Wie rassistisch ist unser Gesundheits­system?

Rassismus im Gesundheitssystem
Wie rassistisch ist unser Gesundheits­system?
Autorin: Bettina Brakelmann 21.02.2023

Theda Borde, Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin, legt den Finger in eine Wunde des deutschen Gesundheits­systems: die Situation von Migrant*innen mit wenig oder keinen Sprach­kenntnissen. Betroffen sind insbesondere Patient*innen, aber auch medizinisches Personal. Die Gesundheits­expertin über die Symptome und Therapie­vorschläge für mehr Diversitäts­gerechtigkeit.

Eine Gebärende klammert sich verzweifelt an ein Kreißsaalbett in der Geburts­klinik der Berliner Charité. Sie ist aus Syrien geflüchtet und versteht nicht, dass und warum ein Kaiser­schnitt nötig ist. Die Frau ist kein Einzelfall im deutschen Gesundheits­system: Menschen mit wenig oder keinen Deutsch­kenntnissen sind benachteiligt. Theda Borde ist Professorin für sozialmedizinische und medizin­soziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin und hat das Phänomen in Wissenschaft und Praxis untersucht.

Nach ihrem Politikstudium führte der erste Job sie in den 1990er-Jahren in eine Beratungs­stelle für Immigrant*innen. Dort suchten täglich Menschen Hilfe, die Probleme mit der Gesund­heits­versorgung in Deutschland hatten. Theda Borde erinnert sich: „Viele kamen mit der Sprache und vor allem mit dem System nicht klar, wurden gar nicht oder falsch behandelt. Ich habe damals jeden Tag vor Augen gehabt, dass es in Deutschland mit der Diversitäts­gerechtigkeit im Gesundheits­wesen nicht weit her ist.“

Theda Borde entschied sich, ein Public-Health-Studium aufzusatteln. „Public Health steckte damals in Deutschland noch in den Kinder­schuhen. Ich fand das spannend: nicht an individuellen Fällen zu arbeiten, sondern wirklich systematisch die Symptomatiken zu erheben.“ Da kam für sie ein Projekt zum Thema Migration und Frauengesundheit Mitte der 1990er-Jahre an der Berliner Charité genau richtig. Hier lernte sie Jalid Sehouli kennen, den heutigen Direktor der dort angesiedelten Klinik für Gynäkologie. Das war der Startschuss zu einer noch heute bestehenden Zusammen­arbeit der Charité mit der Alice Salomon Hochschule und vielen gemeinsamen Projekten zum Thema Migration und Gesundheit.

Theda Borde
Prof. Dr. Theda Borde ist Professorin für sozial­­medizinische und medizin­­soziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit, Public Health, an der Alice Salomon Hochschule Berlin. © Edgard Berendsen

Das größte Problem: Sprachmittlung

Doch was genau läuft schief in der Gesundheits­versorgung von Menschen mit Zuwanderungs­geschichte? Wo liegen die Haupt­knack­punkte? Theda Borde: „Ein ganz großer Problem­bereich ist die Aufklärung von Patient*innen, die ja gesetzlich vor­geschrieben ist. Patient*innen, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen, verstehen nur wenig oder im schlimmsten Fall gar nichts. Dasselbe gilt für schriftliche Befunde, die teils kommentar­los überreicht werden.“

In einer aktuellen Studie zur Situation geflüchteter Frauen rund um Schwanger­schaft und Geburt werden gravierende Fälle beschrieben, in denen die vorgeschriebene OP-Aufklärung nicht funktionierte und die Frauen – etwa bei Komplikationen in der Geburts­hilfe – nicht wussten, was mit ihnen geschieht. „Das ist auch für Ärzt*innen ein großes Problem, denn sie können teils wesentliche Dinge nicht verständlich vermitteln. Sie können ihren eigenen hohen Anspruch an eine gute Versorgung von Patient*innen nicht gerecht werden, wenn eine qualifizierte Sprachmittlung fehlt.“ Probleme der Sprach­mittlung, also des Übersetzens von Inhalten in die Mutter­sprache, tauchen auch bei Angeboten wie den „Frühen Hilfen“ auf, die für junge Familien mit größerem Unter­stützungs­bedarf geschaffen wurden. Bei Menschen mit geringen Deutsch­kenntnissen kommen sie oft gar nicht erst an.

Mercator Forum „Teilhabe statt Diskriminierung“ – Stimmen aus der Praxis

Theda Borde sagte auf dem Mercator Forum: „Ich engagiere mich für Teilhabe und Diversität, weil das ein großer Faktor für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer Einwanderungsgesellschaft ist.“
Hier geht es zum Video.

Fehler im System

Die komplexen Strukturen des deutschen Gesundheits­systems zu verstehen, geht weit über Sprach­probleme hinaus. Wie sind die Abläufe? In welchen Fällen brauche ich eine Überweisung, eine Einweisung, eine Verordnung? Und wo bekomme ich diese? Welche Vorsorge­untersuchungen gibt es? Welche Präventions­maßnahmen werden von den Kranken­kassen übernommen? Theda Borde: „Menschen mit wenig Sprach­kenntnissen wissen oft schlicht nicht, an wen sie sich bei gesundheitlichen Problemen wenden können.“

In der Folge gehen sie häufig nicht zu Therapie­maßnahmen oder weiter­behandelnden Fachärzt*innen. So entstehen teils eklatante Versorgungs­lücken. Was die Wissenschaft „Inanspruch­nahme­barrieren“ nennt, bedeutet in der Praxis zum Beispiel, dass in Erste-Hilfe-Stellen wie Not­fall­ambulanzen Migrant*innen über-, bei präventiven Angeboten aber deutlich unter­repräsentiert sind. Die Kommunikation im Gesundheits­wesen – die auch für Mutter­sprachler*innen nicht immer einfach ist – kann für Menschen mit wenig Sprach­kenntnissen eine unüber­brückbare Hürde darstellen.

Pflegerin richtet Tropf ein
Rassismus und Diskriminierung sind im deutschen Krankenhaus-Alltag ein großes Problem, das nicht nur Patient*innen betrifft, sondern auch medizinische Fachkräfte. © Shutterstock

Auch für ausländische Fachkräfte im Gesundheitswesen, die noch nicht sicher in der deutschen Sprache sind und das komplizierte Versorgungs­system noch nicht ganz über­schauen, müsste in puncto Sprach­mittlung sowie beruflicher und sozialer Integration mehr getan werden. Theda Borde: „In Kanada und Schweden stammen inzwischen über 50 Prozent der Menschen, die im Gesundheits­wesen arbeiten, aus dem Ausland. Dieser Trend ist auch in Deutschland zu beobachten, wo 2021 insgesamt 13,5 Prozent der Pflegekräfte und 14 Prozent der Ärzt*innen einen ausländischen Pass hatten. Aufgrund des Fach­kräfte­mangels und einer verstärkten Anwerbung von Gesundheits­personal ist die Tendenz weiter steigend.“

Verständliche Informationssysteme

Über Wege aus den beschriebenen Dilemmata hat Theda Borde viel nachgedacht und Studien durch­geführt. „Eine wesentliche Frage ist: Wie bekommen wir Informations­systeme hin, die für alle verständlich sind?“ Denn so viel sei klar und sogar im Patientenrechtegesetz festgeschrieben: „Gesundheits­relevante Informationen müssen allen zugänglich gemacht werden, unabhängig von Nationalität oder auch Bildungs­grad. Wenn nicht durch eine Übersetzung für eine angemessene Aufklärung von Patient*innen gesorgt wird, ist das in meinen Augen eine institutionelle Diskriminierung.“

Die Ideallösung in Praxen und Krankenhäusern ist laut Borde ein Dolmetsch­dienst, der via Telefon oder Video zugeschaltet und bei Bedarf auch persönlich hinzugezogen wird. Doch das kostet Zeit und Geld. „Zwar ist die Kosten­über­nahme durch die Krankenkassen im Koalitions­vertrag anvisiert, aber bislang noch nicht in Gesetzes­form gegossen“, bedauert sie. Und so bleibt es bei Behelfs­lösungen. Häufig kommt bei einem Arztbesuch jemand aus der Familie oder Nachbarschaft mit und übersetzt, so gut es eben geht. Doch das ist keine optimale Lösung. Borde berichtet, dass einer aktuellen Studie aus Belgien zufolge Laiendolmetscher*innen nur in 19 Prozent der Fälle eine korrekte Übersetzung liefern.

Theda Borde hat viele Ideen, wie die Gesundheits­versorgung für alle verbessert werden könnte: „Ein gesundheits­kompetentes System kann mehr Chancen­gleichheit schaffen. Dabei brauchen manche halt mehr, manche weniger Unterstützung. Wir müssten niedrig­schwellige Zugänge schaffen, etwa Lotsen­dienste in Kliniken, die Suchenden den Weg weisen. Auch bräuchte es gut verständliches schriftliches Infomaterial, auf das das medizinische Personal problemlos zugreifen kann. Patient*innen, die wenig Deutsch können oder Analphabet*innen sind, könnten zum Beispiel Videos in ihrer Sprache gezeigt werden. Derartige Hilfsmittel würden die Prozesse erleichtern.“

In allen Gesundheitsberufen müssten die Themen Diversität, Migration oder Anti­diskriminierung genauso selbst­verständlich sein wie etwa Hygiene und die Sicherheit von Patient*innen.

Theda Borde, Professorin für sozial­­medizinische und medizin­­soziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit

Diskriminierung und Rassismus

Neben der fehlenden oder fehlerhaften Sprachmittlung und strukturellen Benachteiligungen erleben Patient*innen und Mitarbeitende im Gesundheits­wesen auch Diskriminierung und Rassismus. So zeigt etwa der Report Afrozensus von 2020, dass fast 75 Prozent der befragten Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminierende Erfahrungen im Bereich Gesundheit und Pflege gemacht haben, entweder als Patient*innen oder als Behandler*innen (2020, S. 135). Theda Borde nennt dazu dieses Beispiel „Da geht eine Schwarze Ärztin ins Krankenzimmer und bekommt von der Patientin zu hören: ‚Ich will die Ärztin sprechen und nicht die Putzfrau.‘ Auch andere Personengruppen wie Geflüchtete aus Syrien erführen herabwürdigende Kommentare: „Ein Arzt sagt zu einer schwangeren Frau, die aus Syrien fliehen musste und in einer Geflüchtetenunterkunft lebt: ‚Sie wollen doch in Ihrer Situation nicht noch ein fünftes Kind bekommen.‘“

In Deutschland ist noch mehr systematische Erforschung von institutionellen und inter­personalen Diskriminierungs­risiken aufgrund von (zugeschriebener) ethnischer Herkunft und Rassismus in der Gesundheits­versorgung notwendig, wie auch in Bezug auf effektive Maßnahmen zum Abbau dieser Diskriminierungs­risiken.

Strukturierte Organisationsentwicklung

Auf struktureller Ebene sei noch viel Luft nach oben, so Borde. „Wir brauchen Maßnahmen der Organisations­entwicklung für den Abbau von Diskriminierungsrisiken und mehr Chancen­gerechtigkeit im Gesundheits­wesen.“ Das geht sicherlich nicht von jetzt auf gleich und auch nicht alleine, oder? „Natürlich nicht. Dafür braucht es ein stabiles, wachsendes Netzwerk mit allen Stakeholder*innen, also Politik, Kassen, Gesundheits­ministerium, Kranken­häusern, Hochschulen und den in der Versorgung tätigen Gesundheits­fach­kräften – also mit allen, die im Gesundheits­wesen unterwegs sind.“

Diversitätsthemen in der Aus- und Weiter­bildung

Eine weitere wichtige Stellschraube zur Verbesserung der Situation von Migrant*innen und BIPoC (Schwarze und indigene Menschen und People of Color) im Gesundheitswesen ist die Aus- und Weiter­bildung aller Menschen, die darin arbeiten: im Pflege-, Therapie- und ärztlichen Bereich. „In allen Gesundheits­berufen müssten die Themen Diversität, Migration oder Anti­diskriminierung genauso selbst­verständlich sein wie etwa Hygiene oder die Sicherheit von Patient*innen. Diversitäts­gerechtigkeit sollte in meinen Augen als Kernkompetenz in allen Ausbildungen etabliert und in der Weiter­bildung aktualisiert werden“, meint Borde.

Doch Haltung und Kompetenzen allein reichen nicht aus, denn viele im Gesundheits­bereich Tätige stoßen auf ein Problem: Sie sind guten Willens, auf mangelnde Sprach- und System­kenntnisse Rücksicht zu nehmen und diversitäts­gerecht zu arbeiten, scheitern jedoch an den Strukturen und Zeitmangel.

Deutschland hat Aufholbedarf

Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland hinterher. „Hier herrscht – auch in der Politik – vielfach die Haltung: Sollen die doch Deutsch lernen. In anderen Einwanderungs­ländern – etwa Großbritannien oder Kanada – ist man da weiter. Dort besteht die Verpflichtung, Menschen in ihrer eigenen Sprache verständlich aufzuklären. Es ist wünschenswert, auch bei uns die Regel­versorgung so aufzustellen, dass sie zukunfts­fähig ist. Denn es wird so bleiben, dass Europa von Einwanderung geprägt ist!“


Empowerment für Diversität

Das Projekt „Empowerment für Diversität – Kompetenzen und Strukturen für Diversitäts­­gerechtigkeit und Chancen­­gleich­heit in der Gesund­heits­­versorgung“ läuft seit November 2022. Unter der Leitung von Prof. Dr. Theda Borde und Prof. Dr. med. Dr. h.c Jalid Sehouli fokussiert sich ein fünfköpfiges Team auf die zentralen Säulen der Entwicklung von Kompetenzen und Strukturen. Mit ausgewählten Hochschulen und Berufsfachschulen sowie Mutter-Kind-Zentren werden Lehrplan- beziehungs­weise Organisations­­entwick­lungs­­prozesse begleitet, um gemeinsam Good-Practice-Ergebnisse zu generieren. Mit dem Aufbau einer Allianz für Chancen­gleich­heit in der Gesundheits­versorgung werden weitere Prozesse für mehr Diversitäts­gerechtigkeit in der Gesundheits­versorgung initiiert.

empowerment.charite.de