Hilfe für Kinder ohne Kitaplatz: Wie erfolgreich ist Sprachförderung in Brückenprojekten?
Bundesweit fehlen 384.000 Kitaplätze. Deshalb gibt es Brückenprojekte. Das sind frühpädagogische Angebote insbesondere für Kinder mit Migrationsgeschichte. Sie sorgen mit professioneller alltagsintegrierter Sprachförderung für eine bessere sprachliche Ausgangssituation für den Schulstart, wie eine Studie von RuhrFutur zeigt.
„1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 – guten Appetit, ihr Lieben“ – neun Kinder sitzen an diesem Morgen am Tisch und reimen. In einem lichtdurchfluteten Klassenzimmer in der Grundschule an der Zunftmeisterstraße in Mülheim an der Ruhr sprechen sie im Chor und heben lachend bei jeder Zahl die richtige Anzahl von Fingern in die Höhe. Dann packen die Fünfjährigen ihr Frühstück aus, zeigen der Reihe nach auf das, was sie mitgebracht haben und benennen es: Schenka hat einen Apfel, Medina ein Brot, Rahan Weintrauben. Wenn eines der Kinder nicht weiterweiß, helfen die anderen oder eine der drei Betreuerinnen. Auf diese Weise lernen die Jungen und Mädchen spielerisch Deutsch – für sie eine Zweitsprache. Beim Essen wird es einen Moment lang still im Raum, in dem Mobiles aus buntem Papier von der Decke baumeln und in dem ein selbst gebasteltes Erdmännchen mit großen Kulleraugen und dicken Pausbacken vom Fensterbrett in den blauen Sommerhimmel schaut. „Das Erdmännchen ist der inoffizielle Namensgeber unserer Gruppe und eine Art Maskottchen, weil die erste Gruppe dieser Art Erdmännchen-Gruppe hieß“, erzählt die Betreuerin Iris Fork nach dem Frühstück.
Erdmännchen zwischen Kita und Schule
Seit August 2013 haben alle Kinder in Deutschland ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf Betreuung und Förderung in einer Tageseinrichtung. Theoretisch jedenfalls. Denn praktisch fehlen 2023 bundesweit 384.000 solcher Plätze. Vor allem Kinder mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrungen bleiben häufig der Kita fern – sei es, weil die Information über die Betreuungsmöglichkeit die Eltern nicht erreicht, sei es, weil die Bürokratie der Anmeldung eine zu große Hürde darstellt. Dabei ist ein gezielter Spracherwerb im Rahmen des Kindergartens oder einer Vorschule als Vorbereitung auf die erste Klasse besonders für diese Kinder wichtig. Nordrhein-Westfalen hat deshalb 2015 Brückenprojekte, auch Brückengruppen genannt, ins Leben gerufen: Einrichtungen, die niederschwellig eine Brücke zwischen Kita und Grundschule schlagen. Sie nehmen Kinder ohne Betreuungsplatz im letzten Vorschuljahr bis zu drei Stunden pro Tag auf und helfen ihnen beim Erwerb der deutschen Sprache und anderer Basiskompetenzen. So sind sie eine gute Möglichkeit, Kinder und ihre Familien an Bildungsinstitutionen heranzuführen – als Ergänzung zu den bestehenden Bildungsangeboten von unterschiedlichen Trägern – orientiert an den kindlichen und familiären Lebenssituationen sowie den Gegebenheiten vor Ort. Die Bildungsinitiative RuhrFutur des Landes NRW, die mit Kommunen, Hochschulen, der Stiftung Mercator und dem Regionalverbund Ruhr kooperiert, unterstützt 40 solcher Einrichtungen – in Mülheim an der Ruhr, Gelsenkirchen und Dortmund. Die meisten Brückenprojekt-Gruppen werden in den Räumlichkeiten des Offenen Ganztages angeboten.
Eine Studie der Initiative und der Technischen Universität Dortmund bestätigt nun: Wenn speziell geschulte Betreuer*innen die Kinder beim Spracherwerb gezielt fördern, sprechen und verstehen die Kinder bereits nach fünf Monaten die deutsche Sprache deutlich besser als ohne alltagsintegriertes Angebot. „Insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, die aufgrund geringer Kontakte zur deutschen Sprache häufig einen Bedarf an vorschulischer Sprachförderung haben, profitieren sehr von alltagsintegrierter Sprachförderung“, sagt Delia Temmler, Leiterin Handlungsfeld Frühkindliche Bildung von RuhrFutur. „Sie stellt damit einen wichtigen Baustein für mehr Bildungsgerechtigkeit dar“. Das ist auch Agnes Schauers Erfahrung. Sie koordiniert die Brückenprojekte in Mülheim an der Ruhr in Zusammenarbeit mit den freien Trägern. Das Brückenprojekt an der Grundschule Zunftmeisterstraße ist eines dieser Projekte – in Trägerschaft der Caritas. „Für einen gelungenen Start in die Schullaufbahn ist es für die Kinder enorm wichtig, dass ihre Basis- und Sprachkompetenzen vor Schuleintritt gefördert werden“, sagt Schauer.
Frühe Förderung, große Wirkung: Evaluationsstudie zu alltagsintegrierter Sprachförderung in Brückengruppen
Die Evaluationsstudie zu alltagsintegrierter Sprachförderung in erweiterten Brückengruppen fand im Rahmen des RuhrFutur-Projektes „Basisfähigkeiten stärken“ statt und wurde im Fachgebiet Sprache und Kommunikation der Technischen Universität Dortmund durchgeführt. Das Ziel war es, Betreuungspersonal in alltagsintegrierter Sprache zu schulen für den Umgang mit Kindern, die Deutsch als Zweitsprache sprechen.
Sprechanlässe durch Fragen schaffen
Nach dem gemeinsamen Frühstück können die Kinder in der Mülheimer Brückenprojekt-Gruppe frei spielen. Auch hier wird jede kleine Situation zu einer Herausforderung mit viel spielerischem Lernpotenzial. Als zwei Mädchen Bilder mit Zeichnungen einer Eiskönigin ausmalen wollen, hält Betreuerin Shadi Abpaykar einen blauen und einen grünen Buntstift in die Höhe. „Welche Farben sind das?“ fragt sie. „Blau!“, rufen beide Kinder. „Genau“, bestätigt Shadi Abpaykar. „Das ist ein blauer Stift. Und das hier ist ein grüner.“ Lachend greifen die Kinder danach und beginnen mit dem Ausmalen.
Shadi Abpaykar bringt die Kinder mit kurzen Nachfragen zum Sprechen und ergänzt deren Äußerungen hinterher inhaltlich und grammatisch. Ihr gezieltes Vorgehen ist das Ergebnis einer Fortbildung, an der sie und ihre Kolleginnen im Rahmen der Studie teilgenommen haben. Anna-Lena Scherger, Professorin im Fachbereich Sprache und Kommunikation der TU Dortmund, hat die Untersuchung zusammen mit ihrer Doktorandin Jannika Böse geleitet. „Es gab bereits 2017 eine Studie zu den Brückenprojekt-Gruppen“, erzählt die Wissenschaftlerin, die unter anderem zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen forscht. „Damals wurde herausgefunden, dass die Brückengruppen mehrsprachig aufwachsende Kinder sehr gut in ihrem sozialen Verhalten, in der Motorik und im Verhaltensmanagement unterstützen. Anders sah es jedoch bei der Sprachförderung aus. Da gab es in der Kurve einen Knick nach unten. Dabei brauchen wir ja gerade die sprachliche Förderung als Vorbereitung auf die Schule.“ Aus diesem Grund haben die Dortmunder Wissenschaftlerinnen in Kooperation mit RuhrFutur für die aktuelle Studie etwa 20 Betreuer*innen in Sprachförderungsstrategien geschult und anschließend überprüft, wie sich die neu gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis niederschlagen.
Die Fortbildung zur alltagsintegrierten Sprachförderung fand während der Pandemie über ein Videokonferenzsystem an drei Vormittagen und in einem Umfang von zwölf Stunden statt. Die Teilnehmer*innen lernten in der Weiterqualifizierung, ein Bewusstsein für den Wortschatz und die Grammatikfähigkeiten der Kinder zu entwickeln, und erfuhren, wie sie die Aufmerksamkeit der Jungen und Mädchen auf eigene sprachliche Interaktion lenken können.
Mehrsprachige Pädagog*innen motivieren
Nach dem Ausmalen spielen Shadi Abpaykar und die Betreuerin Enga Jak mit drei Kindern ein Kommunikationsspiel. Dafür tragen Schenka, Rumyana und Leon Stirnbänder, an denen jeweils eine Karte befestigt ist. Was auf den Karten als Motiv und Schrift zu sehen ist, wissen die Kinder nicht. Sie müssen das abgebildete Objekt erraten, indem sie ihren Mitspieler*innen Fragen stellen: „Bin ich ein Tier?“ „Bin ich etwas zu essen?“ Auf diese Weise kreisen sie die Lösung immer weiter ein und finden schließlich heraus, dass Schenka einen Teller Spaghetti darstellt, Rumyana einen Marienkäfer und Leon einen Computer. „Ein solches Spiel ist ein gutes Werkzeug, um konkrete Sprechanlässe zu schaffen“, bestätigt Sprachwissenschaftlerin Anna-Lena Scherger die Wirksamkeit solcher Fördermaßnahmen. „Es hilft, den Wortschatz auszubauen, und natürlich entsteht in der Gruppe ein Dialog – auch das ist wichtig.“
Betreuerin Shadi Abpaykar ist ausgebildete Tänzerin und hat im Iran mit Kindern gearbeitet, bevor sie vor fünf Jahren nach Deutschland kam. Sie war sich anfangs unsicher, ob sie an einer Studie zur Sprachförderung bei Kindern teilnehmen kann. „Schließlich mache ich selbst noch Grammatikfehler und möchte den Kindern nichts Falsches beibringen“, sagt sie. Eine nachvollziehbare, aber unbegründete Sorge. Denn Mehrsprachigkeit kann von Vorteil sein, weiß Anna-Lena Scherger. „Mehrsprachige Betreuer*innen sind für Kinder ein Vorbild. Sie sehen, dass auch die Erwachsenen noch lernen und damit erfolgreich sind. Das kann sehr motivierend sein. Außerdem ist es eine Kompetenz, wenn Menschen zwischen zwei Sprachen wechseln und sogar dann kommunizieren können, wenn sie einmal nicht sofort das passende Wort in der Gesprächssprache parat haben.“ Wie bei Rumyana. Sie möchte Milch sagen, und weil ihr dieser Begriff nicht einfällt, weicht sie auf das englische Wort „milk“ aus. Die Betreuerinnen verstehen und übersetzen. „Grundsätzlich ist es gut, die Kinder positiv darin zu bestärken, dass ihre Mehrsprachigkeit einen Pluspunkt darstellt“, sagt die Dortmunder Wissenschaftlerin.
Internationale Betreuer*innen sind für Kinder ein Vorbild. Sie sehen, dass auch die Erwachsenen etwas lernen müssen und damit erfolgreich sind. Das kann sehr motivierend sein.
Gemeinsame Sprache finden
Manchmal beziehen die Betreuerinnen die Herkunftssprache der Kinder auch bewusst mit ein. Iris Fork, die bereits seit vielen Jahren in der frühkindlichen Pädagogik tätig ist, erinnert sich an eine Brückengruppe mit zwei Kindern aus der Ukraine. „An einem Tag sah ich, dass die Jungs Szenen aus dem Krieg malten – Panzer mit russischen und ukrainischen Flaggen, die sich gegenüberstanden. In dem Moment stand für mich nicht die Sprache im Vordergrund, sondern die traumatische Erfahrung, auf die ich eingehen wollte“, erzählt die Betreuerin und deutet auf ihr Handy. „Mithilfe eines Übersetzungsprogramms aus dem Internet konnten wir uns verständigen, und anschließend habe ich mit den Eltern darüber gesprochen, wie man den Kindern beim Verarbeiten der belastenden Erinnerungen helfen kann.“
Zuhören am Anfang und am Ende
Der Vormittag in der Brückengruppe vergeht wie im Flug. Vor dem Aufräumen trommelt Iris Fork alle Kinder zusammen, um mit ihnen Geräusche-Memory zu spielen. Auf dem Tisch stehen bereits bunt beklebte und verschlossene Konservendosen, in die jeweils verschiedene Gegenstände gefüllt sind: Steinchen, Wolle oder Holz. Dann geht es reihum: Die Kinder schütteln und lauschen, lauschen und schütteln. Wie klingt ein Gummiband, das an den Rand einer Metalldose schlägt? Ganz anders als eine Büroklammer. Hinhören. Zuhören. Unterscheiden: „Das ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht dem Reim, den die Kinder am Anfang der Frühstückspause aufgesagt haben, gar nicht unähnlich“, sagt Anna-Lena Scherger. Denn auf diese Weise entwickeln Kinder ein phonologisches Bewusstsein. „Und das ist neben dem Wortschatz eine der wichtigen Vorläuferfähigkeiten für den Schriftspracherwerb. Nur wenn ich richtig hören und Laute unterscheiden kann, kann ich irgendwann auch Buchstaben diesen Lauten zuordnen“, so die Wissenschaftlerin.
Zum Schluss singen Kinder und Betreuerinnen gemeinsam: „Alle Leut’ gehn jetzt nach Haus.“ Strahlende Augen, lautes Lachen und viele neue Wörter und Erfahrungen im Kopf. Draußen warten bereits die Eltern. Sie sind froh über das Betreuungsangebot durch die engagierten Betreuerinnen und über die Türen, die sich öffnen, wenn ihre Kinder früh die Sprache des Landes erwerben, in dem sie zu Hause sind.
RuhrFutur
RuhrFutur möchte das Bildungssystem der Metropole Ruhr leistungsfähiger und gerechter gestalten. Ziel der Initiative: Allen Kindern und Jugendlichen sollen Bildungszugang, -teilhabe und -erfolg in gleichem Maß ermöglicht werden.
www.ruhrfutur.de