Karten im Kopf

Karten im Kopf
Autorin: Laura Kübler 25.11.2021

Na, haben Sie auch kurz gestutzt? Das liegt vermutlich daran, dass Sie mit Karten aufgewachsen sind, die die Kontinente nicht im tatsächlichen Größenverhältnis zueinander darstellen. Den Grund dafür ahnen Sie: Es ist kompliziert. Wie lässt sich die Erdkugel auf einer Fläche abbilden? Die Ausstellung „Perspektivwechsel: Karten und wie sie die Welt zeigen“ lädt dazu ein, die eigene Sicht zu hinterfragen. AufRuhr zeigt eine Auswahl.

Vielleicht haben Sie beim Lesen dieser Zeilen gerade eine Mandarine oder Orange zur Hand. Schnappen Sie sich einen Stift und zeichnen Sie die Kontinente frei nach Ihrer Vorstellung auf die Schale. Dieser kleine Versuch verdeutlicht, warum jede zweidimensionale Karte Verzerrungen hat. Wenn Sie die Schale nun also möglichst in einem Stück pellen und sie vor sich auf dem Tisch ausbreiten wollen, stehen Sie vor der gleichen Herausforderung wie die Kartograf*innen seit jeher. Die Frucht ist rund wie unsere Erde. Wenn Sie versuchen, die Schale auszubreiten, bäumt sie sich auf. Um sie zu glätten, sind Verzerrungen unvermeidbar. Aber hey, guten Appetit!

Mandarine
© Stiftung Mercator
Auch der flämische Geograf und Kartograf Gerhard Mercator (1512–1594) widmete sich diesem Problem. Sein Ziel war es, eine Karte zu entwickeln, die trotz Erdkrümmung eine geradlinige Navigation auf offener See ermöglichte. 1569 veröffentliche er zu diesem Zweck die Weltkarte „Nova et aucta orbis terrae descriptio ad usum navigantium emendate accommodata“ – also „Neue und erweiterte Beschreibung des Erdkreises, zum Gebrauch bei der Seefahrt richtig angepasst“. Sein hier angewendeter Karten­netz­entwurf wurde später als Mercator-Projektion bekannt und bildet dank der präzisen Winkeltreue noch heute die Grundlage vieler GPS-Navigations­systeme. © gemeinfrei
Um die Erdkrümmung an den Polen zu berücksichtigen und trotzdem gerade Navigations­linien zu schaffen, ließ Mercator den Abstand der Breiten­grade an den Polen zunehmend wachsen. Polnahe bzw. äquatorferne Regionen werden vergrößert. Grönland wirkt so beispiels­weise ähnlich groß wie der gesamte afrikanische Kontinent, obwohl dieser eigentlich 14-mal größer ist. Für Gerhard Mercator und die Seefahrt spielte diese Disproportionalität keine Rolle. Für die Welt­karten in seinen Atlanten, die nur einem Anschauungs­zweck dienten, fand die Projektion hingegen keine Verwendung. Auch aus deutschen Klassen­zimmern ist die Mercator-Projektion schon lange verschwunden. In Atlanten wie dem Diercke-Atlas oder auf Schulwandkarten werden Anschauungs­karten verwendet, die einen Kompromiss zwischen Flächen- und Winkeltreue darstellen. © BOK+Gärtner
Diese Kartenprojektion ist annähernd flächengetreu, verzerrt jedoch die Winkel und damit die tatsächliche Form der Landmassen. Der Historiker Arno Peters hat sie 1974 auf Grundlage eines Kartenmodells von James Gall (1808–1895) neu veröffentlicht. Peters verstand seine Karte als kritischen Gegen­entwurf zur Mercator-Projektion, die er als euro­zentristisch wahrnahm. Er bezog sich dabei nicht nur auf die Größen­verzerrung, die den globalen Süden im Vergleich zum Norden verkleinerte, sondern auch auf die Zentrierung auf Europa. Dass Europa im Mittelpunkt steht, ist jedoch kein Allein­stellungs­merkmal der Karten Gerhard Mercators. Schon lange vor und auch nach ihm zentrierten Kartograf*innen häufig auf die Region, die ihnen am vertrautesten war: Das war in Mercators Fall Europa, konnte aber auch China oder der arabische Raum sein. Durchgesetzt hat sich jedoch der Standard, den Norden oben und den Süden unten zu zeigen. Dies vereinfacht die Lesbarkeit von Karten­material. Eine Karte, die augenscheinlich auf dem Kopf steht, wäre allerdings genauso „richtig“ bzw. genauso „falsch“. © BOK+Gärtner
Die gute Nachricht: Durch die Vielzahl an Darstellungs­möglichkeiten finden sich eigentlich für jeden Zweck eine passende Projektions­art und eine Karte. Zumindest im deutschen Unterricht wird heute meistens die Erde in der Winkel-Tripel-Projektion gezeigt und auch von National Geographic für Weltkarten genutzt. Die Projektion ist weder winkel- noch flächen­getreu, sondern sucht einen Mittelweg. Für europäische Betrachter*innen ungewohnt: Für die hier gezeigte Karte wurde der Pazifik ins Zentrum gerückt. So oder ähnlich werden Karten beispiels­weise in Japan gezeigt, um eine schnelle Orientierung und Verortung der lokalen Betrachter*innen zu ermöglichen. © BOK+Gärtner
Power-Atlas
Die Coronapandemie hat neue Rivalitäten zwischen Großmächten und globale Spannungen offenbart. Dabei geht es nicht nur um traditionelle Mittel wie Militär und Wirtschafts­kraft, sondern mehr und mehr um öffentliche Güter im globalen Kontext. Diese neue geopolitische Weltlage hat der European Council on Foreign Relations (ECFR) kartografiert: Der Power-Atlas erscheint im Dezember. Er zeigt, welche Länder zum Beispiel einen Exportstopp für Gesundheits­güter verhängt haben. © ECFR

Und jetzt noch ein kleines Kartenrätsel. Sie haben sich intensiv mit den unterschiedlichen Details von Karten beschäftigt und gemerkt, wie schon Kleinigkeiten einen großen Unterschied machen können. Nun also die Frage an Sie: Welche Unterschiede fallen Ihnen bei diesen Karten auf?

Karte 1 © BOK+Gärtner
Karte 2 © BOK+Gärtner
Karte 3 © basierend auf der Karte Two Worlds (Time Magazin 1950) / Cornell University – PJ Mode Collection of Persuasive Cartography
Karte 4 © basierend auf der Karte Two Worlds (Time Magazin 1950) / Cornell University – PJ Mode Collection of Persuasive Cartography

Zur Auflösung geht es hier lang.

Mercator Veranstaltungen und Ausstellungen

Die Veranstaltungen und Ausstellungen der Stiftung Mercator regen zu Dialog und Diskussion an. In Essen und Berlin dienen die Räumlichkeiten der Stiftung als Galerien, um sich künstlerisch mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen.