Wie rassistisch ist unser Gesundheitssystem?
Theda Borde, Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin, legt den Finger in eine Wunde des deutschen Gesundheitssystems: die Situation von Migrant*innen mit wenig oder keinen Sprachkenntnissen. Betroffen sind insbesondere Patient*innen, aber auch medizinisches Personal. Die Gesundheitsexpertin über die Symptome und Therapievorschläge für mehr Diversitätsgerechtigkeit.
Eine Gebärende klammert sich verzweifelt an ein Kreißsaalbett in der Geburtsklinik der Berliner Charité. Sie ist aus Syrien geflüchtet und versteht nicht, dass und warum ein Kaiserschnitt nötig ist. Die Frau ist kein Einzelfall im deutschen Gesundheitssystem: Menschen mit wenig oder keinen Deutschkenntnissen sind benachteiligt. Theda Borde ist Professorin für sozialmedizinische und medizinsoziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin und hat das Phänomen in Wissenschaft und Praxis untersucht.
Nach ihrem Politikstudium führte der erste Job sie in den 1990er-Jahren in eine Beratungsstelle für Immigrant*innen. Dort suchten täglich Menschen Hilfe, die Probleme mit der Gesundheitsversorgung in Deutschland hatten. Theda Borde erinnert sich: „Viele kamen mit der Sprache und vor allem mit dem System nicht klar, wurden gar nicht oder falsch behandelt. Ich habe damals jeden Tag vor Augen gehabt, dass es in Deutschland mit der Diversitätsgerechtigkeit im Gesundheitswesen nicht weit her ist.“
Theda Borde entschied sich, ein Public-Health-Studium aufzusatteln. „Public Health steckte damals in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Ich fand das spannend: nicht an individuellen Fällen zu arbeiten, sondern wirklich systematisch die Symptomatiken zu erheben.“ Da kam für sie ein Projekt zum Thema Migration und Frauengesundheit Mitte der 1990er-Jahre an der Berliner Charité genau richtig. Hier lernte sie Jalid Sehouli kennen, den heutigen Direktor der dort angesiedelten Klinik für Gynäkologie. Das war der Startschuss zu einer noch heute bestehenden Zusammenarbeit der Charité mit der Alice Salomon Hochschule und vielen gemeinsamen Projekten zum Thema Migration und Gesundheit.
Das größte Problem: Sprachmittlung
Doch was genau läuft schief in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte? Wo liegen die Hauptknackpunkte? Theda Borde: „Ein ganz großer Problembereich ist die Aufklärung von Patient*innen, die ja gesetzlich vorgeschrieben ist. Patient*innen, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen, verstehen nur wenig oder im schlimmsten Fall gar nichts. Dasselbe gilt für schriftliche Befunde, die teils kommentarlos überreicht werden.“
In einer aktuellen Studie zur Situation geflüchteter Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt werden gravierende Fälle beschrieben, in denen die vorgeschriebene OP-Aufklärung nicht funktionierte und die Frauen – etwa bei Komplikationen in der Geburtshilfe – nicht wussten, was mit ihnen geschieht. „Das ist auch für Ärzt*innen ein großes Problem, denn sie können teils wesentliche Dinge nicht verständlich vermitteln. Sie können ihren eigenen hohen Anspruch an eine gute Versorgung von Patient*innen nicht gerecht werden, wenn eine qualifizierte Sprachmittlung fehlt.“ Probleme der Sprachmittlung, also des Übersetzens von Inhalten in die Muttersprache, tauchen auch bei Angeboten wie den „Frühen Hilfen“ auf, die für junge Familien mit größerem Unterstützungsbedarf geschaffen wurden. Bei Menschen mit geringen Deutschkenntnissen kommen sie oft gar nicht erst an.
Mercator Forum „Teilhabe statt Diskriminierung“ – Stimmen aus der Praxis
Theda Borde sagte auf dem Mercator Forum: „Ich engagiere mich für Teilhabe und Diversität, weil das ein großer Faktor für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer Einwanderungsgesellschaft ist.“
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Fehler im System
Die komplexen Strukturen des deutschen Gesundheitssystems zu verstehen, geht weit über Sprachprobleme hinaus. Wie sind die Abläufe? In welchen Fällen brauche ich eine Überweisung, eine Einweisung, eine Verordnung? Und wo bekomme ich diese? Welche Vorsorgeuntersuchungen gibt es? Welche Präventionsmaßnahmen werden von den Krankenkassen übernommen? Theda Borde: „Menschen mit wenig Sprachkenntnissen wissen oft schlicht nicht, an wen sie sich bei gesundheitlichen Problemen wenden können.“
In der Folge gehen sie häufig nicht zu Therapiemaßnahmen oder weiterbehandelnden Fachärzt*innen. So entstehen teils eklatante Versorgungslücken. Was die Wissenschaft „Inanspruchnahmebarrieren“ nennt, bedeutet in der Praxis zum Beispiel, dass in Erste-Hilfe-Stellen wie Notfallambulanzen Migrant*innen über-, bei präventiven Angeboten aber deutlich unterrepräsentiert sind. Die Kommunikation im Gesundheitswesen – die auch für Muttersprachler*innen nicht immer einfach ist – kann für Menschen mit wenig Sprachkenntnissen eine unüberbrückbare Hürde darstellen.
Auch für ausländische Fachkräfte im Gesundheitswesen, die noch nicht sicher in der deutschen Sprache sind und das komplizierte Versorgungssystem noch nicht ganz überschauen, müsste in puncto Sprachmittlung sowie beruflicher und sozialer Integration mehr getan werden. Theda Borde: „In Kanada und Schweden stammen inzwischen über 50 Prozent der Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, aus dem Ausland. Dieser Trend ist auch in Deutschland zu beobachten, wo 2021 insgesamt 13,5 Prozent der Pflegekräfte und 14 Prozent der Ärzt*innen einen ausländischen Pass hatten. Aufgrund des Fachkräftemangels und einer verstärkten Anwerbung von Gesundheitspersonal ist die Tendenz weiter steigend.“
Verständliche Informationssysteme
Über Wege aus den beschriebenen Dilemmata hat Theda Borde viel nachgedacht und Studien durchgeführt. „Eine wesentliche Frage ist: Wie bekommen wir Informationssysteme hin, die für alle verständlich sind?“ Denn so viel sei klar und sogar im Patientenrechtegesetz festgeschrieben: „Gesundheitsrelevante Informationen müssen allen zugänglich gemacht werden, unabhängig von Nationalität oder auch Bildungsgrad. Wenn nicht durch eine Übersetzung für eine angemessene Aufklärung von Patient*innen gesorgt wird, ist das in meinen Augen eine institutionelle Diskriminierung.“
Die Ideallösung in Praxen und Krankenhäusern ist laut Borde ein Dolmetschdienst, der via Telefon oder Video zugeschaltet und bei Bedarf auch persönlich hinzugezogen wird. Doch das kostet Zeit und Geld. „Zwar ist die Kostenübernahme durch die Krankenkassen im Koalitionsvertrag anvisiert, aber bislang noch nicht in Gesetzesform gegossen“, bedauert sie. Und so bleibt es bei Behelfslösungen. Häufig kommt bei einem Arztbesuch jemand aus der Familie oder Nachbarschaft mit und übersetzt, so gut es eben geht. Doch das ist keine optimale Lösung. Borde berichtet, dass einer aktuellen Studie aus Belgien zufolge Laiendolmetscher*innen nur in 19 Prozent der Fälle eine korrekte Übersetzung liefern.
Theda Borde hat viele Ideen, wie die Gesundheitsversorgung für alle verbessert werden könnte: „Ein gesundheitskompetentes System kann mehr Chancengleichheit schaffen. Dabei brauchen manche halt mehr, manche weniger Unterstützung. Wir müssten niedrigschwellige Zugänge schaffen, etwa Lotsendienste in Kliniken, die Suchenden den Weg weisen. Auch bräuchte es gut verständliches schriftliches Infomaterial, auf das das medizinische Personal problemlos zugreifen kann. Patient*innen, die wenig Deutsch können oder Analphabet*innen sind, könnten zum Beispiel Videos in ihrer Sprache gezeigt werden. Derartige Hilfsmittel würden die Prozesse erleichtern.“
In allen Gesundheitsberufen müssten die Themen Diversität, Migration oder Antidiskriminierung genauso selbstverständlich sein wie etwa Hygiene und die Sicherheit von Patient*innen.
Diskriminierung und Rassismus
Neben der fehlenden oder fehlerhaften Sprachmittlung und strukturellen Benachteiligungen erleben Patient*innen und Mitarbeitende im Gesundheitswesen auch Diskriminierung und Rassismus. So zeigt etwa der Report Afrozensus von 2020, dass fast 75 Prozent der befragten Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminierende Erfahrungen im Bereich Gesundheit und Pflege gemacht haben, entweder als Patient*innen oder als Behandler*innen (2020, S. 135). Theda Borde nennt dazu dieses Beispiel „Da geht eine Schwarze Ärztin ins Krankenzimmer und bekommt von der Patientin zu hören: ‚Ich will die Ärztin sprechen und nicht die Putzfrau.‘ Auch andere Personengruppen wie Geflüchtete aus Syrien erführen herabwürdigende Kommentare: „Ein Arzt sagt zu einer schwangeren Frau, die aus Syrien fliehen musste und in einer Geflüchtetenunterkunft lebt: ‚Sie wollen doch in Ihrer Situation nicht noch ein fünftes Kind bekommen.‘“
In Deutschland ist noch mehr systematische Erforschung von institutionellen und interpersonalen Diskriminierungsrisiken aufgrund von (zugeschriebener) ethnischer Herkunft und Rassismus in der Gesundheitsversorgung notwendig, wie auch in Bezug auf effektive Maßnahmen zum Abbau dieser Diskriminierungsrisiken.
Strukturierte Organisationsentwicklung
Auf struktureller Ebene sei noch viel Luft nach oben, so Borde. „Wir brauchen Maßnahmen der Organisationsentwicklung für den Abbau von Diskriminierungsrisiken und mehr Chancengerechtigkeit im Gesundheitswesen.“ Das geht sicherlich nicht von jetzt auf gleich und auch nicht alleine, oder? „Natürlich nicht. Dafür braucht es ein stabiles, wachsendes Netzwerk mit allen Stakeholder*innen, also Politik, Kassen, Gesundheitsministerium, Krankenhäusern, Hochschulen und den in der Versorgung tätigen Gesundheitsfachkräften – also mit allen, die im Gesundheitswesen unterwegs sind.“
Diversitätsthemen in der Aus- und Weiterbildung
Eine weitere wichtige Stellschraube zur Verbesserung der Situation von Migrant*innen und BIPoC (Schwarze und indigene Menschen und People of Color) im Gesundheitswesen ist die Aus- und Weiterbildung aller Menschen, die darin arbeiten: im Pflege-, Therapie- und ärztlichen Bereich. „In allen Gesundheitsberufen müssten die Themen Diversität, Migration oder Antidiskriminierung genauso selbstverständlich sein wie etwa Hygiene oder die Sicherheit von Patient*innen. Diversitätsgerechtigkeit sollte in meinen Augen als Kernkompetenz in allen Ausbildungen etabliert und in der Weiterbildung aktualisiert werden“, meint Borde.
Doch Haltung und Kompetenzen allein reichen nicht aus, denn viele im Gesundheitsbereich Tätige stoßen auf ein Problem: Sie sind guten Willens, auf mangelnde Sprach- und Systemkenntnisse Rücksicht zu nehmen und diversitätsgerecht zu arbeiten, scheitern jedoch an den Strukturen und Zeitmangel.
Deutschland hat Aufholbedarf
Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland hinterher. „Hier herrscht – auch in der Politik – vielfach die Haltung: Sollen die doch Deutsch lernen. In anderen Einwanderungsländern – etwa Großbritannien oder Kanada – ist man da weiter. Dort besteht die Verpflichtung, Menschen in ihrer eigenen Sprache verständlich aufzuklären. Es ist wünschenswert, auch bei uns die Regelversorgung so aufzustellen, dass sie zukunftsfähig ist. Denn es wird so bleiben, dass Europa von Einwanderung geprägt ist!“
Empowerment für Diversität
Das Projekt „Empowerment für Diversität – Kompetenzen und Strukturen für Diversitätsgerechtigkeit und Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung“ läuft seit November 2022. Unter der Leitung von Prof. Dr. Theda Borde und Prof. Dr. med. Dr. h.c Jalid Sehouli fokussiert sich ein fünfköpfiges Team auf die zentralen Säulen der Entwicklung von Kompetenzen und Strukturen. Mit ausgewählten Hochschulen und Berufsfachschulen sowie Mutter-Kind-Zentren werden Lehrplan- beziehungsweise Organisationsentwicklungsprozesse begleitet, um gemeinsam Good-Practice-Ergebnisse zu generieren. Mit dem Aufbau einer Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung werden weitere Prozesse für mehr Diversitätsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung initiiert.