Teilhabe im Dreivierteltakt

Der 30-jährige Projektinitiator und Musiker Adetayo „Tutipsy“ Manuwa und der 96-jährige Horst Kaczmarek lernten sich beim One Community-Projekt im Marienheim kennen. Eine Begegnung, die ihr Leben veränderte und beiden half, sich zugehörig zu fühlen.
Teilhabe im Dreivierteltakt
Autorin: Esther Sambale Fotos: Reinaldo Coddou 18.01.2024

Tanzen verbindet – so wie im Marienheim in Dessau-Roßlau. Dort drehen Geflüchtete, Menschen mit Migrations­biografie und Bewohner*innen eines Alten­heims gemeinsam ihre Runden übers Parkett. Das Begegnungs­projekt „One Community“ ist ein Beispiel für den Erfolg der teil­habe­orientierten Integration.

Durch das Stimmengewirr der Kaffee­gesellschaft im Aufenthalts­raum dringt der Ruf einer Kuckucks­uhr. Horst Kaczmarek sagt: „Leute, lasst mich durch! Ich möchte wirklich keine Minute versäumen!“ Der 96-Jährige ist einer von zwölf Bewohner*innen des Marien­heims der Anhaltischen Diakonissen­anstalt, die im „One Community“-Projekt fünf Monate lang Walzer tanzten. Jeden Dienstag traf er sich mit inter­nationalen Studierenden der Hochschule Anhalt, Geflüchteten, Menschen mit Migrations­biografie, Schüler*innen und Ehren­amtlichen, um zu erleben, wie Musik verbindet. Sie alle sind Teil der Dokumentation „Noch einmal Walzer“, die im Rahmen des Projektes entstand. Heute wird der Film gezeigt.

Die Vorführung des Dokumentarfilms „Noch einmal Walzer“ ist für Horst Kaczmarek eine Premiere.
Die Vorführung des Dokumentarfilms „Noch einmal Walzer“ ist für Horst Kaczmarek eine Premiere. © Reinaldo Coddou
Er sagt: „Genau so schön wie dieser Film, fühlte sich für mich die Zeit mit den jungen Leuten an.“
Er sagt: „Genau so schön wie dieser Film, fühlte sich für mich die Zeit mit den jungen Leuten an.“ © Reinaldo Coddou

„Ich sehe mich zum ersten Mal so groß auf einer Leinwand und bin sehr neugierig“, sagt Horst Kaczmarek. Er lässt sich eine Piccolo­flasche Sekt öffnen, setzt seine Tweed-Schieber­mütze auf und macht sich in seinem Rollstuhl auf den Weg zur Vorführung. In der Laurentius­halle testen Christian Altmann und sein Kollege Felix Liersch vom Integrations­büro der Stadt Dessau-Roßlau ein letztes Mal Bild und Ton, bevor der Film startet. Das inter­generationale und inklusive „One Community“-Projekt ist eine von vielen Initiativen, die das städtische Integrations­büro sowohl finanziell als auch mit seiner Expertise unter­stützt. „Dieser Film ist sehr wichtig für uns. Er macht das Liebens­werte dieser Stadt sichtbar und bringt auf den Punkt, was wir mit unserer Arbeit erreichen wollen: Barrieren abbauen, Raum für Begegnung schaffen und Teilhabe für alle ermöglichen“, so Altmann.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Kultureller Austausch

In der ersten Reihe hält Adetayo „Tutipsy“ Manuwa einen Platz für Horst Kaczmarek frei. Der 30-jährige Musiker kam 2017 für sein Denkmal­pflege­studium aus der nigerianischen Millionen­stadt Lagos nach Dessau-Roßlau mit seinen knapp 80.000 Einwohner*innen in Sachen-Anhalt. Zusammen mit der damaligen Heimleitung Antje Thomas hatte er die Idee für dieses Walzer-Begegnungs­projekt. Als Mitglied der Initiative „One Community“ besucht er die Marienheim-Bewohner*innen schon seit 2019. Studierende der Hochschule Anhalt gründeten die Inititiative mit dem Integrations­büro der Stadt Dessau-Roßlau, um mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. Sie singen zusammen, machen Musik, veranstalten eine Konzert­reihe und produzieren ein Musikvideo. Kaczmarek sagt: „Adetayo ist ein Mensch, den ich sofort ins Herz geschlossen habe. Mit seiner Offenheit und seinen Liedern hat er mir über die erste Zeit im Marienheim, die sehr schwer für mich war, hin­weg­geholfen.“

Adetayo Manuwa will Menschen zusammenbringen und soziale Isolation aufbrechen. Mit dem Integrationsbüro Dessau-Roßlau arbeitet er daran, das Tanz- und Begegnungsprojekt deutschlandweit bekannt zu machen.
Adetayo Manuwa will Menschen zusammenbringen und soziale Isolation aufbrechen. Mit dem Integrationsbüro Dessau-Roßlau arbeitet er daran, das Tanz- und Begegnungsprojekt deutschlandweit bekannt zu machen. © Reinaldo Coddou

Als Adetayo Manuwa 2020 wegen der Corona­pandemie seinen Studenten­job verliert, bietet ihm die damalige Leiterin Thomas eine Stelle im Marienheim an. Mehrmals pro Woche serviert er Mahlzeiten und gestaltet das Freizeit­programm. „Eines Tages – ich wollte für eine Hochzeit Walzer lernen – sprachen die Bewohner*innen und ich über diesen Tanz. Sie erinnerten sich an die Tanz­stunden ihrer Jugend“, erzählt er. „Sie waren so begeistert von diesen Erinnerungen. Das beeindruckte mich, und ich über­legte, wie wir Menschen durch Tanz zusammen­bringen könnten.“ Er aktiviert das „One Community“-Netzwerk, spricht mit der Heim­leiterin und nimmt Kontakt zum Integrations­büro auf. Gemeinsam realisieren 80 Engagierte das Projekt. Und zwar mit großem Erfolg: 2023 wurde „One Community“ von der Bundes­zentrale für politische Bildung im Wettbewerb „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet.

Horst Kaczmarek konzentriert sich, als der Film beginnt. Er beobachtet sich auf der Leinwand, hört zu, wie er von seinen Erinnerungen ans Tanzen erzählt: „Als ich aus der Kriegs­gefangen­schaft kam, gab es keine Tanzschulen. In der Wohnstube meiner Eltern standen Schall­platten und ein Grammofon. Meine Freunde und ich räumten den Teppich beiseite und brachten uns das Tanzen selbst bei.“ Und er sieht sich bei den Proben in der Laurentius­halle und bei der abschließenden Tanz-Gala mit 80 Gäst*innen. Was für den ehemaligen Lehrer und gebürtigen Dessauer besonders war: „Ich fand es sehr interessant, mit jungen Menschen aus dem Iran und Syrien in Kontakt zu kommen. Das war für mich völlig neu. Ihre Kultur und ihre Sicht auf das Leben haben mich beeindruckt.“

Zuwanderung als Chance – Diversity-Schulungen als Hilfe

Unter den insgesamt 30 Tänzer*innen sind Menschen aus Syrien, der Ukraine, dem Iran, Burundi und Pakistan. Sie spiegeln die diverse Gesellschafts­struktur der Stadt wider. „Bei uns leben Menschen aus rund 120 Nationen“, sagt Christian Altmann. „Zum einen ist die Hochschule ein wichtiger Anziehungs­punkt, zum anderen kommen Menschen aber auch infolge von Kriegen nach Deutschland.“ Etwa zwölf Prozent der Einwohner*innen haben laut Altmann eine Migrations­geschichte. Die Zuwanderung sieht er als große Chance für Dessau-Roßlau. Auch weil die Stadt von Abwanderung und den Folgen des demografischen Wandels stark betroffen ist. Seit 2008 schrumpfte die Einwohner*innen­zahl um rund elf Prozent. Die Bürger*innen sind mit einem Durch­schnitts­alter von über 50 Jahren eine der ältesten in Deutschland. Altmann sagt: „Es kommen vorwiegend Menschen im arbeits­fähigen Alter sowie junge Familien zu uns. Wenn diese Menschen hierbleiben, können wir auch die Kinder­gärten und andere Teile der sozialen Infra­struktur für alle sichern.“

Begegnungen schaffen, Diskriminierung erschweren, Teilhabe für alle verbessern – das wollen Christian Altmann (rechts) und Felix Liersch vom Integrationsbüro Dessau-Roßlau mit ihrer täglichen Arbeit erreichen.
Begegnungen schaffen, Diskriminierung erschweren, Teilhabe für alle verbessern – das wollen Christian Altmann (rechts) und Felix Liersch vom Integrationsbüro Dessau-Roßlau mit ihrer täglichen Arbeit erreichen. © Reinaldo Coddou

Seit sieben Jahren leitet er das Integrations­büro, das dem Dezernat für Soziales, Bildung, Jugend und Senioren der Stadt­verwaltung unterstellt ist. Was allen Workshops, Angeboten, Projekten und der Netz­werk­arbeit des Integrations­büros zugrunde liegt: die Über­zeugung, dass Integration ein gesamt­gesellschaftlicher Lernprozess ist. Es geht also nicht um die Assimilation Einzelner. Nach der Leitung einer Jugend­einrichtung tritt der Soziologe Altmann 2016 seine neue Stelle an. Er entwickelt das erste Integrations­konzept der Stadt, das 2018 verwaltungs­über­greifend verankert wird. Das Ziel: „Die Lebens­situationen von Einheimischen und Migrant*innen anzugleichen und die Teil­habe­chancen aller Menschen, etwa in Handlungs­feldern wie Bildung oder Arbeit, zu verbessern.“ In diesem Rahmen öffnete Altmann auch die Verwaltung. Azubis und Angestellte durch­laufen regelmäßige praxis­orientierte Diversity-Schulungen, die sie in ihrer Arbeit sensibilisieren sollen.

Mit Rassismus konfrontiert

Mit den inhaltlichen Angeboten des Integrations­büros richtet sich Altmann in seiner Kommunikation an die gesellschaftliche Mitte. „Oft fehlt es an Begegnungs­erfahrungen. Indem wir immer wieder Menschen miteinander in Kontakt bringen und das Verbindende betonen, vermeiden wir Diskriminierung. In der persönlichen Begegnung umgehen wir Schubladen­denken“, sagt Altmann. Bewusst richtet er sich nicht gegen unsachliche Debatten mancher Parteien. Das schaffe nur noch mehr Polarisierung. Die AfD Sachsen-Anhalt, die vom Verfassungs­schutz als erwiesen rechts­extremistisch eingestuft wird, ist in Dessau-Roßlau derzeit die zweit­stärkste Kraft im Stadtrat. Altmann sagt: „Trotz aller Bemühungen und zivil­gesellschaftlichen Engagements gibt es auch Rassismus und Rechts­extremismus in unserer Stadt.“

Projekte wie dieses wünscht sich Horst Kaczmarek in Zukunft öfter. Gesellschaft und Austausch sind für ihn und die anderen Bewohner*innen des Marienheims wichtig.
Projekte wie dieses wünscht sich Horst Kaczmarek in Zukunft öfter. © Reinaldo Coddou
Projekte wie dieses wünscht sich Horst Kaczmarek in Zukunft öfter. Gesellschaft und Austausch sind für ihn und die anderen Bewohner*innen des Marienheims wichtig.
Gesellschaft und Austausch sind für ihn und die anderen Bewohner*innen des Marienheims wichtig. © Reinaldo Coddou

Das musste auch der gesellschaftlich engagierte Adetayo Manuwa erleben, der sich mit dem Tanz­projekt für die Integration der Senior*innen einsetzte und sie zurück in die Mitte der Gesellschaft holte. Manchmal fragt er sich, ob ihm das auch als weniger privilegierter Mensch möglich gewesen wäre. „Als ich das Angebot für den Job im Marienheim bekam, kannten mich die Menschen dort bereits. Im Nachhinein habe ich oft darüber nach­gedacht, ob ich die Stelle auch bekommen hätte, wenn ich kein privilegierter Student, sondern Geflüchteter gewesen wäre.“ In Dessau ist er zum ersten Mal in seinem Leben mit Rassismus konfrontiert, etwa als ein Jugendlicher ihn auf der Straße mit dem N-Wort beschimpfte oder wenn er am Bahnhof immer wieder Racial Profiling erfährt. Auch im Marienheim gibt es am Anfang seiner Tätigkeit seitens mancher Angehöriger rassistische Vorbehalte. Doch die damalige Heim­leiterin Antje Thomas und seine Kolleg*innen stehen an seiner Seite. „Es ist wichtig, dass es Orte gibt, an denen sich People of Color sicher fühlen.“ Das Marienheim ist für Manuwa so ein Ort. „Anfangs fühlte ich mich in Dessau sehr isoliert. Ich sehnte mich nach einem Zuhause und fand es bei den Senior*innen.“ Je öfter er mit ihnen gesungen und Geschichten aus ihrem Leben gehört habe, desto mehr habe er sich integrieren können. Er sagt: „Integration bedeutet für mich Teilhabe. Ich will nicht ‚toleriert‘ werden, sondern mich zugehörig fühlen.“

Soziale Isolation aufbrechen

Adetayo Manuwa arbeitet inzwischen als Social-Media-Manager in Frankfurt am Main. Auch wenn Rassismus für ihn ein schmerz­hafter Teil der Realität in Deutschland ist, sagt er: „Die nettesten Menschen, die ich je kennen­gelernt habe, kommen aus Dessau-Roßlau.“ Viele dieser Menschen – wie Christian Altmann oder Antje Thomas – sitzen während der Vorführung und einer von ihnen direkt neben ihm. Während der Abspann von „Noch einmal Walzer“ läuft und das Publikum applaudiert, sagt Horst Kaczmarek: „Genauso schön wie dieser Film fühlte sich die Zeit mit den jungen Leuten an.“ Seine Lied­zettel aus dem Projekt hat er aufbewahrt. „Ich fühle mich hier oft einsam, auch weil mir der Austausch fehlt. Die Pflege­kräfte geben sich alle Mühe, doch sie allein können das nicht leisten. Es wäre schön, wenn es solche Projekte öfters geben könnte.“

Daran arbeiten Adetayo Manuwa und Christian Altmann. Gemeinsam organisieren sie Film­vor­führungen in ganz Deutsch­land, um das Projekt bekannter zu machen. Manuwa sagt: „Soziale Isolation und mangelnde gesellschaftliche Teilhabe sind ein großes Thema. Für Geflüchtete, für Menschen mit Migrations­biografie und für Menschen in Senior*innen­heimen. Sie alle sollten wir in Kontakt bringen.“ Der Bedarf ist da. Was es neben finanzieller Förderung braucht, ist Zeit. Und Menschen, die sie sich nehmen.

Die Studie Teilhabe für alle

Wie teilhabeorientierte Integrations­politik in der Praxis funktioniert, haben Wissenschaftler*innen des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung im Rahmen der durch die Stiftung Mercator geförderten Studie „Alle sollen teilhaben. Wie Kreise und kreis­freie Städte Integration neu denken“ untersucht. Über andert­halb Jahre begleitete der unabhängige Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler demo­grafischer Veränderungen befasst, die Integrations­arbeit in sechs Landkreisen und kreis­freien Städten, unter anderem in Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt und so das „One Community“-Projekt.

www.berlin-institut.org/alle-sollen-teilhaben