Hanau gedenken:
„Es gibt keinen gemäßigten Rassismus”

Hanau gedenken:
„Es gibt keinen gemäßigten Rassismus”
Autorin: Sheila Mysorekar 16.02.2023

Am 19. Februar jährt sich zum dritten Mal das rechtsterroristische Attentat in Hanau, bei dem neun junge Menschen ermordet wurden. Unsere Gastautorin Sheila Mysorekar, Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, fragt: Interessiert das heute noch jemanden?

Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als mein Kind zu verlieren. Erst recht plötzlich, unerwartet, grundlos, obendrein durch einen gewaltsamen Tod. Ermordet von einem Rassisten.

Die neun jungen Menschen, die am 19. Februar 2020 in Hanau erschossen wurden, waren Söhne und Töchter, Geschwister, geliebte Mitglieder ihrer Familien. Zwei von ihnen hatten selbst Kinder. Sie waren Hanauer*innen, aus kurdischen, türkischen, bosnischen und afghanischen Familien; drei von ihnen waren Romni aus Deutschland, Bulgarien und Rumänien. Sie waren an jenem Abend unterwegs, um ihre Freunde zu treffen, in einer Shisha-Bar und einem Kiosk. Da, wo man hingeht, wenn man wenig Geld hat und aus einer migrantischen Community kommt. Allerdings: Die meisten Opfer waren Deutsche, geboren und aufgewachsen nahe Hanau; sie sprachen deutsch mit hessischem Akzent. Junge BPoC (Black/Person of Color)-Hanauer*innen.

© Privat

Sheila Mysorekar ist Journalistin und Vorsitzende des Netzwerks neue deutschen organisationen (ndo), dem rund 190 postmigrantische Vereine, Organisationen und Projekte angehören.

Angriff im Safe Space

Es ist kein Zufall, dass der rechtsextreme Täter seine Opfer in einer Shisha-Bar antraf. Er ging strategisch vor, wie der Generalbundesanwalt später konstatierte; ihm war klar, wo er potenzielle Opfer antreffen würde: Shisha-Bars gehören zu den wenigen Freizeitstätten, wo junge Männer aus migrantischen Familien problemlos Einlass bekommen. In vielen anderen Orten ist das nicht so. Alltagsrassismus bestimmt das Leben von Menschen aus Einwanderer-Communitys. Um Konfrontationen zu vermeiden, geht man halt in Orte wie Shisha-Bars, wo man auch willkommen ist, wenn man Ferhat oder Fatih heißt.

Die Opfer des Attentats in Hanau hießen Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. © Getty Images

Als Zielscheibe markiert

Shisha-Bars werden jedoch von vielen Politiker*innen sowie rechtslastigen und populistischen Medien pauschal als ein Hort krimineller Machenschaften bezeichnet. Immer wieder finden hier Razzien statt. Dabei gerät völlig in den Hintergrund, dass in der Regel bei diesen Razzien gar keine Verbrechen zutage kommen. Die martialische Rhetorik vieler Lokalpolitiker*innen dient ihrer eigenen Profilierung, nichts weiter. Migrantische Communitys sind dafür ein leichtes Ziel.

Doch so werden Shisha-Bars in der Öffentlichkeit deutlich markiert: Hier treffen sich die Kriminellen. Dieser Ruf kriminalisiert somit diejenigen, die dort hingehen – BPoC-Menschen, oft junge Männer, oft muslimisch. Die Kriminalisierung dieser Freizeit-Treffpunkte ist eine weitere Manifestation von anti-muslimischem Rassismus, der viel zu oft nicht erkannt und schon gar nicht bekämpft wird.

Aber Rechtsradikale verstehen die Message laut und deutlich. So auch der Attentäter von Hanau, rechtsextremer Rassist und trotzdem legal im Besitz von Waffen.

Legale Waffen für Rechtsextreme

Dies ist eine Frage, die ich zum dritten Jahrestag des Attentats stellen möchte: Warum dürfen in diesem Land Rechtsradikale legal Waffen besitzen? Leute, die Mitglieder in rechtsextremen Vereinigungen sind? Wer als Jäger*in oder Sportschütz*in ein sogenanntes „Bedürfnis nach Waffen“ nachweist, kann eine Waffenbesitzkarte beantragen. Liegen keine einschlägigen strafrechtlichen Eintragungen oder Zweifel an der psychischen Eignung für den Waffenbesitz vor, darf sich der Antragsteller legal bewaffnen.  Die zuständigen Behörden prüfen die sogenannte „charakterliche Eignung“ oftmals nicht besonders gründlich – etwa durch eine Nachfrage beim Verfassungsschutz, die eigentlich Routine sein sollte. Hinzu kommt, dass viele Rechtsradikale gar nicht vom Verfassungsschutz erfasst sind.

Die Zahl der Rechtsextremist*innen mit Waffenerlaubnis ist seit dem Jahr 2020 deutlich angestiegen. Die Sicherheitsbehörden hatten Ende Dezember 2020 bundesweit rund 1200 tatsächliche oder mutmaßliche Rechtsextremist*innen auf dem Schirm, die legal Waffen besaßen. Im Jahr 2021 waren es schon 1.500. Von 2019 bis 2021 stieg der legale Waffenbesitz in der rechten Szene um 35 Prozent (so die Bundesregierung, in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Jahr 2022). Mit anderen Worten: Auch nach Hanau wurden keine Konsequenzen gezogen.

 

 

#SayTheirNames: In Gedenken an Fatih, Ferhat, Gökhan, Hamza, Kaloyan, Mercedes, Said Nesar, Sedat und Vili.

Freie Rechtsradikale

Noch eine weitere Frage zum dritten Jahrestag des Attentats: Wieso laufen so viele polizeilich gesuchte Rechtsextreme frei herum?

Laut Bundesinnenministerium werden rund 600 Rechtsextreme per Haftbefehl gesucht, davon 130 Personen, die Gewalttaten begangen haben, darunter eine „terroristische Tat“ (BMI, Zahlen vom September 2021). Eine Task Force, die sich der Vollstreckung dieser Haftbefehle widmet, gibt es nicht.

Dies sind Leute, die eine reale Gefahr für BPoC und Migrant*innen darstellen. Wo ist der mediale Aufschrei? Wieso ist es der Gesamtgesellschaft gleichgültig, wenn mehr als ein Viertel der Menschen in diesem Land im Visier von Neonazis sind?

Normalisierung des Gefährlichen

In der letzten Zeit sind drei Dinge akut zutage getreten:

Zum einen hat sich in der Pandemie gezeigt, dass eine bemerkenswert große Zahl von Menschen bereit ist, mit Neonazis gemeinsame Sache zu machen, um z.B. gegen Covid-Maßnahmen zu protestieren. Zum anderen, dass es viele Politiker*innen und Medienhäuser gibt, die mit diesen rechtsoffenen Menschen Gespräche führen und ihnen eine Plattform bieten.

Demonstrant*innen erinnern an das Attentat in Hanau. © Getty Images

So etwa der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Dies normalisiert rechtsradikale Haltungen, weil sie nicht geächtet, sondern als „Sorgen und Nöte“ normaler Bürger*innen verharmlost werden. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat im Januar 2022 die rechtsradikalen Ansichten des früheren Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen als „absonderliche Ideen“ bezeichnet – nicht etwa als gefährlich.

Nur knapp ein Jahr später bediente er sich u.a. mit seinem „Pascha“-Spruch in rechtsoffener Manier rassistischer Ressentiments im öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen. Bestimmte BPoCs hätten „in Deutschland nichts zu suchen“. Damit befeuert er eine rassistische, kriminalisierende Debatte auf dem Rücken von BPoCs und Kindern. Das ist gefährlich.  Auch der ehemalige AfD-Politiker Jörg Meuthen gilt als „gemäßigt“. Das ist absurd. Es gibt keinen gemäßigten Rassismus. Als drittes ist zu beobachten, wie stark auch im Jahr 2023 Alltagsrassismus in unserer Gesellschaft weiterhin gelebt wird. Die Ereignisse und Berichterstattung der Silvesternacht 2022/2023 zeigen, wie groß die Verantwortung von Journalist*innen ist, Stigmatisierungen zu vermeiden und gegen Vorurteile anzuarbeiten.

Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen?

Die Überlebenden und Familien der Opfer gründeten nach dem Attentat die „Initiative 19. Februar Hanau“, damit die Ermordeten der Öffentlichkeit bekannt wurden; sie fordern unermüdlich Aufklärung, sie fordern Gerechtigkeit, sie fordern Konsequenzen.

Aber was hat sich seit dem neunfachen Mord tatsächlich geändert? Anti-muslimischer Rassismus wird weiterhin nicht gezielt bekämpft, sondern beispielsweise dem Kampf gegen Islamismus nachgeordnet, als sei er weniger schlimm – oder weniger tödlich. Shisha-Bars werden nach wie vor Razzien unterzogen und somit kriminalisiert. Alltagsrassismus wird einfach hingenommen, in Schulen, bei der Arbeitssuche oder auf dem Wohnungsmarkt.

Der Generalbundesanwalt hat im Dezember 2021 seine Ermittlungen zu dem Attentat in Hanau eingestellt. Nachdem der Untersuchungsausschuss 80 Akten von der Bundesanwaltschaft herausverlangte, erhielt er diese nur geschwärzt. Anfang Dezember 2022 klagte der Untersuchungsausschuss vor dem Bundesverwaltungsgericht auf die Herausgabe der ungeschwärzten Akten, mit Erfolg: Der Generalbundesanwalt muss die fehlenden Akten nun ungeschwärzt zur Verfügung stellen.

Auch im Rahmen des Hanau-Untersuchungsausschusses wird nicht nur das Ausmaß der strukturellen, politischen und gesellschaftlichen Verfehlungen, die zur Tat und zum Tod mehrerer junger Menschen führten, deutlich. Gegenüber Hinterbliebenen und Angehörigen wird dabei tief verankerter Rassismus offengelegt, jüngst durch Witze über blockierte Notausgänge.

Die „Initiative 19. Februar Hanau“ setzt sich weiter für lückenlose Aufklärung und Konsequenzen ein.


neue deutsche organisationen

neue deutsche organisationen e.V. ist ein bundes­weites Netzwerk von rund 100 Vereinen, Organisationen und Projekten. Der Verein sieht sich als post­migrantische Bewegung gegen Rassismus und für ein inklusives Deutschland.
neuedeutsche.org/