Jahresausblick 2023

2023
Jahresausblick 2023
Autor*innen: Julia Reinhardt, Wiebke Zimmer, Michael Werz, Ferda Ataman 03.01.2023

Wir wollen mit Ihnen einen Blick in die Zukunft wagen: Vier Gast­autor*innen aus allen Themen­bereichen der Stiftung Mercator verraten, was für sie 2023 spannend, entscheidend und heraus­fordernd wird – sei es die wachsende Dominanz des Pazifischen Raumes oder die Klima­schutz­lücke im Verkehr.

Ein Jahres­ausblick mit Julia Reinhardt, Expertin für künstliche Intelligenz, Michael Werz vom Center for American Progress, Wiebke Zimmer von der Agora Verkehrs­wende und Ferda Ataman, Unabhängige Bundes­beauftragte für Anti­diskriminierung:

Künstliche Intelligenz: das Werkzeug der Zukunft

von Julia Reinhardt

2023 werden in Europa große Schritte gemacht, neue Regeln für Technologien zu etablieren und bestehende zu stärken. Das bedeutet zunächst viel Arbeit für uns, wird Geld kosten und Nerven aufreiben. Und dennoch werden diese Regeln uns und der Gesellschaft dienen. Einige Unternehmen werden auf der Strecke bleiben, weil ihre Geschäfts­idee sich in Luft auflöst: zu wenig Gewinn oder nicht den Normen entsprechend, die wir schon vor Jahrzehnten etabliert haben und die endlich auch im Technologie­bereich anfangen, sich durch­zu­setzen. Gleich­behandlung, Verbraucher­schutz, Wettbewerb – das wird manche Unternehmen stärker als zuvor in ihrem Wachstum bremsen. Aber die meisten Innovationen wird es voran­bringen, indem tatsächlich sinnvolle Ideen den Raum bekommen, den sie verdienen.

Einige Führungskräfte in Unternehmen werden über ihre Schatten springen und Silos einreißen müssen. Für politische Entscheidungs­träger*innen wird es fundamental sein, beim Stichwort KI-Wirtschaft nicht nur die großen Player, also „Big Tech“ zu sehen. Die kleinen Firmen haben einen deutlichen Wettbewerbs­nach­teil gegen­über großen, denn häufig gilt: Je mehr Daten ein Unternehmen zur Verfügung hat, desto besser ist sein KI-System. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Daten unter fairen Bedingungen auch kleinen Anbieter*innen zur Verfügung stehen. In meinem Mercator Senior Fellowship setze ich mich dafür ein, dass kleine Betriebe bei der Implementierung von Regeln zum Schutz vor Risiken von KI die nötige Stimme bekommen. Im engen Dialog mit der Zivil­gesellschaft, denn das ist die Koalition, die wir jetzt brauchen!

2023 besteht außerdem die Chance, die kleinen KI-Unternehmen über eine entsprechende EU-Gesetz­gebung vor den großen zu schützen. Eine solche Regulierung kann kleinen Anbieter*innen Rechts- und Planungs­sicherheit geben und sie zu Entwicklungen pushen, die in der Klima­krise und angesichts von Liefer­engpässen die Denk­fähigkeit von KI nutzen. Die Zusammen­arbeit mit den USA wird dies­bezüglich ausgesprochen wichtig sein. Dort schätzen Politik und Gesellschaft die Regulierung von Technologien zurzeit ähnlich ein – und diese Synergie sollten wir nutzen.

Julia Reinhardt
© Barak Shrama

Julia Reinhardt ist Expertin für die Regulierung von Künstlicher Intelligenz und Daten­schutz­fragen. Als Senior Fellow der Stiftung Mercator am AI Campus Berlin arbeitet sie an der Schnitt­stelle zwischen KI-Unternehmen, Staat, Zivil­gesellschaft und Wissenschaft, um notwendige Regulierungs­vorhaben der europäischen KI-Entwicklung voran­zu­treiben.

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Europa in einer neuen Welt

von Michael Werz

Der wohl begründete Fokus auf die imperialistische russische Invasion der Ukraine verdrängt in den deutschen und europäischen Debatten eine weit wichtigere geopolitische Verschiebung.

Die Zukunft der für Europa lebens­not­wendigen Allianz mit den Vereinigten Staaten wird nicht in der Ukraine, im Mittelmeer oder von der NATO entschieden, sondern im Pazifischen Raum. Die deutsche und europäische Politik muss diese Welten­wende viel ernster nehmen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel beobachtete bereits vor 200 Jahren, dass Ozeane nicht trennen, sondern Regionen auf der kürzesten möglichen Route mit­einander verbinden. Das Mittelmeer bezeichnete er in seinen Schriften als „Achse der Welt­geschichte“ und „vitalisierendes Prinzip der Alten Welt“. Der Pazifische Ozean wird zum Mittel­meer des 21. Jahr­hunderts, die entscheidenden und politischen Handels­verbindungen verlaufen dort.

Der Pazifische Raum verfügt über ungeheures Potenzial: 2030 werden mehr als zwei Drittel der globalen Mittel­schichten in dieser Region leben – ein ökonomisches Kraft­feld ohne­gleichen.

Porträt von Michael Werz. Er ist Senior Fellow der Stiftung Mercator.
© Privat

Michael Werz ist Senior Fellow am Center for American Progress in Washington, D. C., und leitet gemeinsam mit Nathalie Tocci das von der Stiftung Mercator geförderte Projekt Nexus25 – Shaping Multi­lateralism.

Gleichzeitig durchlaufen die USA eine inner­gesellschaftliche Wandlung, die diese Effekte noch bestärkt: Die Gesellschaft wird heterogener, in 20 Jahren gibt es keine weiße Bevölkerungs­mehrheit mehr. Die letzten Volks­zählungen lassen deutlich erkennen, wie der Bevölkerungs­schwer­punkt der USA von Nordosten nach Südwesten rücken wird – und zwar mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Kilometern im Jahr. Ein Bevölkerungs­schwer­punkt wird rechnerisch bestimmt und fasst die Bevölkerungs­verteilung eines bestimmten Raumes oder Gebietes zusammen. So entfernt sich Amerika auch 2023 all­tags­kulturell wie physisch immer weiter von Europa, forciert durch das schnelle Wachstum der asiatischen und latein­amerikanischen Minderheiten.

Diese neuerliche Westverschiebung Amerikas und die daraus resultierende Stärkung pazifischer Bindung ist unumkehrbar. Sie wird auch dazu führen, dass in wenigen Jahrzehnten Europa nicht mehr der Mittelpunkt der Welt ist – nach fünf kolonialen Jahrhunderten.

Die transatlantischen Beziehungen haben zwar das 20. Jahrhundert geprägt, aber die Grundlagen für das alte Normalmaß europäisch-amerikanischer Beziehungen sind verloren gegangen. Eine Neu­begründung ist nicht unmöglich, erfordert aber Mut. Wird diese zur Realität, kann das trans­atlantische Verhältnis auch das Pazifische Jahrhundert überdauern.

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Endlich mehr Fortschritt wagen

von Wiebke Zimmer

Beim Klimaschutz im Verkehr ist es leicht, die Themen für das Jahr 2023 vorherzusehen. Denn die großen Fragen von 2022 sind politisch weiterhin unbeantwortet. Dabei liegen viele Antworten auf dem Tisch. Es geht darum, die Elektrifizierung des Verkehrs schnell voran­zu­bringen, überholte Subventionen und Privilegien des Auto­verkehrs abzubauen, verlässlich ausgestattete Förder­programme für klima­schonende Verkehrs­mittel einzurichten und einen Rechts­rahmen zu schaffen, der es den Kommunen ermöglicht, die Verkehrs­wende vor Ort zu gestalten.

Wiebke Zimmer
© Agora Verkehrswende

Wiebke Zimmer ist seit Anfang 2022 neue stellvertretende Direktorin des Thinktanks Agora Verkehrs­wende. Sie ist promovierte Physikerin und Diplom­chemikerin.

Schwer ist es bislang, die politischen Kräfte zu finden, die die Lösungen umsetzen. Natürlich wird die Verkehrs­wende das Leben der Menschen beeinflussen und ihre Routinen verändern. Gleich­zeitig ist die große Mehrheit der Bevölkerung aber für den Klima­schutz. Wenn die Bundes­regierung ihre Führungs­rolle wahrnimmt und mit einem schlüssigen Gesamt­konzept vorangeht, wird sie breite Mehrheiten für die notwendigen Schritte gewinnen können. Eine Politik, die weiter abwartet, vereinzelt auf Fördermittel setzt und ansonsten auf unvollkommene Marktkräfte hofft, wird scheitern.

Im Frühjahr 2023 will die Bundesregierung ein Klimaschutz-Sofortprogramm vorlegen, mit dem auch die Klima­schutz­lücke im Verkehr geschlossen werden kann. Es wäre höchste Zeit für die Ampel­koalition, den versprochenen Fortschritt zu wagen.

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Ein Leben ohne Diskriminierung

von Ferda Ataman

Ich wünsche mir für 2023: mehr politische Debatten darüber, wie wir als Gesellschaft zusammen­halten können, statt diffamierender Diskussionen gegen „Identitäts­politik“. Jeder Mensch hat das Recht auf ein Leben in Würde, in Freiheit und ohne Diskriminierung. Das steht so im Grund­gesetz. Dafür sollten wir uns alle einsetzen.

Das heißt dann auch, Antidiskriminierung ernst zu nehmen – in der Politik, in der Gesellschaft, als Arbeitgeber*in. Konkret bedeutet es, Menschen mit Behinderung die gleichen Chancen wie Menschen ohne Behinderung zu geben, ins Kino oder ins Rathaus zu kommen. Frauen mit kleinen Kindern den Job zu geben, für den sie qualifiziert sind. Queere Menschen nicht am Arbeits­platz zu mobben. Jemanden zur Wohnungs­besichtigung einzuladen, der*die einen nicht typisch deutschen Namen hat. Im Moment haben wir noch viel zu viele Fälle, wo all da nicht so gut läuft.

Ferda Ataman
© Sarah Eick

Ferda Ataman ist Politologin, Journalistin, Autorin und Expertin für Migration, Diversität und Rassismus. Seit Juli 2022 bekleidet sie das Amt der Unabhängigen Bundes­beauftragten für Anti­diskriminierung im Deutschen Bundestag.

Als Unabhängige Antidiskriminierungs­beauftragte liegt mir am Herzen, dass unser Anti­diskriminierungs­gesetz, das Allgemeine Gleich­behandlungs­gesetz (AGG), Menschen endlich besser schützt. Bisher ist es im europäischen Vergleich schwach auf­gestellt. Zum Beispiel ist die Frist extrem kurz, in der Menschen auf eine Diskriminierung reagieren müssen: acht Wochen. Mir fällt kein anderes Gesetz ein, bei dem man so wenig Zeit hat, um rechtlich vorzugehen. Diese Frist muss verlängert werden, und zwar auf ein Jahr. Und wir müssen uns ansehen, wo das AGG bisher überall nicht gilt: bei der Bildung zum Beispiel oder bei Diskriminierungen aufgrund des sozialen Status. Wir sollten wirklich auch hier helfen können, dafür braucht es die Reform des Gesetzes, die im Koalitions­vertrag angekündigt wurde.

Teilhaben zu können, ist ein Grundrecht. Dafür zu sorgen, dass alle teilhaben können, unsere Pflicht. Auch im Jahr 2023!