Was passiert nach Erdoğans Wahlsieg mit der türkischen Zivil­gesellschaft?

Erdogan-Wahlplakat
Was passiert nach Erdoğans Wahlsieg mit der türkischen Zivil­gesellschaft?
Autorin: Marion Sendker 01.06.2023

Der neue türkische Staatspräsident ist der alte: Recep Tayyip Erdoğan hat die Präsidenten-Stichwahl am 28. Mai in der Türkei gewonnen. Was bedeutet das für das Land? Senem Aydın Düzgit von der Istanbul Policy Center – Sabancı University – Stiftung Mercator Initiative findet im Interview klare Worte.

Recep Tayyip Erdoğan hat seine Präsidentschaft verteidigt. Erwarten Sie, dass er nun härter regieren wird, oder könnte er die Zügel etwas lockern, da er auch im Parlament eine größere Mehrheit hat als vorher?

Senem Aydın Düzgit: Ich denke, es geht weiter wie bisher. Das bedeutet die Fortsetzung des autoritären Systems, das jetzt aber noch verfestigen könnte. Durch den Wechsel zum Präsidial­system vor einigen Jahren hat Erdoğan alle Macht in einem Amt gebündelt. Es ist einfacher für ihn, als Ein-Mann-Show zu regieren. Meine Befürchtung ist also, dass sich die Autokratie konsolidiert.

Wie könnte Erdoğan das System noch auto­kratischer machen?

Er hat bereits angedeutet, dass er die Hürde für die Präsidentschafts­wahlen von 50 auf 40 Prozent senken möchte. Es kann auch sein, dass der Staat noch mehr Einfluss auf Institutionen nimmt und dass letzte unabhängige Bereiche, etwa in den Gerichten, wahrscheinlich nach weiteren, sagen wir, fünf Jahren nicht mehr existieren werden.

Wie sieht es mit der Zukunft der türkischen Zivil­gesellschaft aus? Sie musste schon viel unter der Regierung Erdoğans kämpfen.

Bürgerliche Freiheiten der türkischen Zivil­gesellschaft werden schon lange stark beschnitten. Ich würde sagen, dass das auch weiterhin der Fall sein wird, und rechne nicht mit Freiräumen oder einer Stärkung der demokratischen Zivil­gesellschaft. Stattdessen wird wohl das Feld zukünftig noch stärker von regierungs­nahen Nicht­regierungs­organisationen dominiert.

Wichtige Personen der Zivil­gesellschaft sitzen bereits seit Jahren im Gefängnis. Einer von ihnen ist der Menschen­rechts­aktivist und Kulturmäzen Osman Kavala. Er und viele andere, darunter Selahattin Demirtaş, der frühere Vorsitzende der prokurdischen HDP, gelten als politische Gefangene. Wie schätzen Sie ihre Chancen ein?

Das ist eine schwierige Frage für mich. Ich kenne sie und ihre Familien, und ich möchte ihnen nicht die Hoffnung nehmen. Aber ich bin nicht sehr optimistisch, was eine kurz­fristige Frei­lassung angeht. Bei dieser Regierung ist es sehr schwer vorher­zu­sagen, was sie machen wird. Ich weiß auch nicht, ob sie die politischen Gefangenen noch für Tausch­geschäfte benutzen würde. Wenn die türkische Regierung Kavala, Demirtaş oder die anderen für irgendeinen Deal mit dem In- oder Ausland einsetzen kann, dann könnte Erdoğan sie vielleicht freilassen. Aber abgesehen davon fällt mir kein Grund ein, warum er es sonst machen wollen würde.

Dr. Senem Aydın Düzgit

Dr. Senem Aydın Düzgit ist Dozentin für Inter­nationale Beziehungen an der Fakultät für Geistes- und Sozial­wissenschaften der Sabancı-Universität in Istanbul und Koordinatorin für Forschung und akademische Angelegenheiten am Istanbul Policy Center (IPC). Sie forscht schwer­punkt­mäßig zur europäischen und türkischen Außen­politik, inter­nationalen Demokratie­förderung sowie zu den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Ihre Arbeit wurde in zahl­reichen inter­nationalen Fach­magazinen veröffentlicht und bereits mehrfach mit inter­nationalen Preisen ausgezeichnet.

Westeuropäische Politiker*innen haben Erdoğan schon oft ermahnt, die Einhaltung der Menschen­rechte zu gewähr­leisten und politische Gefangene wie Kavala freizulassen.

Das stimmt. Aber ich bin über die Türkei­politik West­europas und vor allem Deutschlands nicht glücklich. Ganz und gar nicht. Ich denke, Deutschland schien mit dieser Art eines ruhigen Transaktions­modus, in den sich die Beziehungen verwandelt haben, ziemlich zufrieden. Und das hat natürlich zur Desillusionierung vieler pro­europäischer Kräfte in der Türkei beigetragen. Die Wahlen haben gezeigt, dass etwa die Hälfte der 85 Millionen Menschen, die in der Türkei leben, für ein demokratischeres Land ist. Das sagt viel aus. Europa und vor allem Deutschland müssen sich mit diesem Teil der Bevölkerung auseinander­setzen, anstatt ihn zu verprellen. Die politischen Entscheider*innen sollten sich mal Gedanken darüber machen, wie sie unserer Gesellschaft näher­kommen und wie sie die demokratischen Oppositions­kräfte am Leben erhalten können.

Demonstrant*innen erinnern an die Opfer des Gezi-Aufstandes im Juni vor zehn Jahren – das jüngste Opfer war Berkin Elvan, der 2013 erst 14 Jahre alt war.
Demonstrant*innen erinnern an die Opfer des Gezi-Aufstandes im Juni vor zehn Jahren – das jüngste Opfer war Berkin Elvan, der 2013 erst 14 Jahre alt war. © picture alliance

Wie können und sollten Europa und Deutschland sich denn jetzt, nach Erdoğans Sieg, gegenüber der Türkei positionieren?

Ich bin keine Politikerin, aber ich denke, der Westen sollte die demokratischen Gruppen der Gesellschaft, die eine Rückkehr zur Rechts­staatlichkeit wollen, viel aktiver und substanzieller unterstützen. Sonst drohen sie zu ersticken. Es geht nicht nur darum, hier und da ein Projekt zu finanzieren. Das Engagement muss gerade jetzt konstruktiver und solider sein als bisher. Die EU und Deutschland sprechen immer von „Kontakten von Mensch zu Mensch“. Aber das sind meist nur Worte. Die nächsten Jahre werden ein Test für die Türkei. Die demokratische Opposition kann entweder ganz verschwinden oder stärker werden. Deutschland sollte sich mehr mit der Zivil­gesellschaft und mit oppositionellen Kräften aus allen Schichten aus­einander­setzen.

Ich denke, Deutschland schien mit dieser Art eines ruhigen Transaktions­modus, in den sich die Beziehungen verwandelt haben, ziemlich zufrieden zu sein.

Senem Aydın Düzgit

Können Sie ein paar Bereiche nennen, in denen Hilfe von außen jetzt wichtiger wird denn je?

Das westliche Ausland sollte zum Beispiel diejenigen unterstützen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen, die sich mit Geschlechter­fragen befassen. Das muss nicht immer über die deutsche Bundes­regierung organisiert werden oder über eine Organisation laufen, die sich explizit für Demokratie einsetzt.

Abgesehen davon, sehe ich, dass das Visum-Problem groß geworden ist. Menschen in der Türkei, die Verbindungen zu Europa haben oder eher prowestlich und prodemokratisch eingestellt sind, können kaum noch in die EU einreisen. Ich weiß nicht, wie das mit den Visa geregelt werden könnte. Europa ist ja wegen unserer Regierung besonders besorgt über die hohe Zahl der Asyl­bewerber*innen aus der Türkei. Trotzdem muss ein Weg gefunden werden, mehr Freizügigkeit für kurz­fristige Besuche zu gewähren.

Erdogan auf eine Häuserwand projiziert
Der neue und alte Staatspräsident: Recep Tayyip Erdoğan. © picture alliance
Erdogans Anhänger*innen feiern seinen Sieg bei der Stichwahl am 28. Mai.
Seine Anhänger*innen feiern seinen Sieg bei der Stichwahl am 28. Mai. © picture alliance
Autokorso in deutscher Großstadt nach Erdogans Wahlsieg
© picture alliance

Die Wahlen waren nicht nur für die Entwicklung der Demokratie wichtig, sondern auch für die Wirtschaft. Ökonom*innen warnen seit Monaten, dass die Inflation massiv ansteigen wird, weil Staats­reserven monate­lang in das System gepumpt worden sind, um die Währung künstlich stabil zu halten. Viele Menschen haben jetzt Angst um ihr Geld. Wird Erdoğan seine Wirtschafts­politik ändern?

Er hat bereits erklärt, dass er an seinem wirtschaftlichen Mantra festhalten wird: Um die Inflation niedrig zu halten, sollen die Zins­sätze niedrig bleiben und so weiter. Ich denke, dass das eine bewusste Entscheidung ist. Der Regierung dürfte klar sein, dass die breite Masse leiden wird. Aber solange sie weiterhin ihre Regierungs­netz­werke versorgen und ihre Form des Staats­kapitalismus fördern kann, gepaart mit mehr Repression und einem autoritären System, glaube ich, dass sie ihren Kurs beibehält.

Katerstimmung nach der Stichwahl – etwa die Hälfte der 85 Millionen Menschen, die in der Türkei leben, ist für ein demokratischeres Land. Nun droht der Opposition weitere Einschüchterung durch Erdoğans Regierung.
Katerstimmung nach der Stichwahl – etwa die Hälfte der 85 Millionen Menschen, die in der Türkei leben, ist für ein demokratischeres Land. Nun droht der Opposition weitere Einschüchterung durch Erdoğans Regierung. © picture alliance

Ist das gefährlich für Investitionen aus dem Ausland – zum Beispiel aus Deutschland?

Was den meisten Investor*innen Angst macht, ist die Unvorhersehbarkeit von Entscheidungen, die am nächsten Tag getroffen werden könnten. Wir müssen aber bedenken, dass der Westen nicht mehr der einzige Akteur ist, der auf die türkische Politik und Wirtschaft Einfluss nehmen kann. Die Welt hat sich verändert. Die Türkei wendet sich in Geldfragen an Staaten wie die der Golfregion, an Russland oder China. Erdoğan positioniert sich zwischen dem Westen und anderen, eher illiberalen, autoritären Akteuren.

Wie sieht es mit den politischen Beziehungen zu Europa aus? Zuletzt waren sie nicht sehr freundschaftlich.

Das Misstrauen zwischen beiden Seiten, das über Jahre gewachsen ist, wird wahrscheinlich weiter zunehmen. Ansonsten dürfte es weiter­gehen wie bisher. Die Zusammen­arbeit ist minimal und auf einige Bereiche beschränkt – wie die der Migration. Erdoğan wird wohl einige Migrant*innen in ihre Heimat zurückschicken und auch die finanziellen Details im Zusammenhang des Migrations­deals mit der EU neu verhandeln wollen. Aber das dürften nur Feinheiten sein.

Wird sich die Türkei Russland dafür noch stärker annähern?

Je mehr sich das türkische Regime vom Westen entfernt und angesichts der Wirtschafts­krise überleben muss, desto mehr wird es das Bedürfnis haben, sich mit illiberalen Mächten zu verbünden. Das ist vor allem Russland. Und wir wissen, dass Moskau hinter der Regierung Erdoğans steht.

Bedeutet das dann gleichzeitig eine Verschlechterung der trans­atlantischen Beziehungen? Ein wichtiges Thema war da zuletzt der Streit um die Aufnahme Schwedens in die NATO.

Ich erwarte, dass Erdoğan in naher Zukunft dem Beitritt Schwedens zur Nato zustimmen wird. Für das trans­atlantische Verhältnis hängt es davon ab, wer in den USA an die Regierung kommt. Wenn es die Demokraten sind, erwarte ich, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Das Verhältnis dürfte sich weiter verschlechtern bis marginalisieren. Wenn eine Trump-Administration an die Macht kommt, könnten sich die Beziehung wieder ändern und mehr auf Austausch basieren.


Istanbul Policy Center

Das Istanbul Policy Center (IPC) fördert den Austausch von Menschen und Ideen in der Türkei. Der Thinktank forscht zu Themen wie Klima­wandel, institutionelle Reformen, Energie­wende, Urbanisierung oder Konflikt­lösungen. Herzstück der Initiative mit der Stiftung Mercator ist das Fellowship-Programm.
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