Ein Stück näher an Europa

Ein Stück näher an Europa
Autorin: Stella Hesch Fotos: Mika Volkmann 13.10.2022

Die Europäische Union bringt viele Vorteile: keine Grenz­kontrollen, die Möglichkeit, in anderen Ländern zu studieren, zu arbeiten und Freundschaften zu knüpfen. Eine gemeinsame Werte­union. Doch die institutionelle Ebene ist schwer zu durch­schauen, und die Chancen sind nicht allen bewusst. Die Trainer*innen von Understanding Europe wollen junge Menschen dafür sensibilisieren. Sie schlagen Brücken – in Richtung Europa.

„Zu welchem europäischen Land habt ihr eine persönliche Verbindung?“ Das ist die Frage, mit der Nina und Ella an diesem Morgen einsteigen. An der Tafel ist die Europakarte zu sehen. Die Schüler*innen des Berufs­kollegs Bonn-Duisdorf sollen sich einem Land zuordnen und ihre Wahl begründen. „Mit Spanien verbinde ich Urlaub aus meiner Kindheit.“ „Wir fahren immer nach Kroatien.“ „Ich habe Groß­eltern in Italien.“ Viel mehr geben die 17- bis 18-Jährigen noch nicht von sich preis. Der Kurs steht versammelt in der Mitte des Klassen­zimmers. Der Raum ist schlicht, die Wände sind weiß. In den Gängen der Schule hängen die Flaggen der verschiedenen EU-Mitglied­staaten. Der Eingangs­bereich wurde mit Sternen dekoriert. Bei den Schüler*innen macht sich diese Euphorie noch nicht bemerkbar. Hier und da wird getuschelt. Richtig mitmachen wollen sie zunächst nicht. Sie wirken schüchtern. Aber das sind die beiden Trainerinnen von Understanding Europe gewohnt.

Nina engagiert sich seit dem Sommer 2021 bei Understanding Europe.
Nina engagiert sich seit dem Sommer 2021 bei Understanding Europe. © Mika Volkmann
An diesem Tag ist Ella zum ersten Mal als Trainerin für Understanding Europe im Einsatz.
An diesem Tag ist Ella zum ersten Mal als Trainerin für Understanding Europe im Einsatz. © Mika Volkmann

Understanding Europe ist ein Projekt der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa. Ziel ist es, junge Menschen in Europa zur Demokratie­bildung zu befähigen und ihnen eine Stimme zu geben. Dafür sind Nina und Ella – zwei von 28 Trainer*innen – an diesem Morgen von Münster nach Bonn gereist. „Es geht nicht darum, dass wir vor der Klasse stehen und einen Vortrag halten. Wir wollen, dass die Schüler*innen unter­schiedliche Perspektiven aufgezeigt bekommen und für sich selbst entscheiden können, wo sie sich politisch verorten“, erklärt Nina.

Die Meinung der Schüler*innen zählt

Nun wollen Nina und Ella die Jugendlichen aus der Reserve locken. Sie starten mit der Übung „Europa in vier Ecken“. Die Trainerinnen stellen verschiedene Fragen, auf die es jeweils vier Antwort­möglichkeiten gibt. Je nachdem, für welche Antwort sich die Schüler*innen entscheiden, müssen sie eine Ecke im Raum wählen. „Welches ist das größte politische Problem der EU?“, fragt Nina. Fast alle Schüler*innen drängen sich in die gleiche Ecke. Sie sind sich einig, dass der Klimawandel die größte Sorge ist.

Auch der Krieg in der Ukraine wird zum Thema. „Wer findet, dass die EU einschreiten muss, wenn Krieg auf europäischem Boden geführt wird?“, will Nina wissen. Ein paar Schüler*innen heben zögerlich die Hand. Der 17-jährige Juan ist einer von ihnen. „Europa ist wie eine Familie: Wenn ein Mitglied in Schwierig­keiten ist, muss man helfen“, erklärt er. Was passiert, wenn der Krieg nach Deutschland kommt, können die beiden Trainerinnen nicht beantworten. „Auch uns macht der Krieg in der Ukraine Angst“, betont Nina. Die Jugendlichen hören aufmerksam zu. Wie die Schüler*innen sich fühlen, ist hinter den Masken nicht leicht zu erkennen. Das Interesse merkt man ihnen aber an, denn so langsam nimmt der Austausch Fahrt auf.

Die Schüler*innen sind zunächst zögerlich. Während der Übung „Europa in vier Ecken“ tauen sie langsam auf.
Die Schüler*innen sind zunächst zögerlich. Während der Übung „Europa in vier Ecken“ tauen sie langsam auf. © Mika Volkmann

Nina erlebt regelmäßig, dass die Schüler*innen schon nach kurzer Zeit weniger Scheu haben, sich zu beteiligen: „Wir kommen von außen und begegnen den Schüler*innen nur einmal. Wir haben keine persönliche Beziehung zu ihnen, deshalb müssen sie keine Angst haben, Fragen zu stellen.“

Eine Begegnung auf Augenhöhe

„Dadurch, dass wir ungefähr im gleichen Alter wie die Schüler*innen sind, weiß man, welche Probleme sie momentan beschäftigen. Das hilft, damit sie sich schneller öffnen können, und es ist eher wie ein Gespräch unter Freund*innen“, erklärt Ella. Die beiden Frauen sind 23 Jahre alt – also gerade mal fünf bis sechs Jahre älter als die Kurs­teilnehmer*innen, die heute vor ihnen sitzen. Dieses Peer-to-Peer-Konzept sei wichtig, um den Schüler*innen auf Augenhöhe zu begegnen. „Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, in der sich niemand unter Druck gesetzt fühlt. Im Laufe eines Kurses merke ich, dass die Gruppe mehr Vertrauen aufbaut. Die Jugendlichen sollen sehen, dass auch wir nicht unfehlbar sind“, sagt Nina.

Während des vierstündigen Kurses bekommen die Schüler*innen viel neuen Input.
Während des vierstündigen Kurses bekommen die Schüler*innen viel neuen Input. © Mika Volkmann
Die Lehrer*innen des Berufskollegs Bonn-Duisdorf haben anlässlich des Europatages verschiedene Veranstaltungen organisiert.
Die Lehrer*innen des Berufs­kollegs Bonn-Duisdorf haben anlässlich des Europa­tages verschiedene Veranstaltungen organisiert. © Mika Volkmann
Die beiden Trainerinnen begegnen den Schüler*innen stets auf Augenhöhe.
Die beiden Trainerinnen begegnen den Schüler*innen stets auf Augenhöhe. © Mika Volkmann

Nach dem Eckenspiel beginnt die nächste Übung. Der Kurs wird in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Jugendlichen sollen lernen, welchen Einfluss die EU auf ihr Leben hat und wie sie diese selbst mitgestalten können. Deshalb erklärt Nina fünf der Schüler*innen, wie die verschiedenen Institutionen funktionieren. Vor ihnen liegen vier Folien mit viel Text, für jede EU-Institution eine. „Macht euch keine Sorgen. Ich habe das alles auch erst beim vierten oder fünften Anlauf verstanden“, meint sie, während sie sich zu ihnen an den Tisch setzt. Folie für Folie gehen sie die Aufgaben der verschiedenen Einrichtungen durch. Dabei lacht Nina viel und stellt Rück­fragen. Sie kitzelt die Interaktion aus den Schüler*innen heraus. Und auch wenn diese zunächst erschlagen wirken von all den Dingen, die ihnen in der kurzen Zeit erklärt werden, lächeln alle stolz, als Nina die „Expert*innen“ nach vorne bittet. Sie sollen dem Rest des Kurses zeigen, was sie gelernt haben.

Nina möchte die elitäre Welt rund um die EU verständlicher machen.
Nina möchte die elitäre Welt rund um die EU verständlicher machen. © Mika Volkmann
Die Klasse hört aufmerksam zu.
Die Klasse hört auf­merksam zu. © Mika Volkmann
14 Ideen, wie du Europa verändern kannst. Ella erklärt den Schüler*innen, wie sie sich selbst einbringen können.
14 Ideen, wie du Europa verändern kannst. Ella erklärt den Schüler*innen, wie sie sich selbst einbringen können. © Mika Volkmann

Ein Lernprozess für beide Seiten

„Die Welt rund um die EU ist elitär und weit weg von den Bürger*innen. Ich habe das alles erst so richtig im Studium durch­drungen. Deswegen will Understanding Europe die Brücke zu den Schüler*innen bauen“, erläutert Nina. Sie ist mittler­weile im vierten Jahr ihres politik­wissenschaftlichen Studiums. Zwei Jahre hat sie im nord­französischen Lille studiert. Dass nicht jede*r die gleichen Bildungs­chancen erhält, weiß sie: „Das wollen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten so gut es geht ausgleichen. Ich möchte ihnen in dieser kurzen Zeit das Gefühl geben, dass sie etwas verändern können. Sie sollen wissen, dass da noch vieles auf sie wartet.“

„14 Ideen, wie du Europa verändern kannst“ steht auf dem Plakat, das drei der Schüler*innen präsentieren. Wählen ab 18, Petitionen und Demonstrationen sind nur einige Punkte. „Wichtig ist, dass andere Meinungen nicht diskriminiert werden dürfen“, erklärt die 17-jährige Stella dem Rest der Klasse. Dass es zu jedem Thema verschiedene Perspektiven gibt, hat Nina durch den Austausch mit den Jugendlichen gelernt: „Ich habe erkannt, dass man auch skeptische Positionen anhören muss. Die EU ist kein Heilsbringer. Es gibt viele Sachen, die nicht in Ordnung sind.“

Energie aus Erfolgen schöpfen

Gegen Ende des Kurses stellen die Schüler*innen ihre Fragen. Sie sprechen über Arbeits­losigkeit, Steuern und Inflation. Trotz der schwierigen Themen ist die Stimmung gelöst. Es wird gelacht, und die Schüler*innen sind viel offener als noch vor einigen Stunden. Sie erzählen persönliche Anekdoten und erklären ihre Sicht auf die Dinge. „Nina und Ella haben immer nach unserer Meinung gefragt. Dadurch habe ich viel mitgenommen“, sagt Stella. Juan kann sich vorstellen, sich in Zukunft selbst ehren­amtlich zu engagieren: „Vielleicht gehe ich in die gleiche Richtung wie Nina und Ella. Ich möchte etwas für die Welt und für Europa tun.“

Über diese Rückmeldungen freut sich Nina: „Ich würde nicht so viel Energie in dieses Ehrenamt stecken, wenn ich nicht jedes Mal das Feedback bekommen würde, dass die Jugendlichen am Ende etwas gelernt haben. Und wenn das nur heißt, dass sie nun wissen, dass Ursula von der Leyen nicht die Präsidentin vom europäischen Parlament ist.“ Heute haben die Schüler*innen mehr gelernt als das. Am Morgen fiel ihnen nur ihr Urlaub ein, als sie an Europa gedacht haben. Am Ende des Tages sieht das anders aus: „Ich habe heute gelernt, dass die EU ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens ist. Durch sie haben wir Möglichkeiten, die es in anderen Ländern auf der Welt nicht gibt. Europa ist wie eine kleine Familie, die sich gegenseitig unterstützt und hilft“, sagt Juan.


EU-Kompakt-Kurse

Die vierstündigen Kompakt-Kurse bieten jungen Menschen ab 14 Jahren Zugänge zu den Grundlagen der europäischen Integration. Ziel ist es, junge Menschen und ihre demokratische Teilhabe in Europa zu stärken. Junge, eigens geschulte Trainer*innen besuchen die Schule und führen die Kurse durch. Die EU-Kompakt-Kurse sind ein Projekt der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa im Rahmen des Projektes Europa Verstehen.
understanding-europe.org/