Leben spielt sich in den vielen Einfamilienhäusern mit Garten ab.
Damit gilt für Ballenstedt, was auf viele Orte in ländlichen Regionen und speziell in Ostdeutschland zutrifft: Orte der Gemeinschaft, etwa Kultur- und Begegnungszentren, Hilfs- und Bildungsvereine für Kinder, Mehrgenerationenhäuser und Seniorenbüros gibt es immer weniger. Solche Begegnungsstätten hat die Politik über die Jahre weggespart. Um neue Strukturen zu etablieren oder bestehende wiederzubeleben, um alte wie junge Menschen zusammenzubringen, braucht es zivilgesellschaftliches Engagement.
Nur zehn Prozent der 420 Bürger*innenstiftungen sind in Ostdeutschland aktiv
Eine Studie der Stiftung Bürger für Bürger zeigt: In Ostdeutschland leben 42 Prozent der Menschen ohne Zugang zu Einrichtungen der Engagementförderung, von denen es von Mecklenburg-Vorpommern bis Sachsen insgesamt etwas mehr als 700 gibt. Zu solchen Einrichtungen zählen etwa Nachbarschaftsvereine oder Mehrgenerationenhäuser.
Die Zahl von Bürger*innenstiftungen und kommunalen Ansprechpartner*innen für Engagierte ist demnach seit 2013 zwar insgesamt gestiegen, die der Freiwilligenagenturen und Senior*innenbüros ist dagegen gesunken. Und nur rund zehn Prozent der mittlerweile 420 Bürger*innenstiftungen in Deutschland – Fördereinrichtungen von Bürger*innen für Bürger*innen – sind in den ostdeutschen Bundesländern beheimatet.
Hier setzt das Programm „Zusammenhalt“ von openTransfer und der Stiftung Bürgermut an. Es bringt Vereine, Initiativen, aber auch engagierte Einzelpersonen in Ostdeutschland zusammen, ermutigt, berät und unterstützt sie bei der Vernetzung untereinander. In Veranstaltungen, sogenannten Barcamps, kommen Interessierte, digital oder auch vor Ort, zum Brainstorming und zum Austausch zusammen.
Wir ermuntern Leute jeden Alters, die für sie drängenden Themen und Ideen zum Barcamp mitzubringen.
„Wir ermuntern Leute jeden Alters, die für sie drängenden Themen und Ideen zum Barcamp mitzubringen. Niemand muss bereits eine fertige Projektidee parat haben“, sagt der Geschäftsführer der Stiftung Bürgermut, Sebastian Gillwald. Die Teilnehmenden bekommen auch Informationen zu rechtlichen Fragen, wenn sie einen Verein, eine Stiftung oder irgendeine andere Initiative starten wollen, und sie erfahren mehr über Fördermöglichkeiten und Ansprechpersonen in ihrer Heimatregion.
Kreatives Engagement versus Vereinsmeierei
Es gebe verschiedene Theorien, warum sich in Ostdeutschland weniger Bürger*innenstiftungen oder Initiativen bürgerschaftlichen Engagements gegründet haben als in Westdeutschland, erläutert der Politikwissenschaftler Gillwald, der selbst in Mecklenburg-Vorpommern geboren und aufgewachsen ist. Zum einen mangele es vielerorts noch immer an den finanziellen Möglichkeiten, Stiftungen oder andere Initiativen zu gründen und am Laufen zu halten. „Ein wichtiger Grund dürfte jedoch auch sein, dass der DDR-Sozialismus die freie Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements Einzelner oder kleiner Gruppen eher gebremst als gefördert hat. Es gab zwar Vereine und kirchlich Engagierte in Ostdeutschland, aber kein mit Westdeutschland vergleichbares Vereins- oder Stiftungswesen. Aus vielen Vereinen wiederum entsteht aber oft Engagement für eine Sache oder für Mitmenschen.“
Auch hätten möglicherweise viele Bürger*innen, die sich während der DDR-Zeit bevormundet und überwacht gefühlt hätten, nach der Wende auf Vereinsmeierei zunächst keine große Lust verspürt. „Speziell in Ostdeutschland haben sich neue, kreative Formen von Engagement herausgebildet, die mitunter weniger strukturiert oder formell sind und deren Motivation vor allem Selbstverantwortung war und ist“, betont Gillwald, der mit seinen Kolleg*innen gezielt nach solchen Engagierten recherchiert. Er nimmt dann Kontakt zu ihnen auf, um sie für den Austausch und die Vernetzung mit anderen zu gewinnen. Dazu gehören beispielsweise auch kleine Initiativen für mehr Gemeinsinn – etwa die Organisation eines regelmäßig stattfindenden Bürger*innenfestes für alle oder unkonventionelle Lösungen für den Anschluss eines ganzen Dorfes ans Internet. „Die innere Motivation, Verhältnisse aus eigener Kraft zu verändern, ist extrem hoch“, sagt der Politikwissenschaftler.
Wichtige Rolle der Rückkehrer*innen
Welch wichtige Rolle dabei zum Beispiel Rückkehrer*innen spielen, zeigt das Beispiel Ballenstedt: Um dem negativen Trend in ihrer Heimatstadt etwas entgegenzusetzen, gründeten fünf Frauen 2017 den Verein „Heimat bewegen“.
„Wir alle sind in Ballenstedt aufgewachsen, dann fortgegangen für Ausbildung, Studium und Beruf und vor ein paar Jahren mit unseren Familien zurückgekehrt“, berichtet Anneke Richter, eine der Gründerinnen. Sofort seien ihr bei der Rückkehr der dramatische Leerstand und der Verfall vieler Gebäude aufgefallen – alte Gebäude, aus denen sich eigentlich viel hätte machen lassen.
Heute werden diese Räume teils für Kunst und Kultur genutzt. Unter anderem luden die Vereinsgründerinnen ein Berliner Theaterkollektiv für Gastspiele ein. Und derzeit wird ein alter Vierseitenhof – das Gut Ziegenberg – zu einem Gemeinschaftszentrum mit Herberge und Co-Working-Spaces umgebaut. Dafür warben die Frauen unermüdlich Fördermittel und Spenden ein. „Wir wollen unseren Kindern ein positives Beispiel geben“, sagt Richter, die Mutter zweier Teenager ist.
Bürgerschaftliches Engagement gegen rechts
Mehrere Websites, die die verschiedenen Aktivitäten des Vereins widerspiegeln, gestaltete und pflegt die studierte Medieninformatikerin selbst. Der Name des Vereins ist in Zeiten, in denen Rechtpopulist*innen versuchen, den Begriff „Heimat“ für ihre politischen Zwecke zu nutzen, bewusst gewählt: Bürgerschaftliches Engagement kann hier einen Kontrapunkt setzen.
Dass die 2020 von drei Bundesministerien gegründete Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt ihren Sitz im mecklenburgischen Neustrelitz hat, ist daher kein Zufall, sagt Katarina Peranić, Vorständin der Stiftung: „Ziel ist es, das Engagement von Einzelnen und von Gruppen besonders in strukturschwachen und ländlichen Regionen zu fördern. Und besonders viele dieser Regionen liegen in Ostdeutschland.“
Peranić arbeitete zuvor für die Stiftung Bürgermut, initiierte dort openTransfer und begrüßt sehr, dass die ehemaligen Kolleg*innen dort das Unterprojekt „Zusammenhalt“ an den Start gebracht haben. Wie solche Anschubhilfen wirken, die auch ihre jetzige Stiftung bietet, hat sie selbst erlebt. Ein gutes Beispiel ist für sie die Coronazeit, als sich zumindest in den ersten zwei Jahren viele nur digital engagieren und andere beraten konnten. „Wir haben deshalb das Förderprogramm ‚Gemeinsam wirken in Zeiten von Corona‘ aufgesetzt, das Digitalisierungsvorhaben von Vereinen finanziell unterstützt.“
Ihr Team sei „förmlich überrannt“ worden, erinnert sich Peranić. Von 12.500 Anträgen aus ganz Deutschland stammte ein Großteil aus Ostdeutschland. Und: Insgesamt kamen 2021 knapp 38 Prozent aller von der Stiftung bewilligten Förderanträge ebenfalls von dort.
openTransfer Zusammenhalt
Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist ein wesentliches Element des Miteinanders und der Stabilität der Gesellschaft, besonders in Ostdeutschland. „Zusammenhalt“ von openTransfer und der Stiftung Bürgermut bringt deshalb Vereine, Initiativen, aber auch engagierte Einzelpersonen in Ostdeutschland zusammen, ermutigt, berät und unterstützt sie bei der Vernetzung untereinander. In Veranstaltungen, sogenannten Barcamps, kommen Interessierte zum Brainstorming und zum Austausch zusammen – digital oder auch vor Ort.