Hilfe für Kinder ohne Kitaplatz: Wie erfolgreich ist Sprach­förderung in Brücken­projekten?

Hilfe für Kinder ohne Kitaplatz: Wie erfolgreich ist Sprach­förderung in Brücken­projekten?
Autorin: Carola Hoffmeister Fotos: Dominik Asbach 12.09.2023

Bundesweit fehlen 384.000 Kitaplätze. Deshalb gibt es Brücken­projekte. Das sind früh­­pädagogische Angebote insbesondere für Kinder mit Migrations­geschichte. Sie sorgen mit professioneller all­­tags­­integrierter Sprach­­förderung für eine bessere sprachliche Ausgangs­situation für den Schul­start, wie eine Studie von RuhrFutur zeigt.

„1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 – guten Appetit, ihr Lieben“ – neun Kinder sitzen an diesem Morgen am Tisch und reimen. In einem licht­durch­fluteten Klassen­zimmer in der Grundschule an der Zunftmeisterstraße in Mülheim an der Ruhr sprechen sie im Chor und heben lachend bei jeder Zahl die richtige Anzahl von Fingern in die Höhe. Dann packen die Fünfjährigen ihr Frühstück aus, zeigen der Reihe nach auf das, was sie mitgebracht haben und benennen es: Schenka hat einen Apfel, Medina ein Brot, Rahan Wein­trauben. Wenn eines der Kinder nicht weiter­weiß, helfen die anderen oder eine der drei Betreuerinnen. Auf diese Weise lernen die Jungen und Mädchen spielerisch Deutsch – für sie eine Zweit­sprache. Beim Essen wird es einen Moment lang still im Raum, in dem Mobiles aus buntem Papier von der Decke baumeln und in dem ein selbst gebasteltes Erdmännchen mit großen Kulleraugen und dicken Pausbacken vom Fenster­brett in den blauen Sommer­himmel schaut. „Das Erdmännchen ist der inoffizielle Namens­geber unserer Gruppe und eine Art Maskottchen, weil die erste Gruppe dieser Art Erdmännchen-Gruppe hieß“, erzählt die Betreuerin Iris Fork nach dem Frühstück.

Auch in der Frühstückspause lernen die Kinder nebenbei Deutsch – zum Beispiel, wenn sie den Betreuerinnen zuhören. © Dominik Asbach

Erdmännchen zwischen Kita und Schule

Seit August 2013 haben alle Kinder in Deutschland ab dem vollendeten ersten Lebens­jahr einen Rechts­anspruch auf Betreuung und Förderung in einer Tages­einrichtung. Theoretisch jedenfalls. Denn praktisch fehlen 2023 bundesweit 384.000 solcher Plätze. Vor allem Kinder mit Migrations­geschichte und Flucht­erfahrungen bleiben häufig der Kita fern – sei es, weil die Information über die Betreuungs­möglichkeit die Eltern nicht erreicht, sei es, weil die Bürokratie der Anmeldung eine zu große Hürde darstellt. Dabei ist ein gezielter Spracherwerb im Rahmen des Kinder­gartens oder einer Vorschule als Vorbereitung auf die erste Klasse besonders für diese Kinder wichtig. Nordrhein-Westfalen hat deshalb 2015 Brücken­projekte, auch Brücken­gruppen genannt, ins Leben gerufen: Einrichtungen, die nieder­schwellig eine Brücke zwischen Kita und Grundschule schlagen. Sie nehmen Kinder ohne Betreuungs­platz im letzten Vorschul­jahr bis zu drei Stunden pro Tag auf und helfen ihnen beim Erwerb der deutschen Sprache und anderer Basis­kompetenzen. So sind sie eine gute Möglichkeit, Kinder und ihre Familien an Bildungs­institutionen heran­zu­führen – als Ergänzung zu den bestehenden Bildungs­angeboten von unter­schiedlichen Trägern – orientiert an den kindlichen und familiären Lebens­situationen sowie den Gegeben­heiten vor Ort. Die Bildungs­initiative RuhrFutur des Landes NRW, die mit Kommunen, Hochschulen, der Stiftung Mercator und dem Regionalverbund Ruhr kooperiert, unterstützt 40 solcher Einrichtungen – in Mülheim an der Ruhr, Gelsenkirchen und Dortmund. Die meisten Brücken­projekt-Gruppen werden in den Räumlichkeiten des Offenen Ganztages angeboten.

Gute Planung ist alles: Iris Fork, Enga Jak und Shadi Abpaykar planen die Vormittage mit den Kindern minutiös durch. © Dominik Asbach

Eine Studie der Initiative und der Technischen Universität Dortmund bestätigt nun: Wenn speziell geschulte Betreuer*innen die Kinder beim Spracherwerb gezielt fördern, sprechen und verstehen die Kinder bereits nach fünf Monaten die deutsche Sprache deutlich besser als ohne alltags­integriertes Angebot. „Insbesondere Kinder mit Migrations­hinter­grund, die aufgrund geringer Kontakte zur deutschen Sprache häufig einen Bedarf an vorschulischer Sprach­förderung haben, profitieren sehr von alltags­integrierter Sprach­förderung“, sagt Delia Temmler, Leiterin Handlungsfeld Frühkindliche Bildung von RuhrFutur. „Sie stellt damit einen wichtigen Baustein für mehr Bildungs­gerechtigkeit dar“. Das ist auch Agnes Schauers Erfahrung. Sie koordiniert die Brückenprojekte in Mülheim an der Ruhr in Zusammen­arbeit mit den freien Trägern. Das Brückenprojekt an der Grundschule Zunftmeister­straße ist eines dieser Projekte – in Trägerschaft der Caritas. „Für einen gelungenen Start in die Schullaufbahn ist es für die Kinder enorm wichtig, dass ihre Basis- und Sprachkompetenzen vor Schuleintritt gefördert werden“, sagt Schauer.

Frühe Förderung, große Wirkung: Evaluations­studie zu alltags­integrierter Sprachförderung in Brücken­gruppen

Die Evaluationsstudie zu alltags­integrierter Sprach­förderung in erweiterten Brücken­gruppen fand im Rahmen des RuhrFutur-Projektes „Basis­fähigkeiten stärken“ statt und wurde im Fachgebiet Sprache und Kommunikation der Technischen Universität Dortmund durch­geführt. Das Ziel war es, Betreuungs­personal in alltags­integrierter Sprache zu schulen für den Umgang mit Kindern, die Deutsch als Zweit­sprache sprechen.

Zur Studie

Sprechanlässe durch Fragen schaffen

Nach dem gemeinsamen Frühstück können die Kinder in der Mülheimer Brücken­projekt-Gruppe frei spielen. Auch hier wird jede kleine Situation zu einer Heraus­forderung mit viel spielerischem Lern­potenzial. Als zwei Mädchen Bilder mit Zeichnungen einer Eiskönigin ausmalen wollen, hält Betreuerin Shadi Abpaykar einen blauen und einen grünen Buntstift in die Höhe. „Welche Farben sind das?“ fragt sie. „Blau!“, rufen beide Kinder. „Genau“, bestätigt Shadi Abpaykar. „Das ist ein blauer Stift. Und das hier ist ein grüner.“ Lachend greifen die Kinder danach und beginnen mit dem Ausmalen.

Shadi Abpaykar kam vor etwa fünf Jahren von Teheran nach Mülheim an der Ruhr und weiß, wie herausfordernd es sein kann, sich in einer fremden Sprache auszudrücken. © Dominik Asbach
Alle meine Farben: Auch ein Gespräch über Buntstifte dient dem Spracherwerb. © Dominik Asbach
Beim freien Spielen unterhalten sich die Kinder auf Deutsch – oder mit Händen und Füßen. © Dominik Asbach

Shadi Abpaykar bringt die Kinder mit kurzen Nachfragen zum Sprechen und ergänzt deren Äußerungen hinterher inhaltlich und grammatisch. Ihr gezieltes Vorgehen ist das Ergebnis einer Fortbildung, an der sie und ihre Kolleginnen im Rahmen der Studie teilgenommen haben. Anna-Lena Scherger, Professorin im Fachbereich Sprache und Kommunikation der TU Dortmund, hat die Untersuchung zusammen mit ihrer Doktorandin Jannika Böse geleitet. „Es gab bereits 2017 eine Studie zu den Brückenprojekt-Gruppen“, erzählt die Wissenschaftlerin, die unter anderem zur Diagnostik von Sprach­entwicklungs­störungen forscht. „Damals wurde heraus­gefunden, dass die Brücken­gruppen mehrsprachig aufwachsende Kinder sehr gut in ihrem sozialen Verhalten, in der Motorik und im Verhaltens­management unter­stützen. Anders sah es jedoch bei der Sprach­förderung aus. Da gab es in der Kurve einen Knick nach unten. Dabei brauchen wir ja gerade die sprachliche Förderung als Vorbereitung auf die Schule.“ Aus diesem Grund haben die Dortmunder Wissenschaftlerinnen in Kooperation mit RuhrFutur für die aktuelle Studie etwa 20 Betreuer*innen in Sprach­förderungs­strategien geschult und anschließend überprüft, wie sich die neu gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis niederschlagen.

Die Fortbildung zur alltags­integrierten Sprachförderung fand während der Pandemie über ein Video­konferenz­system an drei Vormittagen und in einem Umfang von zwölf Stunden statt. Die Teilnehmer*innen lernten in der Weiter­qualifizierung, ein Bewusstsein für den Wortschatz und die Grammatikfähigkeiten der Kinder zu entwickeln, und erfuhren, wie sie die Aufmerksamkeit der Jungen und Mädchen auf eigene sprachliche Interaktion lenken können.

Mehrsprachige Pädagog*innen motivieren

Nach dem Ausmalen spielen Shadi Abpaykar und die Betreuerin Enga Jak mit drei Kindern ein Kommunikations­spiel. Dafür tragen Schenka, Rumyana und Leon Stirnbänder, an denen jeweils eine Karte befestigt ist. Was auf den Karten als Motiv und Schrift zu sehen ist, wissen die Kinder nicht. Sie müssen das abgebildete Objekt erraten, indem sie ihren Mitspieler*innen Fragen stellen: „Bin ich ein Tier?“ „Bin ich etwas zu essen?“ Auf diese Weise kreisen sie die Lösung immer weiter ein und finden schließlich heraus, dass Schenka einen Teller Spaghetti darstellt, Rumyana einen Marienkäfer und Leon einen Computer. „Ein solches Spiel ist ein gutes Werkzeug, um konkrete Sprech­anlässe zu schaffen“, bestätigt Sprach­wissenschaftlerin Anna-Lena Scherger die Wirksamkeit solcher Förder­maßnahmen. „Es hilft, den Wortschatz auszubauen, und natürlich entsteht in der Gruppe ein Dialog – auch das ist wichtig.“

Beim Ratespiel mit Enga Jak erweitern die Kinder ihren Wortschatz. © Dominik Asbach
Was bin ich? Erst Marienkäfer, dann eine Maus. © Dominik Asbach

Betreuerin Shadi Abpaykar ist ausgebildete Tänzerin und hat im Iran mit Kindern gearbeitet, bevor sie vor fünf Jahren nach Deutschland kam. Sie war sich anfangs unsicher, ob sie an einer Studie zur Sprach­förderung bei Kindern teilnehmen kann. „Schließlich mache ich selbst noch Grammatik­fehler und möchte den Kindern nichts Falsches beibringen“, sagt sie. Eine nach­voll­zieh­bare, aber unbegründete Sorge. Denn Mehr­sprachigkeit kann von Vorteil sein, weiß Anna-Lena Scherger. „Mehr­sprachige Betreuer*innen sind für Kinder ein Vorbild. Sie sehen, dass auch die Erwachsenen noch lernen und damit erfolgreich sind. Das kann sehr motivierend sein. Außerdem ist es eine Kompetenz, wenn Menschen zwischen zwei Sprachen wechseln und sogar dann kommunizieren können, wenn sie einmal nicht sofort das passende Wort in der Gesprächs­sprache parat haben.“ Wie bei Rumyana. Sie möchte Milch sagen, und weil ihr dieser Begriff nicht einfällt, weicht sie auf das englische Wort „milk“ aus. Die Betreuerinnen verstehen und übersetzen. „Grundsätzlich ist es gut, die Kinder positiv darin zu bestärken, dass ihre Mehrsprachigkeit einen Pluspunkt darstellt“, sagt die Dortmunder Wissenschaftlerin.

Internationale Betreuer*innen sind für Kinder ein Vorbild. Sie sehen, dass auch die Erwachsenen etwas lernen müssen und damit erfolg­reich sind. Das kann sehr motivierend sein.

Anna-Lena Scherger, Wissenschaftlerin

Gemeinsame Sprache finden

Manchmal beziehen die Betreuerinnen die Herkunfts­sprache der Kinder auch bewusst mit ein. Iris Fork, die bereits seit vielen Jahren in der frühkindlichen Pädagogik tätig ist, erinnert sich an eine Brücken­gruppe mit zwei Kindern aus der Ukraine. „An einem Tag sah ich, dass die Jungs Szenen aus dem Krieg malten – Panzer mit russischen und ukrainischen Flaggen, die sich gegen­über­standen. In dem Moment stand für mich nicht die Sprache im Vorder­grund, sondern die traumatische Erfahrung, auf die ich eingehen wollte“, erzählt die Betreuerin und deutet auf ihr Handy. „Mithilfe eines Übersetzungs­programms aus dem Internet konnten wir uns verständigen, und anschließend habe ich mit den Eltern darüber gesprochen, wie man den Kindern beim Verarbeiten der belastenden Erinnerungen helfen kann.“

Kinder mit Migrationsgeschichte, die wenig Kontakt zur deutschen Sprache haben, profitieren sehr von alltagsintegrierter Sprachförderung in Brückenprojekt-Gruppen. © Dominik Asbach

Zuhören am Anfang und am Ende

Der Vormittag in der Brückengruppe vergeht wie im Flug. Vor dem Aufräumen trommelt Iris Fork alle Kinder zusammen, um mit ihnen Geräusche-Memory zu spielen. Auf dem Tisch stehen bereits bunt beklebte und verschlossene Konservendosen, in die jeweils verschiedene Gegenstände gefüllt sind: Steinchen, Wolle oder Holz. Dann geht es reihum: Die Kinder schütteln und lauschen, lauschen und schütteln. Wie klingt ein Gummiband, das an den Rand einer Metall­dose schlägt? Ganz anders als eine Büroklammer. Hinhören. Zuhören. Unterscheiden: „Das ist aus sprach­wissenschaftlicher Sicht dem Reim, den die Kinder am Anfang der Früh­stücks­pause aufgesagt haben, gar nicht unähnlich“, sagt Anna-Lena Scherger. Denn auf diese Weise entwickeln Kinder ein phonologisches Bewusstsein. „Und das ist neben dem Wortschatz eine der wichtigen Vorläufer­fähigkeiten für den Schrift­sprach­erwerb. Nur wenn ich richtig hören und Laute unterscheiden kann, kann ich irgendwann auch Buchstaben diesen Lauten zuordnen“, so die Wissenschaftlerin.

Zum Schluss singen Kinder und Betreuerinnen gemeinsam: „Alle Leut’ gehn jetzt nach Haus.“ Strahlende Augen, lautes Lachen und viele neue Wörter und Erfahrungen im Kopf. Draußen warten bereits die Eltern. Sie sind froh über das Betreuungs­angebot durch die engagierten Betreuerinnen und über die Türen, die sich öffnen, wenn ihre Kinder früh die Sprache des Landes erwerben, in dem sie zu Hause sind.


RuhrFutur

RuhrFutur möchte das Bildungs­system der Metropole Ruhr leistungsfähiger und gerechter gestalten. Ziel der Initiative: Allen Kindern und Jugendlichen sollen Bildungs­zugang, -teilhabe und -erfolg in gleichem Maß ermöglicht werden.
www.ruhrfutur.de