Zwischen Sorgen und Träumen: junge Ukrainer*innen in der EU
Sofiia und Artem mussten aus ihrem Land fliehen. Zu Beginn des flächendeckenden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verließen die beiden jungen Erwachsenen Kiew – und leben nun in München. Im Rahmen des Programms „Generation Europe – The Academy“ schöpfen sie Zuversicht für die Zukunft.
Es war ein magischer Moment an diesem einsamen Strand auf Korfu im Sommer 2022. „Wir haben zum ABBA-Song ,Dancing Queen‘ getanzt. Das war lustig, ein bisschen wie in dem Film ,Mamma Mia!‘“, erinnert sich Sofiia Tatur an den Abend. Alle waren in Weiß gekleidet und hatten selbst gebastelte Kränze aus Olivenzweigen in den Haaren. Es war die Abschiedsfeier der Gruppe von „Generation Europe – The Academy“. Das internationale Netzwerk von Jugendeinrichtungen fördert den Aufbau einer aktiven europäischen Zivilgesellschaft. Mit anderen jungen Erwachsenen aus Griechenland, Deutschland und ihrem Heimatland Ukraine hatte Sofiia eine Woche auf der Insel verbracht. Für die junge Frau war es der erste Urlaub seit Langem, weit weg von den Sorgen, die sie, ihre Familie und Freund*innen seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine umtreiben.
Nun sitzt sie neben Artem Voloshchuk in einem sonnigen Büro im Münchener Westend. Kateryna Henrikh, die Betreuerin der Gruppe von „Generation Europe“, hat Tee gemacht. Zeit, zu erzählen, was im Leben von Sofiia und Artem gerade so los ist.
Ankommen in Deutschland
Ein bisschen wussten die 20-jährige Sofiia und der 18-jährige Artem schon über München, als sie ihre Heimat verlassen mussten. München ist die Partnerstadt von Kiew, wo sie bisher gelebt haben. Am Münchener Rathaus hängt seit dem Beginn des flächendeckenden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 eine ukrainische Flagge. Die Beziehung zwischen den beiden Städten ist besonders eng. 16.000 Geflüchtete aus der Ukraine leben mittlerweile in der bayerischen Landeshauptstadt.
Deutschland kannte Sofiia schon, weil sie sich 2021 in der Nähe von Düsseldorf für einen Au-pair-Job vorbereitet hatte. Zurzeit macht sie nicht nur einen Deutschkurs, sie kann online auch ihr Modedesign-Studium fortsetzen, das sie in der Ukraine begonnen hatte. Sie ist bereits im 6. Semester und will im September an die Uni nach Wien wechseln. In München lebt Sofiia mit ihrer Mutter, ihrem siebenjährigen Bruder und ihrer zehn Jahre alten Schwester zusammen. Sie vermisst ihren Vater, der weiterhin in Kiew lebt. Er muss zwar nicht als Soldat kämpfen, doch der Alltag in dem vom Krieg heimgesuchten Land ist weiterhin gefährlich und belastend.
„Wir haben uns in Deutschland erst ziemlich schwergetan. Plötzlich waren wir in einem anderen Land – ohne dass wir das je wollten“, erinnert sich Sofiia an die ersten Wochen. Eine glückliche Fügung war, dass ihre Tante schon länger in München lebt und ihnen einen ersten Zufluchtsort bieten konnte. Auf Dauer war die Zweizimmerwohnung jedoch viel zu klein. „Wir haben zu viert auf einem großen Sofa geschlafen“, erzählt sie. „Psychisch war das eine sehr deprimierende Zeit für mich.“
Engagement für Europa
Mittlerweile geht es ihr besser. Sofiia hat sich schneller als ihre Mutter eingelebt. Das habe sie auch dem Programm „Generation Europe – The Academy“ zu verdanken, berichtet sie. Dort traf sie auf Gleichaltrige mit ähnlichen Sorgen, Hoffnungen und Träumen. Die Idee dieses Projektes von „Generation Europe“: Jugendliche aus verschiedenen Ländern arbeiten über einen Zeitraum von drei Jahren kontinuierlich zusammen und engagieren sich politisch. Dieses Mal kommen sie aus Deutschland, Griechenland und der Ukraine. Seit 2022 sind zehn junge Ukrainer*innen dabei, die bis 2024 gemeinsam aktiv sind.
Unter ihnen ist auch der 18-jährige Artem. Dass er überhaupt die Ukraine verlassen konnte, war nicht selbstverständlich. Denn Männer zwischen 18 und 60 Jahren müssen seit Beginn des russischen Angriffskrieges in ihrem Heimatland bleiben. Artem war gerade noch 17 Jahre alt, als er sich mit seiner Mutter und sechs anderen Menschen – darunter ein Baby – in einem Auto auf den Weg nach Deutschland machte. Es ging nur mühsam voran, die Fahrt dauerte zwei Tage. Die Erleichterung war groß, als sie endlich bei Artems Patin in München ankamen.
Er besucht nun die 11. Klasse eines Münchener Gymnasiums. Deutsch beherrscht er bereits gut, Englisch noch ein bisschen besser, weil er die Sprache bereits seit vielen Jahren lernt. Manchmal wechselt er plötzlich vom Englischen ins Deutsche. „Denglisch“, kommentiert er das und lacht.
Artem träumt davon, nach dem Abitur an der Technischen Universität München zu studieren, irgendwas mit Informationstechnik oder Künstlicher Intelligenz. „Ich glaube, diese Technologien werden unsere Welt verändern. Sie bieten so viele Möglichkeiten, zum Beispiel das autonome Fahren“, erzählt er voller Begeisterung. „Das hat mich richtig gepackt. Ich hoffe, ich schaffe das Studium und finde dann einen Job.“ Sein Leben in München findet er zwar „total okay“. Doch natürlich wäre er lieber in seiner ukrainischen Heimat. Die deutsche Bürokratie ist ungewohnt, gemeinsam mit seiner Mutter musste er viel Zeit bei Behörden verbringen. In der Ukraine könne man vieles bereits über das Smartphone regeln, erzählt Artem. „Ich habe den Eindruck, in Sachen Digitalisierung sind wir in der Ukraine in einigen Bereichen weiter als in Deutschland“. Sofiia sieht das ganz ähnlich, viele Dokumente wie Führerschein und Ausweis hat sie auf ihrem Smartphone.
Müll sammeln für die Zukunft
Im sicheren München gehören Gefühle wie Heimweh und Einsamkeit zum neuen Alltag von Sofiia und Artem. Umso glücklicher sind die beiden, dass sie über das Programm „Generation Europe – The Academy“ andere Jugendliche aus der Ukraine, aus Deutschland und Griechenland kennenlernen konnten. Als Sofiia das erste Mal davon hörte, war sie sofort begeistert: „Wow, ein interessantes Projekt, da muss ich dabei sein!“
Besonders gern erinnern sich Sofiia und Artem an die Woche im Sommer 2022, die sie mit der Gruppe von „Generation Europe“ auf der griechischen Insel Korfu verbracht haben. Die Gruppe hat sich von Anfang an bestens verstanden. Gemeinsam sollten sich die jungen Erwachsenen hier engagieren, etwa indem sie achtlos weggeworfenen Müll am Strand einsammelten. „Vor der Reise haben wir viel über Aktivismus diskutiert, hier konnten wir tätig werden“, erzählt Artem – und seufzt: „Es war wirklich sehr viel Müll!“ Was haben sie aus dieser Zeit in Griechenland für sich persönlich und für Europa gelernt, welche Erkenntnisse für die Zukunft mitgenommen?
„Generation Europe zeigt mir, wie wichtig das Engagement für andere ist“, sagt Artem. „Wenn jemand auf der Straße einen Herzanfall erleidet, denken doch die meisten, dass schon irgendjemand hilft. Aber so darfst du nicht denken. Du musst handeln und helfen. Das dauert vielleicht eine Stunde deines Lebens, aber es kann das Leben eines anderen Menschen retten.“ „Wenn du etwas Gutes tust, kommt es sicher zu dir zurück“, meint auch Sofiia. „Meine Familie war in der Ukraine schon immer ehrenamtlich tätig“, erzählt sie. So engagierte sie sich für „The Social Wardrobe“. Die gemeinnützige Organisation lieferte beispielsweise während der Lockdowns Essenspakete an ältere Menschen und alleinerziehende Mütter oder verteilt Kleidung an Bedürftige.
Was die Ukraine von Europa lernen kann
Die beiden jungen Menschen treibt die Frage um, wie sie die Zukunft besser gestalten können. Doch wie ihre Ziele und Wünsche in griffige Worte fassen, wie einen Ausdruck für den Traum von einer besseren Welt finden? Die Jugendlichen entwarfen dafür auf Korfu farbenfrohe Plakate mit animierenden Slogans: „Stop burning our oxygen“ oder „Dream, plan, do“. Auch über die kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede sprachen die Jugendlichen viel, denn jede*r hat in ihrem oder seinem Heimatland andere Erfahrungen gemacht. Und dennoch sehen sie sich als Teil der Generation Europa. „Ich identifiziere mich damit, und ich möchte innerhalb der Europäischen Union leben, auch wenn die Ukraine mein Heimatland ist. Die Ukraine kann von Europa lernen, zum Beispiel bei Problemen wie der Korruption“, erzählt Sofiia. Umwelt- und Klimaschutz liegen ihr ebenso sehr am Herzen wie Hilfsbereitschaft und Solidarität: „Wir dürfen nicht nur an uns selbst und unser Umfeld denken.“ „Genau, wir müssen auf die Welt achten“, sagt auch Artem, „sonst zerstören wir unseren Planeten. Ich hoffe so sehr, dass wir und unsere Kinder in Frieden leben können.“
Und wie denken Sofiia und Artem über ihre eigene Zukunft? „Ich weiß nicht, wo ich einmal leben möchte“, sagt Sofiia. „Ich habe das Gefühl, dass ich höchstens ein oder zwei Jahre im Voraus planen kann.“ Anfangs glaubte sie noch, bald in die Ukraine zurückkehren zu können. Die Hoffnung, dass der Krieg bald vorbei ist, haben beide auch über ein Jahr später nicht aufgegeben. Der Austausch mit den anderen Jugendlichen von „Generation Europe“ hilft ihnen dabei, zuversichtlich zu sein. Den Sommer 2023 wollen sie zu einem Sommer der europäischen Jugendzusammenarbeit machen. Dabei sollen Fragen zur Zukunft Europas im Mittelpunkt stehen – während in Sofiias und Artems Heimat Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerstört werden.
Generation Europe – The Academy
„Generation Europe – The Academy“ ist ein internationales Netzwerk von Jugend-einrichtungen zur Förderung einer aktiven europäischen Zivilgesellschaft. Es motiviert die beteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum gemeinsamen politischen Handeln und schafft durch gezielte Qualifizierung die Voraussetzungen dafür. „Generation Europe“ ist ein Förderprogramm des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes (IBB).
generationeurope.org/