„Immunreaktion der Gesellschaft“ – Steffen Mau und Hans Vorländer über die Demos gegen rechts
Seit Anfang 2024 demonstrieren in Deutschland Hunderttausende gegen Rechtsextremismus. Die Sorge um die Demokratie scheint gerade die gesellschaftliche Mitte zu mobilisieren. Doch ist das ein wirklich nachhaltiger Trend? Wir befragten den Soziologen Steffen Mau und den Politikwissenschaftler Hans Vorländer.
„Stoppt die AfD“, „Jetzt können wir herausfinden, was wir anstelle unserer Großeltern getan hätten“, „AfD wählen ist so 1933“ – die Plakate auf den Demonstrationen gegen rechts sprechen eine deutliche Sprache. Die Demonstrierenden sehen die Demokratie in Gefahr. Nachdem die Proteste nach den CORRECTIV-Recherchen zum Potsdamer Geheimtreffen von Rechtsextremisten anfangs sporadisch und unkoordiniert erfolgten, gehen seit Anfang 2024 regelmäßig und im ganzen Land Hunderttausende auf die Straße. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach angesichts der hohen Teilnehmendenzahlen von einem „starken Zeichen für die Demokratie und unser Grundgesetz“. Doch welche Wirkung hat die Protestwelle? Vereint das Engagement gegen rechts tatsächlich unsere Gesellschaft, die so oft als gespalten bezeichnet wird?
Der Soziologe Steffen Mau von der Humboldt-Universität zu Berlin erklärt in seinem Buch „Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“, warum sich Positionen im öffentlichen Diskurs verhärten, während zugleich in weiten Teilen der Bevölkerung überwiegender Konsens herrscht. Mau weist auch nach, dass die deutsche Bevölkerung entgegen weitläufiger Annahmen eben nicht in zwei Lager gespalten ist, sondern sich in einer „zerklüfteten Konfliktlandschaft“ befindet. Grundsätzliche Meinungen und Werte lägen dabei gesamtgesellschaftlich nah beieinander, bei „Triggerpunkten“ entbrenne jedoch oft eine heftige Debatte. Die meisten Deutschen stünden beispielsweise für Vielfalt ein, gendergerechte Sprache werde jedoch von vielen vehement abgelehnt.
In den Demos gegen rechts sieht Steffen Mau nun ein ermutigendes Zeichen für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Mitte sei im Protest gegen rechts vereint. „Das ist eine überraschende Wendung“, sagt er. „Die rechtspopulistische AfD hatte lange Zeit einen Vorteil in der Dynamik. Man hatte das Gefühl, da läuft eine rechte Welle mehr oder weniger unaufhaltsam durchs Land. Doch jetzt gibt es eine starke Gegenbewegung und damit eine größere Sichtbarkeit der bislang sehr stillen Mitte.“
Was bewirkt der Aufstand der Mitte?
Auch Politikwissenschaftler Hans Vorländer, Direktor des Mercator Forums Migration und Demokratie (MIDEM) und Leiter der MIDEM-Studie über affektive, themenbezogene Polarisierung in Europa, sieht positive Tendenzen: „Wir können durchaus von einem Aufstand der Mitte reden. Weil es darum geht, die demokratische Mitte zu stabilisieren und sie von der Versuchung abzuhalten, ihren Protest, den sie vielleicht gegenüber der Ampelkoalition haben mag, in eine Stimmabgabe für die AfD umzuwandeln.“ Die Mitte sei, so zeige auch die MIDEM-Studie, generell sehr viel geringer polarisiert als die Ränder des politischen Spektrums. Deshalb komme ihr auch eine besondere Bedeutung zu, wenn es um die Stabilisierung der Demokratie gegen Gefährdungen gehe.
Wir können durchaus von einem Aufstand der Mitte reden.
Viel effektiver als etwa ein AfD-Verbotsverfahren sei der zivilgesellschaftliche Widerstand und das Engagement der demokratischen Mitte, so der Politologe. Darauf komme es nun an, auch für die Wirkung aufs Ausland. Denn Vorländer meint, dass die Geheimtreffen-Affäre der AfD dem Ruf Deutschlands geschadet habe und Menschen aus dem Ausland davon abhalte, hierherzukommen: „Im Ausland ist leider längst bekannt, was die Rechtsextremen in Deutschland schon lange öffentlich diskutieren. Ich glaube, dass diese Welle an Demonstrationen auch ein außenpolitisches Zeichen für die Wehrhaftigkeit der deutschen Gesellschaft ist.“
Ich glaube, dass drei Viertel der Bevölkerung fest auf der Seite der Demokratie stehen.
Steffen Mau spricht daher von einer „Immunreaktion“, wenn es um die Mobilisierung der Mitte geht. „Die Gesellschaft hat entdeckt, dass es eine Art Korrosion der demokratischen Grundlagen unseres Zusammenlebens geben kann, die durch eine starke Dynamisierung des rechten Rands erfolgt.“ Weiter erklärt er: „Die Menschen vertrauen nicht allein ihren Institutionen, den Behörden, den Verfassungsgerichten, sondern werden selbst aktiv. Sie werden sichtbar und zeigen, dass eine laute Minderheit, die behauptet, für die schweigende Mehrheit zu sprechen, falschliegt. Die Demonstrierenden machen klar, dass das Erstarken rechtsextremer Tendenzen nicht hinnehmbar ist.“
Dies sei insofern eine wichtige und positive Reaktion, da die breite gesellschaftliche Mitte zu lange passiv gewesen sei. Sie hätte das politische Geschehen zwar beobachtet, auch eine Meinung dazu gehabt, sei aber der Ansicht gewesen, dass die Demokratie selbstverständlich sei und man sich nicht weitergehend organisieren müsse.
Wird die stille Mitte laut bleiben?
Ob dieses Momentum des Engagements und der Mobilisierung von Bürger*innen anhält und zu einer nachhaltigen Schwächung der AfD bei Wahlen führe, bleibe abzuwarten, so Vorländer. Mau ist optimistischer: „Wir sehen, dass eine Gegenbewegung möglich und auch relativ schnell mobilisierbar ist. Ich glaube, dass drei Viertel der Bevölkerung fest auf der Seite der Demokratie stehen. Die haben sich jetzt sichtbar gemacht, eine Artikulationsform gefunden und signalisiert, dass eine Fortsetzung folgen kann.“
Mercator Forum Migration und Demokratie
Das Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) ist ein Forschungszentrum an der TU Dresden. Es fragt danach, wie Migration demokratische Prozesse sowie Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird.
forum-midem.de