Aufleuchtender Gemeinsinn

Bildausstellung in einer alten Halle
Aufleuchtender Gemeinsinn
Autorin: Mareike Knoke 18.10.2022

Gerade erst ist er veröffentlicht: der Bericht „Ostdeutschland. Ein neuer Blick“. Carsten Schneider, Ost­beauftragter der Bundes­regierung, möchte ein differenziertes, individuelles Bild vom heutigen Osten Deutschlands vermitteln. Beim Blick aufs Bürger­gesellschaftliche Engagement fällt auf: Nur zehn Prozent der Bürger*innen­­stiftungen sind in Ost­­deutschland beheimatet. „Zusammenhalt“ von openTransfer und der Stiftung Bürgermut sorgen dafür, dass es mehr werden.

Ballenstedt ist ein hübsches, altes Städtchen in Sachsen-Anhalt rund 40 Kilometer südlich von Magdeburg. Sein beeindruckendes Barock­­schloss lockt aus­wärtige Besucher*innen an. Den rund 9.500 Ein­wohner*innen aber hat die Harzstadt seit Jahren immer weniger zu bieten. Der Bahnhof ist schon seit Langem still­gelegt, am Wochen­ende sind die Straßen oft menschen­leer. Das soziale Leben spielt sich in den vielen Ein­familien­häusern mit Garten ab.

Damit gilt für Ballenstedt, was auf viele Orte in ländlichen Regionen und speziell in Ost­deutschland zutrifft: Orte der Gemeinschaft, etwa Kultur- und Begegnungs­zentren, Hilfs- und Bildungs­vereine für Kinder, Mehr­­generationen­­häuser und Senioren­büros gibt es immer weniger. Solche Begegnungs­­stätten hat die Politik über die Jahre weg­gespart. Um neue Strukturen zu etablieren oder bestehende wieder­­zu­­beleben, um alte wie junge Menschen zusammen­zu­bringen, braucht es zivil­gesellschaftliches Engagement.

Schloss Ballenstedt
Das Schloss Ballenstedt geht auf Fürst Friedrich Albrecht von Anhalt-Bernburg zurück, der Ballenstedt 1765 zu seiner Residenz erhob, und der Schlossgarten ist einer der bedeutendsten Gärten in Sachsen-Anhalt und umfasst 29 Hektar. © picture alliance
Der Bahnhof Ballenstedt-Ost
Schon seit Langem still­gelegt: Der Bahnhof Ballenstedt-Ost an der ehemaligen Bahnstrecke Aschersleben-Quedlinburg. © picture alliance

Nur zehn Prozent der 420 Bürger*innen­stiftungen sind in Ost­deutschland aktiv

Eine Studie der Stiftung Bürger für Bürger zeigt: In Ost­deutschland leben 42 Prozent der Menschen ohne Zugang zu Einrichtungen der Engagement­förderung, von denen es von Mecklenburg-Vorpommern bis Sachsen insgesamt etwas mehr als 700 gibt. Zu solchen Einrichtungen zählen etwa Nachbar­schafts­vereine oder Mehr­generationen­häuser.

Die Zahl von Bürger*innen­stiftungen und kommunalen Ansprech­partner*innen für Engagierte ist demnach seit 2013 zwar insgesamt gestiegen, die der Freiwilligen­agenturen und Senior*innen­büros ist dagegen gesunken. Und nur rund zehn Prozent der mittler­weile 420 Bürger*innen­stiftungen in Deutschland – Förder­einrichtungen von Bürger*innen für Bürger*innen – sind in den ost­deutschen Bundes­ländern beheimatet.

Hier setzt das Programm „Zusammenhalt“ von openTransfer und der Stiftung Bürgermut an. Es bringt Vereine, Initiativen, aber auch engagierte Einzel­personen in Ostdeutschland zusammen, ermutigt, berät und unter­stützt sie bei der Vernetzung untereinander. In Veranstaltungen, sogenannten Barcamps, kommen Interessierte, digital oder auch vor Ort, zum Brain­storming und zum Austausch zusammen.

Wir ermuntern Leute jeden Alters, die für sie drängenden Themen und Ideen zum Barcamp mitzubringen.

Sebastian Gillwald, Geschäfts­führer der Stiftung Bürgermut

„Wir ermuntern Leute jeden Alters, die für sie drängenden Themen und Ideen zum Barcamp mitzubringen. Niemand muss bereits eine fertige Projekt­idee parat haben“, sagt der Geschäfts­führer der Stiftung Bürgermut, Sebastian Gillwald. Die Teilnehmenden bekommen auch Informationen zu rechtlichen Fragen, wenn sie einen Verein, eine Stiftung oder irgendeine andere Initiative starten wollen, und sie erfahren mehr über Förder­möglichkeiten und Ansprech­personen in ihrer Heimat­region.

Kreatives Engagement versus Vereins­meierei

Es gebe verschiedene Theorien, warum sich in Ostdeutschland weniger Bürger*innen­stiftungen oder Initiativen bürger­schaftlichen Engagements gegründet haben als in West­deutschland, erläutert der Politik­wissenschaftler Gillwald, der selbst in Mecklenburg-Vorpommern geboren und aufgewachsen ist. Zum einen mangele es vieler­orts noch immer an den finanziellen Möglichkeiten, Stiftungen oder andere Initiativen zu gründen und am Laufen zu halten. „Ein wichtiger Grund dürfte jedoch auch sein, dass der DDR-Sozialismus die freie Entfaltung bürger­schaftlichen Engagements Einzelner oder kleiner Gruppen eher gebremst als gefördert hat. Es gab zwar Vereine und kirchlich Engagierte in Ost­deutschland, aber kein mit West­deutschland vergleich­bares Vereins- oder Stiftungs­wesen. Aus vielen Vereinen wiederum entsteht aber oft Engagement für eine Sache oder für Mitmenschen.“

Kaffeekränzchen in der DDR
Kaffeekränzchen waren in Ordnung – doch die freie Entfaltung bürger­schaftlichen Engagements Einzelner oder kleiner Gruppen hat der DDR-Sozialismus eher gebremst als gefördert. © picture alliance

Auch hätten möglicherweise viele Bürger*innen, die sich während der DDR-Zeit bevormundet und überwacht gefühlt hätten, nach der Wende auf Vereins­meierei zunächst keine große Lust verspürt. „Speziell in Ost­deutschland haben sich neue, kreative Formen von Engagement heraus­gebildet, die mitunter weniger strukturiert oder formell sind und deren Motivation vor allem Selbst­verantwortung war und ist“, betont Gillwald, der mit seinen Kolleg*innen gezielt nach solchen Engagierten recherchiert. Er nimmt dann Kontakt zu ihnen auf, um sie für den Austausch und die Vernetzung mit anderen zu gewinnen. Dazu gehören beispiels­weise auch kleine Initiativen für mehr Gemeinsinn – etwa die Organisation eines regel­mäßig statt­findenden Bürger*innen­festes für alle oder unkonventionelle Lösungen für den Anschluss eines ganzen Dorfes ans Internet. „Die innere Motivation, Verhältnisse aus eigener Kraft zu verändern, ist extrem hoch“, sagt der Politik­wissen­schaftler.

Wichtige Rolle der Rück­kehrer*innen

Welch wichtige Rolle dabei zum Beispiel Rück­kehrer*innen spielen, zeigt das Beispiel Ballenstedt: Um dem negativen Trend in ihrer Heimat­stadt etwas entgegen­zu­setzen, gründeten fünf Frauen 2017 den Verein „Heimat bewegen“.

„Wir alle sind in Ballenstedt auf­gewachsen, dann fort­gegangen für Ausbildung, Studium und Beruf und vor ein paar Jahren mit unseren Familien zurück­gekehrt“, berichtet Anneke Richter, eine der Gründerinnen. Sofort seien ihr bei der Rückkehr der dramatische Leerstand und der Verfall vieler Gebäude aufgefallen – alte Gebäude, aus denen sich eigentlich viel hätte machen lassen.

Schloss Ballenstedt
Malerisch schön: Das Schloss Ballenstedt im Zentrum. Doch die Harzstadt hat den rund 9.500 Ein­wohner*innen seit Jahren immer weniger zu bieten. © Shutterstock

Heute werden diese Räume teils für Kunst und Kultur genutzt. Unter anderem luden die Vereins­gründerinnen ein Berliner Theater­kollektiv für Gastspiele ein. Und derzeit wird ein alter Vier­seiten­hof – das Gut Ziegenberg – zu einem Gemein­schafts­zentrum mit Herberge und Co-Working-Spaces umgebaut. Dafür warben die Frauen unermüdlich Förder­mittel und Spenden ein. „Wir wollen unseren Kindern ein positives Beispiel geben“, sagt Richter, die Mutter zweier Teenager ist.

Bürgerschaftliches Engagement gegen rechts

Mehrere Websites, die die verschiedenen Aktivitäten des Vereins wider­spiegeln, gestaltete und pflegt die studierte Medien­informatikerin selbst. Der Name des Vereins ist in Zeiten, in denen Recht­populist*innen versuchen, den Begriff „Heimat“ für ihre politischen Zwecke zu nutzen, bewusst gewählt: Bürger­schaftliches Engagement kann hier einen Kontra­punkt setzen.

Dass die 2020 von drei Bundes­ministerien gegründete Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt ihren Sitz im mecklen­burgischen Neustrelitz hat, ist daher kein Zufall, sagt Katarina Peranić, Vorständin der Stiftung: „Ziel ist es, das Engagement von Einzelnen und von Gruppen besonders in struktur­schwachen und ländlichen Regionen zu fördern. Und besonders viele dieser Regionen liegen in Ost­deutschland.“

Peranić arbeitete zuvor für die Stiftung Bürgermut, initiierte dort openTransfer und begrüßt sehr, dass die ehemaligen Kolleg*innen dort das Unter­projekt „Zusammenhalt“ an den Start gebracht haben. Wie solche Anschub­hilfen wirken, die auch ihre jetzige Stiftung bietet, hat sie selbst erlebt. Ein gutes Beispiel ist für sie die Corona­zeit, als sich zumindest in den ersten zwei Jahren viele nur digital engagieren und andere beraten konnten. „Wir haben deshalb das Förder­programm ‚Gemeinsam wirken in Zeiten von Corona‘ aufgesetzt, das Digitalisierungs­vorhaben von Vereinen finanziell unterstützt.“

Ihr Team sei „förmlich überrannt“ worden, erinnert sich Peranić. Von 12.500 Anträgen aus ganz Deutschland stammte ein Großteil aus Ost­deutschland. Und: Insgesamt kamen 2021 knapp 38 Prozent aller von der Stiftung bewilligten Förder­anträge ebenfalls von dort.


openTransfer Zusammenhalt

Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist ein wesentliches Element des Miteinanders und der Stabilität der Gesellschaft, besonders in Ost­deutschland. „Zusammenhalt“ von openTransfer und der Stiftung Bürgermut bringt deshalb Vereine, Initiativen, aber auch engagierte Einzel­personen in Ostdeutschland zusammen, ermutigt, berät und unter­stützt sie bei der Vernetzung unter­einander. In Veranstaltungen, sogenannten Barcamps, kommen Interessierte zum Brain­storming und zum Austausch zusammen – digital oder auch vor Ort.

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