Hoffnung nach der Wahl: Wird Polen demo­kra­tischer?

Donald Tusk
Hoffnung nach der Wahl: Wird Polen demo­kra­tischer?
Autorin: Diana Laarz 31.10.2023

Große Hoffnung auf mehr Demokratie in Polen – die Wähler*innen haben die nationalkonservative Regierungspartei PiS abgestraft. Doch nun steht unserem Nachbarland ein zähes Ringen um die Macht bevor. Welche Chancen hat eine künftige Regierung von Donald Tusk? Mercator Senior Fellow Sławomir Sierakowski hofft auf eine starke Rolle Polens in Europa.

AufRuhr: Herr Sierakowski, bei der Parlamentswahl in Polen Mitte Oktober hat die nationalkonservative Regierungs­partei PiS die absolute Mehrheit verloren. Ein Macht­wechsel steht bevor. Haben Sie daran geglaubt?

Sławomir Sierakowski: Ich habe es gehofft. Ich glaube, die PiS-Mitglieder selbst haben damit überhaupt nicht gerechnet. Schauen Sie, wie oft diese Partei die Verfassung gebrochen hat, Vettern­wirtschaft und Korruption waren sehr verbreitet. Und dennoch dachten die PiS-Mitglieder tatsächlich, es würde ewig so weitergehen.

Die Wahlbeteiligung war ungewöhnlich hoch, sie lag bei etwa 74 Prozent. Darunter waren viele Frauen und jüngere Wähler*innen, die die PiS nicht gewählt haben. Wie erklären Sie sich das?

Vor allem jüngere Menschen sind in Polen lange nicht mehr zur Wahl gegangen. Mein Eindruck: Sie interessieren sich nicht für Politik. Aber jetzt hatten sie wohl endgültig genug vom Hass und von der Paranoia, die die PiS und ihr Parteivorsitzender Jarosław Kaczyński seit Jahren verbreiten. Ich glaube, viele junge Pol*innen hatten Angst, dass Kaczyński Polen aus der Europäischen Union führen würde. Aber das passt einfach nicht zur Realität vieler junger Menschen, die sich mit Europa verbunden fühlen. Deshalb sind sie dieses Mal zur Wahl gegangen und haben Kaczyński abgewählt.

Welche Rolle spielten die Frauenrechte im Wahlkampf?

Das war eines der wichtigsten Themen. Die Proteste gegen das absurde Abtreibungsverbot waren 2020 die ersten Anzeichen dafür, dass die Macht der PiS bröckelt.

© picture alliance / NurPhoto | Michal Fludra

Sławomir Sierakowski, Jahrgang 1979, ist ein polnischer Soziologe und Politik­wissenschaftler. Er hat an der Universität Warschau studiert. Sierakowski ist Gründer und Vorsitzender von Krytyka Polityczna (Politische Kritik), einer ost­europäischen Bewegung liberaler Akademiker*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen. Er veröffentlicht regelmäßig Essays und Kommentare zu polnischer und europäischer Politik in der „Financial Times“, „Foreign Policy“, „The Guardian“ und anderen Medien. Im Rahmen seines Fellowships der Stiftung Mercator untersucht Sierakowski, wie eine neue, gemeinsam gestaltete europäische Ost­politik aussehen könnte.

Die Wähler*innen haben die national­konservative Regierungs­partei abgestraft. Aber leicht wird es für eine künftige Regierung von Donald Tusk nicht. Oder glauben Sie an eine reibungs­lose Macht­über­gabe?

Ich habe zunächst befürchtet, dass die PiS dazu nicht bereit sein würde und dass wir einen Maidan in Warschau bräuchten – eine Massen­demonstration gegen die Regierung wie 2013 in der Ukraine. Aber nun sieht es so aus, als ob sich die Regierungs­partei mit der Niederlage abfindet. Die Opposition, gebildet aus einem Dreierbündnis, ist zu stark, sie hat zusammen etwa 20 Abgeordnete mehr als die PiS. Allerdings steht Staatspräsident Andrzej Duda loyal zur PiS, die Partei kann sich auf ihn verlassen.

Was bedeutet das?

Er wird der PiS Zeit erkaufen und ihr zunächst den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Das steht in seiner Macht als Präsident. Eigentlich ergibt dieser Auftrag keinen Sinn. Die PiS hat ja keinen Koalitionspartner. Aber erst wenn dieser Versuch gescheitert ist, kann das Parlament die Initiative ergreifen und eine Regierung bilden. Ich denke, wir werden noch etwa zwei Monate die alte Regierung haben. In dieser Zeit kann die PiS alle Beweise für Korruption und Ineffizienz vernichten. Es gibt bereits Berichte darüber, dass Ministerien große Mengen an Aktenvernichtern und Festplatten kaufen.

Besonders junge Menschen demonstrierten gegen die Anti-EU-Kampagnen der PiS-Regierungspartei
Besonders junge Menschen demonstrierten gegen die Anti-EU-Kampagnen der PiS-Regierungspartei. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Tomasz Zasinski
Proteste gegen das absurde Abtreibungsverbot in Polen
Proteste gegen das Abtreibungsverbot in Polen. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Krzysztof Zatycki

Ist es dann noch möglich, das politische Erbe der PiS-Regierung aufzuarbeiten?

Das wird schwierig. Wir haben im Land zum Beispiel über 2000 Richter*innen, die mehr oder weniger rechtmäßig auf ihre Posten gekommen sind. Diese Richter*innen haben Millionen Urteile gesprochen. Was sollen wir nun mit diesen Urteilen tun? Außerdem hat die PiS unzählige Institutionen und Kammern geschaffen, in denen ihre Leute sitzen, auch beim öffentlichen Fernsehen und bei der Zentralbank. Es wird schwer, diesen Filz wieder zu entwirren. Doch die Opposition hat einen Plan und wird diese Leute nicht im Amt lassen. Sie alle haben wiederholt gegen das Gesetz verstoßen und werden dafür zur Verantwortung gezogen. Es herrscht eine große Entschlossenheit.

Jarosław Kaczyński hat mit seiner PiS-Partei die absolute Mehrheit verloren
Jarosław Kaczyński hat mit seiner PiS-Partei die absolute Mehrheit verloren © picture alliance / NurPhoto | Andrzej Iwanczuk

Wird die abgewählte PiS-Partei Polens Zukunft weiterhin prägen?

Die PiS hat 35 Prozent der Wähler*innen­stimmen bekommen, das ist sehr viel. Die Partei hat unzählige Stiftungen, Verbände und die katholische Kirche hinter sich. Sie wird jede Möglichkeit nutzen, die Demokratie wieder zu attackieren. Jetzt müssen wir unsere Zeit nutzen. Wir müssen die Zivil­gesellschaft stärken, ebenfalls Stiftungen und Verbände gründen. Die Wahl war ein erster Schritt, die Arbeit an Polens Zukunft beginnt gerade erst. Wir müssen bedenken, dass wir eine Demokratie zwar in sehr kurzer Zeit etablieren können. Es dauert aber Generationen, bis der Liberalismus verankert ist. Wir brauchen einen Kultur­wandel in Polen und in Osteuropa, sonst kann der Populismus hier ganze Staaten zerstören.

Welche Projekte sollte eine neue Regierung unter der Führung von Donald Tusk und seiner Partei „Bürger­koalition“ als Erstes angehen?

Ich hoffe, Donald Tusk wird zunächst nach Kiew reisen und danach nach Brüssel.

Die Arbeit an Polens Zukunft beginnt gerade erst.

Sławomir Sierakowski

Warum nach Kiew?

Die PiS hat die Kooperation mit der Ukraine aufgekündigt. Dabei ist die polnische Sicherheits­doktrin klar: Es gibt kein unabhängiges Polen ohne die unabhängigen Nachbarn Litauen, Belarus und Ukraine. Die Ukraine ist am wichtigsten. Wir müssen diesem Land helfen, sich gegen Russland zu verteidigen. Außerdem ist es für Polen die erste Chance zur Bildung einer stabilen und lang­anhaltenden Allianz mit der Ukraine. Die beiden Länder haben sich in der Vergangenheit häufig bekämpft, jetzt sollten wir Seite an Seite stehen.

Geschafft! Freudentaumel bei der Opposition in der Wahlnacht am 15. Oktober in Warschau – Donald Tusk und Anhänger*innen seiner Partei „Bürgerkoalition“ freuen sich. Das Opposition-Bündnis hat zusammen etwa 20 Abgeordnete mehr als die nationalkonservative Regierungspartei PiS.
Geschafft! Freudentaumel bei der Opposition in der Wahlnacht am 15. Oktober in Warschau – Donald Tusk und Anhänger*innen seiner Partei „Bürgerkoalition“ freuen sich. Das Opposition-Bündnis hat zusammen etwa 20 Abgeordnete mehr als die nationalkonservative Regierungspartei PiS. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Attila Husejnow

Und was erwarten Sie von einem zukünftigen Regierungschef Tusk in Brüssel?

Er war ja nun schon als Wahlsieger dort. Tusk hat sich mit EU-Staats- und -Regierungschef*innen getroffen und scheint erfolgreich für eine Auszahlung aus dem Corona-Wieder­aufbau­fonds an Polen geworben zu haben. Ich erwarte, dass die Regierung die wahre ökonomische Situation Polens offenlegt. Unter der PiS-Regierung gab es viele Posten, die nicht in den Bilanzen auftauchten. Ich gehe davon aus, dass es Polen finanziell schlecht geht. Das Land braucht das Geld aus dem Corona-Wieder­auf­bau­fonds der EU. Die Mittel wurden wegen des Verstoßes gegen den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus nicht ausgezahlt. Die neue Regierung sollte alles dafür tun, damit das Geld endlich fließen kann. Wenn das geklärt ist, kann Polen gemeinsam mit Frankreich und Deutschland eine Führungs­rolle in der EU über­nehmen. Polen kann da eine sehr positive Rolle spielen, gerade mit Donald Tusk, der sehr erfahren und ein guter Verhandler ist.

Wie könnte eine neue gemeinsame europäische Ostpolitik aussehen?

Die Situation ist im Moment einfach zu volatil, um das genau zu sagen. In der Ukraine tobt ein Krieg, dessen Verlauf unvorhersehbar ist, der Nah­ost­konflikt eskaliert. Das macht eine Einschätzung schwierig. Und im nächsten Jahr wird in den USA ein*e neue*r Präsident*in gewählt, und die Europa­wahl steht an. Wenn die USA sich aus der Weltpolitik zurückziehen sollten, ist es Zeit für mehr Europa. Und für eine starke Rolle Polens. Endlich! Es geht hier gar nicht um Macht, sondern um Normalität.


Stiftung Mercator Fellows

Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxis­vorhaben zu widmen.

www.stiftung-mercator.de/de/fellows/slawomir-sierakowski/