Nach Hanau in die Politik: Mahwish Iftikhar
Sie ist ein Vorbild für Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte. Mahwish Iftikhar stammt aus Pakistan, wurde mit nur 21 Jahren Kommunalpolitikerin für Bündnis 90/Die Grünen im Main-Kinzig-Kreis – in der Mitte Deutschlands. „Vielfalt zeigen“ ist ihr Lebensmotto, inzwischen ist sie vielfaltspolitische Sprecherin der Grünen Jugend Hessen. Wie hat sie das gemacht?
Mit Zahlen und Statistik kennt sich Mahwish Iftikhar aus. Elf Prozent der Abgeordneten hätten auf Bundesebene mittlerweile einen migrantischen Hintergrund, erzählt die Studentin der Politologie. Das sei nicht super, aber ganz okay. Laut Mikrozensus von 2019 hätten mehr als 21 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, was eigentlich bedeuten müsste: Gut ein Viertel aller Abgeordneten müsste eine Migrationsgeschichte haben. Auf der kommunalen Ebene seien Migrant*innen sowieso stärker als auf der Bundesebene unterrepräsentiert. „Ich war 2021 bei der Kommunalwahl die Einzige auf der Liste.“ Was sie letztlich in die Politik getrieben hat? Auslöser war der rassistische Anschlag am 19. Februar 2020 in Hanau, bei dem neun Menschen ermordet wurden.
Lediglich 18 Kilometer entfernt von Hanau liegt das Zuhause von Mahwish Iftikhar. Die 23-Jährige lebt in Nidderau, einem Städtchen mit rund 20.000 Einwohner*innen. Es ist die fünftgrößte Stadt im Main-Kinzig-Kreis (MKK) – und angeblich der sonnenreichste Ort Hessens. Von hier aus sind es gut 25 Kilometer nach Westen bis zum Campus der Goethe-Universität in Frankfurt, wo sie ein Bachelorstudium in Politikwissenschaften und Soziologie absolviert hat und aktuell ihren Master macht.
Der Gesellschaft etwas zurückgeben
Bereits vor ihrem Start in die Kommunalpolitik war Mahwish Iftikhar bei der Grünen Jugend Hessen aktiv, soziale Themen haben sie schon früh umgetrieben. In der weiterführenden Schule habe sie etwa ein Senior*innenprojekt auf die Beine gestellt: Jeden Freitag trafen sich Schüler*innen mit Senior*innen für drei Stunden und tauschten sich aus. „Das war großartig“, findet sie auch im Nachhinein. Für ihr ehrenamtliches Engagement wurde Iftikhar sogar vom hessischen Kultusminister Ralph Alexander Lorz ausgezeichnet. Mit jenem Foto startete ihr Instagram-Account im Dezember 2017: Die damals 17-Jährige steht neben ihren sichtlich stolzen Eltern und strahlt. „Ich wollte immer schon der Gesellschaft, die mich und meine Familie aufgenommen hat, etwas zurückgeben“, beschreibt sie ihre Motivation.
Und dann kam Hanau. Noch heute ist ihr Entsetzen zu spüren: „Es hat mich umgehauen, dass Menschen sterben müssen – nur wegen ihrer Herkunft.“ Ihre Trauer bewältigte sie in langen Gesprächen, worüber ihr klar wurde: „Es ist Zeit, dass ich Gesicht zeige.“ Der MKK sei der bevölkerungsreichste Landkreis in Hessen, „eine ländlich geprägte Region, in der die Rechten überdurchschnittlich stark aktiv sind“. Auf Listenplatz drei wurde sie daraufhin von Bündnis 90/Die Grünen bei der Kommunalwahl für den Kreistag aufgestellt, ihr Slogan auf dem Wahlplakat war schlicht: Vielfalt zeigen. „Man hätte dich gleich mit erschießen sollen“ – so lautete einer der schrecklichsten Kommentare auf Facebook, wo sich die drei Spitzenkandidat*innen der Partei präsentierten.
Weitermachen trotz Hassrede
„Ich war die einzige Person mit Migrationsgeschichte bei uns in der Fraktion, was ja auch äußerlich ersichtlich ist. So habe ich ganz viel Hate abbekommen auf Social Media.“ Ob sie Angst hatte? Sie dürfe sich nicht kleinmachen lassen, meint sie tapfer. Später gesteht sie, dass ihre Eltern, die sonst so „supportive“ seien, ihr vehement nahegelegt hatten, sich nicht in den öffentlichen Fokus zu begeben. „Mach das nicht, das ist viel zu gefährlich.“ Die Tochter entgegnete damals und wiederholt es heute: „Das ist doch genau der Grund, weshalb ich es mache: Wir dürfen uns nicht länger verstecken, das macht die Rechten auf Dauer nur stärker.“
Eine mutige junge Frau. Inzwischen studiert sie im Masterstudiengang Friedens- und Konfliktforschung. Schon in der Kindheit hatte sie lernen müssen, sich durchzusetzen. Sie war sechs Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter nach Deutschland kam – 2006 war das. In ihrer Heimat, der pakistanischen Kaschmir-Region, herrschte Krieg, der Vater war bereits früh geflüchtet und wollte Frau und Tochter zu sich holen. „Die ersten Jahre waren schrecklich“, erinnert sie sich an ihre Anfänge, damals noch in Offenbach.
Sie wurde eingeschult, konnte aber kein Wort Deutsch, die Lehrer*innen verstanden ihr bisschen Englisch nicht. Außerdem: „Mein Vater hatte anfangs drei Jobs, meine Mutter war auf meine Hilfe angewiesen.“ So half sie im Haushalt, mit dem Baby und übersetzte später auch bei Ärzt*innen, was sie verstand. „Ich habe mir alles selbst beigebracht“, erzählt die junge Frau so nebenbei, und es klingt ganz selbstverständlich. Fernsehen und insbesondere Cartoons brachten ihr die fremde Sprache nahe. Einen Sprachkurs habe es damals nicht gegeben. Erklärt das ihre außergewöhnliche Reife? „Ich hatte keine Zeit, Kind zu sein“, bestätigt sie.
Engagement erleichtert Ankommen
Vermutlich handelte Mahwish Iftikhar deshalb schon früh so erwachsen: Sie wurde Mitglied bei UNICEF, bei Amnesty International, engagierte sich auf dem Gymnasium in der Schüler*innenmitverwaltung und lancierte an ihrem 19. Geburtstag ihre erste Spendenaktion für Kaschmir, weitere folgten während der Pandemie: „Ich wünsche mir keine Geschenke. Bitte spendet stattdessen alle, damit sich die Menschen dort eine warme Mahlzeit leisten können.“ Brücken bauen für jene, die am Rand stehen, eigene Privilegien hinterfragen, gegen ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft agieren. Iftikhar ist überzeugt: „Viele Kulturen machen ein Land reicher.“ Und so kam ihr als Teenager schon die Idee für ein kulinarisches Schulfest, bei dem jede und jeder eine Lieblingsspeise aus der eigenen Kultur mitbringen sollte. Gut essen im Kreis von Freund*innen und der Familie, das liebt und entspannt sie heute noch.
Es war auch die Zeit – rund zehn Jahre nach ihrer Flucht –, in der sich Mahwish Iftikhar endlich in Deutschland angekommen fühlte. Das hatte viel damit zu tun, dass sie damals Stipendiatin der integrativen START-Stiftung wurde. Im Rückblick sagt sie, dass durch die Stiftungsarbeit ihre persönliche Deutschlandreise erst so richtig begonnen habe. Endlich entfaltete sich ein Netzwerk gleichgesinnter Menschen um sie herum, und sie fühlte sich nicht mehr so allein mit ihren Erlebnissen von Alltagsrassismus, die es immer wieder gab und gibt: Dass ihr etwa die Klassenlehrerin die gymnasiale Empfehlung habe verweigern wollen, obwohl sie lauter Einsen im Zeugnis vorweisen konnte und nur in Deutsch eine befriedigende Note, hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ungerechtigkeiten empören sie bis heute.
Wermutstropfen bei Einbürgerung
2018 wurde sie eingebürgert. Glücksgefühl einerseits, späterer Wermutstropfen andererseits: Die doppelte Staatsbürgerschaft war für sie nicht möglich, den pakistanischen Pass musste sie abgeben. „Dabei ist Pakistan doch auch Teil meiner Identität.“ Bei pakistanischen Hochzeiten zeigt sich die junge Deutsche in den aufwendig bestickten traditionellen Gewändern, sie feiert selbstverständlich das Opferfest Eid Mubarak und bezeichnet sich als Muslimin. „Religion ist meine Privatsache“, betont sie, da möchte sie in keine Schublade gesteckt werden. Religion gebe ihr Mut, wenn sie mal verzagt sei, und der Islam, so wie sie ihn versteht, respektiere die Menschenrechte und proklamiere den Frieden.
Wenn sie so von sich erzählt, ist ihr anzuhören, dass sie diese Sätze schon öfter vorgetragen hat. In Nidderau, wo die Studentin heute noch gemeinsam mit ihren Eltern und den drei jüngeren Schwestern (18, 15, 11) lebt, hat sie gelernt, für sich einzustehen. Dem Nachbarn gegenüber, der seinerzeit skeptisch, um nicht zu sagen fremdenfeindlich reagierte, brachte die Familie immer wieder Kuchen vorbei, und Mahwish Iftikhar kam mit ihm ins Gespräch: „Migrant*innen nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“ – „Nein! Wer, glauben Sie, bekommt allein wegen des Nachnamens den Job, wenn sich meine Mutter und Sie bei gleicher Qualifikation bewerben?“ In diesem Stil liefen die Gespräche zwischen dem Teenager und dem älteren Mann, der dadurch zu begreifen begann, was es wirklich bedeutet, in einem fremden Land Fuß fassen zu wollen.
Die Menschen sollten miteinander und nicht übereinander reden, das hat sie auch in der noch kurzen Zeit als Politikerin gelernt. Zwischen Privatem und Politischem gibt es bei ihr übrigens kaum eine Trennlinie: „Ich trete nach außen genauso auf wie in meiner persönlichen Community.“ Hausarbeiten im Studium nehmen meist Themen auf, die ihr im Alltag begegnen. Studium und Politik ergänzen sich gut. „Ich bin in der Politik, um nicht nur von außen draufzuschauen.“
Auf die Vielfalt, Bewerbung, los!
Das Projekt „Diversify“ der Deutschlandstiftung Integration richtet sich an junge Menschen im Alter zwischen 16 und 35 Jahren, die sich eine berufliche Laufbahn in der Politik vorstellen können: junge Menschen mit Migrationsgeschichte, aber auch jene, die sozioökonomisch benachteiligt sind, und ebenso Kinder aus nicht-akademischen Haushalten. Das Programm besteht aus unterschiedlichen Sparten. Das Diversify-Mentoringprogramm etwa bringt Teilnehmer*innen mit (ehemaligen) Politiker*innen zusammen, die sie als Mentor*innen bei der Ausbildungsplanung und bei der Karriereentwicklung unterstützen. Das Hospitationsprogramm hingegen ermöglicht vergütete Hospitationen bei politischen Amtsträger*innen. So erhalten die Teilnehmer*innen Praxiseinblicke in das weite Berufsfeld Politik.
Die Bewerbungsfristen sind unterschiedlich: Beim Hospitationsprogramm endet die Frist bereits am 31. August, Programmstart ist hier im Oktober. Für das Mentoringprogramm können sich Interessent*innen noch bis zum 30. September bewerben. Der Start des Mentoringprogramms ist im November vorgesehen. Unterlagen sowie weitere Informationen gibt es bei Diversify jetzt.
Diversität in Kommunen
Sie erfährt überdies viel Rückhalt: Bei Grünen-Chef Omid Nouripour machte sie ein Praktikum, auch hospitierte sie fünf Monate im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von Svenja Schulze (SPD). Im Unterschied dazu, so kommt es ihr vor, ist es auf der kommunalen Ebene bisweilen doch recht mühsam. Mühsam sei es auch, Kontakte zu knüpfen oder über Praktika Zugang zu erhalten. Zumal Mahwish Iftikhar nicht die Gelegenheit hatte, ein Mentoringprogramm wie Diversify zu durchlaufen.
„Ich musste mir alle Kontakte selbst erarbeiten“, sagt sie, und sie betont: „Für alle, die sich bewerben, ist Diversify eine echte Chance, sich einen leichteren Einstieg in die Politik zu verschaffen.“ Sitzungstage seien lang und teils anstrengend zu organisieren neben dem Studium und der Arbeit als Werkstudentin für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung. Auf dem Land fahre zudem der ÖPNV vor allem abends zu selten. Bisweilen, wenn ihr die knappe Zeit davonzulaufen droht, fährt der Vater seine Älteste, damit sie es zum Beispiel noch rechtzeitig in die Kreistagssitzung schafft.
Warum sie sich den Stress trotz teils massiver Anfeindungen antut? Es geschähen doch auch viele positive Dinge. „Heute bin ich vielfaltspolitische Sprecherin der Grünen Jugend Hessen. Das ist eine Position, die nur eingerichtet wurde, weil wir die Idee dazu entwickelt haben.“ An dieser Stelle wird Mahwish Iftikhar richtig euphorisch: Ohne sie gäbe es die Funktion gar nicht! Und gerade hat sie eine Position auf Landesebene übernommen: Auf dem Landesparteitag wurde sie zur Delegierten des Landes Hessen in den bundesweiten Diversitätsrat gewählt. Nach der Sommerpause geht dann der hessische Landeswahlkampf in den Endspurt. Ihr Motto? Noch mehr ins Gespräch kommen, überzeugen – und Vielfalt zeigen.
Diversify
Das Projekt „Diversify“ der Deutschlandstiftung Integration zielt darauf, die Repräsentation und Partizipation gesellschaftlich benachteiligter Menschen zu stärken. Diversify richtet sich an junge Menschen im Alter zwischen 16 und 35 Jahren, die sich eine berufliche Laufbahn in der Politik vorstellen können. Unterstützung sollen junge Menschen mit Migrationsgeschichte erfahren, aber auch jene, die sozioökonomisch benachteiligt sind, und ebenso Kinder aus nicht-akademischen Haushalten.