Teilhabe im Dreivierteltakt
Tanzen verbindet – so wie im Marienheim in Dessau-Roßlau. Dort drehen Geflüchtete, Menschen mit Migrationsbiografie und Bewohner*innen eines Altenheims gemeinsam ihre Runden übers Parkett. Das Begegnungsprojekt „One Community“ ist ein Beispiel für den Erfolg der teilhabeorientierten Integration.
Durch das Stimmengewirr der Kaffeegesellschaft im Aufenthaltsraum dringt der Ruf einer Kuckucksuhr. Horst Kaczmarek sagt: „Leute, lasst mich durch! Ich möchte wirklich keine Minute versäumen!“ Der 96-Jährige ist einer von zwölf Bewohner*innen des Marienheims der Anhaltischen Diakonissenanstalt, die im „One Community“-Projekt fünf Monate lang Walzer tanzten. Jeden Dienstag traf er sich mit internationalen Studierenden der Hochschule Anhalt, Geflüchteten, Menschen mit Migrationsbiografie, Schüler*innen und Ehrenamtlichen, um zu erleben, wie Musik verbindet. Sie alle sind Teil der Dokumentation „Noch einmal Walzer“, die im Rahmen des Projektes entstand. Heute wird der Film gezeigt.
„Ich sehe mich zum ersten Mal so groß auf einer Leinwand und bin sehr neugierig“, sagt Horst Kaczmarek. Er lässt sich eine Piccoloflasche Sekt öffnen, setzt seine Tweed-Schiebermütze auf und macht sich in seinem Rollstuhl auf den Weg zur Vorführung. In der Laurentiushalle testen Christian Altmann und sein Kollege Felix Liersch vom Integrationsbüro der Stadt Dessau-Roßlau ein letztes Mal Bild und Ton, bevor der Film startet. Das intergenerationale und inklusive „One Community“-Projekt ist eine von vielen Initiativen, die das städtische Integrationsbüro sowohl finanziell als auch mit seiner Expertise unterstützt. „Dieser Film ist sehr wichtig für uns. Er macht das Liebenswerte dieser Stadt sichtbar und bringt auf den Punkt, was wir mit unserer Arbeit erreichen wollen: Barrieren abbauen, Raum für Begegnung schaffen und Teilhabe für alle ermöglichen“, so Altmann.
Kultureller Austausch
In der ersten Reihe hält Adetayo „Tutipsy“ Manuwa einen Platz für Horst Kaczmarek frei. Der 30-jährige Musiker kam 2017 für sein Denkmalpflegestudium aus der nigerianischen Millionenstadt Lagos nach Dessau-Roßlau mit seinen knapp 80.000 Einwohner*innen in Sachen-Anhalt. Zusammen mit der damaligen Heimleitung Antje Thomas hatte er die Idee für dieses Walzer-Begegnungsprojekt. Als Mitglied der Initiative „One Community“ besucht er die Marienheim-Bewohner*innen schon seit 2019. Studierende der Hochschule Anhalt gründeten die Inititiative mit dem Integrationsbüro der Stadt Dessau-Roßlau, um mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. Sie singen zusammen, machen Musik, veranstalten eine Konzertreihe und produzieren ein Musikvideo. Kaczmarek sagt: „Adetayo ist ein Mensch, den ich sofort ins Herz geschlossen habe. Mit seiner Offenheit und seinen Liedern hat er mir über die erste Zeit im Marienheim, die sehr schwer für mich war, hinweggeholfen.“
Als Adetayo Manuwa 2020 wegen der Coronapandemie seinen Studentenjob verliert, bietet ihm die damalige Leiterin Thomas eine Stelle im Marienheim an. Mehrmals pro Woche serviert er Mahlzeiten und gestaltet das Freizeitprogramm. „Eines Tages – ich wollte für eine Hochzeit Walzer lernen – sprachen die Bewohner*innen und ich über diesen Tanz. Sie erinnerten sich an die Tanzstunden ihrer Jugend“, erzählt er. „Sie waren so begeistert von diesen Erinnerungen. Das beeindruckte mich, und ich überlegte, wie wir Menschen durch Tanz zusammenbringen könnten.“ Er aktiviert das „One Community“-Netzwerk, spricht mit der Heimleiterin und nimmt Kontakt zum Integrationsbüro auf. Gemeinsam realisieren 80 Engagierte das Projekt. Und zwar mit großem Erfolg: 2023 wurde „One Community“ von der Bundeszentrale für politische Bildung im Wettbewerb „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet.
Horst Kaczmarek konzentriert sich, als der Film beginnt. Er beobachtet sich auf der Leinwand, hört zu, wie er von seinen Erinnerungen ans Tanzen erzählt: „Als ich aus der Kriegsgefangenschaft kam, gab es keine Tanzschulen. In der Wohnstube meiner Eltern standen Schallplatten und ein Grammofon. Meine Freunde und ich räumten den Teppich beiseite und brachten uns das Tanzen selbst bei.“ Und er sieht sich bei den Proben in der Laurentiushalle und bei der abschließenden Tanz-Gala mit 80 Gäst*innen. Was für den ehemaligen Lehrer und gebürtigen Dessauer besonders war: „Ich fand es sehr interessant, mit jungen Menschen aus dem Iran und Syrien in Kontakt zu kommen. Das war für mich völlig neu. Ihre Kultur und ihre Sicht auf das Leben haben mich beeindruckt.“
Zuwanderung als Chance – Diversity-Schulungen als Hilfe
Unter den insgesamt 30 Tänzer*innen sind Menschen aus Syrien, der Ukraine, dem Iran, Burundi und Pakistan. Sie spiegeln die diverse Gesellschaftsstruktur der Stadt wider. „Bei uns leben Menschen aus rund 120 Nationen“, sagt Christian Altmann. „Zum einen ist die Hochschule ein wichtiger Anziehungspunkt, zum anderen kommen Menschen aber auch infolge von Kriegen nach Deutschland.“ Etwa zwölf Prozent der Einwohner*innen haben laut Altmann eine Migrationsgeschichte. Die Zuwanderung sieht er als große Chance für Dessau-Roßlau. Auch weil die Stadt von Abwanderung und den Folgen des demografischen Wandels stark betroffen ist. Seit 2008 schrumpfte die Einwohner*innenzahl um rund elf Prozent. Die Bürger*innen sind mit einem Durchschnittsalter von über 50 Jahren eine der ältesten in Deutschland. Altmann sagt: „Es kommen vorwiegend Menschen im arbeitsfähigen Alter sowie junge Familien zu uns. Wenn diese Menschen hierbleiben, können wir auch die Kindergärten und andere Teile der sozialen Infrastruktur für alle sichern.“
Seit sieben Jahren leitet er das Integrationsbüro, das dem Dezernat für Soziales, Bildung, Jugend und Senioren der Stadtverwaltung unterstellt ist. Was allen Workshops, Angeboten, Projekten und der Netzwerkarbeit des Integrationsbüros zugrunde liegt: die Überzeugung, dass Integration ein gesamtgesellschaftlicher Lernprozess ist. Es geht also nicht um die Assimilation Einzelner. Nach der Leitung einer Jugendeinrichtung tritt der Soziologe Altmann 2016 seine neue Stelle an. Er entwickelt das erste Integrationskonzept der Stadt, das 2018 verwaltungsübergreifend verankert wird. Das Ziel: „Die Lebenssituationen von Einheimischen und Migrant*innen anzugleichen und die Teilhabechancen aller Menschen, etwa in Handlungsfeldern wie Bildung oder Arbeit, zu verbessern.“ In diesem Rahmen öffnete Altmann auch die Verwaltung. Azubis und Angestellte durchlaufen regelmäßige praxisorientierte Diversity-Schulungen, die sie in ihrer Arbeit sensibilisieren sollen.
Mit Rassismus konfrontiert
Mit den inhaltlichen Angeboten des Integrationsbüros richtet sich Altmann in seiner Kommunikation an die gesellschaftliche Mitte. „Oft fehlt es an Begegnungserfahrungen. Indem wir immer wieder Menschen miteinander in Kontakt bringen und das Verbindende betonen, vermeiden wir Diskriminierung. In der persönlichen Begegnung umgehen wir Schubladendenken“, sagt Altmann. Bewusst richtet er sich nicht gegen unsachliche Debatten mancher Parteien. Das schaffe nur noch mehr Polarisierung. Die AfD Sachsen-Anhalt, die vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft wird, ist in Dessau-Roßlau derzeit die zweitstärkste Kraft im Stadtrat. Altmann sagt: „Trotz aller Bemühungen und zivilgesellschaftlichen Engagements gibt es auch Rassismus und Rechtsextremismus in unserer Stadt.“
Das musste auch der gesellschaftlich engagierte Adetayo Manuwa erleben, der sich mit dem Tanzprojekt für die Integration der Senior*innen einsetzte und sie zurück in die Mitte der Gesellschaft holte. Manchmal fragt er sich, ob ihm das auch als weniger privilegierter Mensch möglich gewesen wäre. „Als ich das Angebot für den Job im Marienheim bekam, kannten mich die Menschen dort bereits. Im Nachhinein habe ich oft darüber nachgedacht, ob ich die Stelle auch bekommen hätte, wenn ich kein privilegierter Student, sondern Geflüchteter gewesen wäre.“ In Dessau ist er zum ersten Mal in seinem Leben mit Rassismus konfrontiert, etwa als ein Jugendlicher ihn auf der Straße mit dem N-Wort beschimpfte oder wenn er am Bahnhof immer wieder Racial Profiling erfährt. Auch im Marienheim gibt es am Anfang seiner Tätigkeit seitens mancher Angehöriger rassistische Vorbehalte. Doch die damalige Heimleiterin Antje Thomas und seine Kolleg*innen stehen an seiner Seite. „Es ist wichtig, dass es Orte gibt, an denen sich People of Color sicher fühlen.“ Das Marienheim ist für Manuwa so ein Ort. „Anfangs fühlte ich mich in Dessau sehr isoliert. Ich sehnte mich nach einem Zuhause und fand es bei den Senior*innen.“ Je öfter er mit ihnen gesungen und Geschichten aus ihrem Leben gehört habe, desto mehr habe er sich integrieren können. Er sagt: „Integration bedeutet für mich Teilhabe. Ich will nicht ‚toleriert‘ werden, sondern mich zugehörig fühlen.“
Soziale Isolation aufbrechen
Adetayo Manuwa arbeitet inzwischen als Social-Media-Manager in Frankfurt am Main. Auch wenn Rassismus für ihn ein schmerzhafter Teil der Realität in Deutschland ist, sagt er: „Die nettesten Menschen, die ich je kennengelernt habe, kommen aus Dessau-Roßlau.“ Viele dieser Menschen – wie Christian Altmann oder Antje Thomas – sitzen während der Vorführung und einer von ihnen direkt neben ihm. Während der Abspann von „Noch einmal Walzer“ läuft und das Publikum applaudiert, sagt Horst Kaczmarek: „Genauso schön wie dieser Film fühlte sich die Zeit mit den jungen Leuten an.“ Seine Liedzettel aus dem Projekt hat er aufbewahrt. „Ich fühle mich hier oft einsam, auch weil mir der Austausch fehlt. Die Pflegekräfte geben sich alle Mühe, doch sie allein können das nicht leisten. Es wäre schön, wenn es solche Projekte öfters geben könnte.“
Daran arbeiten Adetayo Manuwa und Christian Altmann. Gemeinsam organisieren sie Filmvorführungen in ganz Deutschland, um das Projekt bekannter zu machen. Manuwa sagt: „Soziale Isolation und mangelnde gesellschaftliche Teilhabe sind ein großes Thema. Für Geflüchtete, für Menschen mit Migrationsbiografie und für Menschen in Senior*innenheimen. Sie alle sollten wir in Kontakt bringen.“ Der Bedarf ist da. Was es neben finanzieller Förderung braucht, ist Zeit. Und Menschen, die sie sich nehmen.
Die Studie Teilhabe für alle
Wie teilhabeorientierte Integrationspolitik in der Praxis funktioniert, haben Wissenschaftler*innen des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung im Rahmen der durch die Stiftung Mercator geförderten Studie „Alle sollen teilhaben. Wie Kreise und kreisfreie Städte Integration neu denken“ untersucht. Über anderthalb Jahre begleitete der unabhängige Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen befasst, die Integrationsarbeit in sechs Landkreisen und kreisfreien Städten, unter anderem in Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt und so das „One Community“-Projekt.