Mit Kindern über Krisen reden
Erdbeben in der Türkei und Syrien, die Entwicklungen des Kriegs in der Ukraine, Klimawandel – aktuelle Krisen belasten viele Kinder. Wie können Eltern mit Kindern über Krisen reden und sie emotional unterstützen? Katja Pelizäus, stellvertretende Bereichsleitung des Handlungsfelds Frühkindliche Bildung bei der Bildungsinitiative RuhrFutur, und Sabine Marx, Leiterin der Online-Beratung für Kinder und Jugendliche, geben Antworten.
1. Das Gespräch suchen
„Die Probleme, mit denen sich Kinder an uns wenden, haben sich verändert. Wir bemerken seit 2020 eine starke Zunahme von psychosozialen Themen wie Ängsten, Einsamkeit, Überforderung und existenziellen Sorgen“, berichtet Sabine Marx aus der Praxis der Online-Beratung. Die sich häufenden aktuellen Krisen und auch die der vergangenen Jahre gehen an Kindern nicht spurlos vorbei. Selbst wenn sie und ihre Familien nicht direkt betroffen sind oder sie einiges noch nicht ganz verstehen, bekommen sie mit, wenn in der Welt etwas Schlimmes passiert.
Durch Freund*innen in der Schule oder der KiTa, durch Nachrichten, die sie im Radio mithören oder auch durch Social Media. Wenn Kinder nicht selbst das Gespräch suchen, rät Katja Pelizäus dazu, ihr Verhalten ganz genau zu beobachten und darauf zu achten, ob sie trauriger oder nachdenklicher als sonst wirken. Je nach Alter verarbeiten Kinder Ängste oder Sorgen im eigenen Spiel. Gerade die Dreijährigen tendieren dazu, fantasievolle Erklärungen für Aspekte, die um sie herum passieren, zu finden. „Hier ist es Aufgabe von Eltern und Bezugspersonen, das Kind beim bisherigen Wissen abzuholen und aktiv nachzufragen, wie es ihm diesbezüglich geht und was es fühlt“, erklärt RuhrFutur-Expertin Pelizäus.
Katja Pelizäus ist seit 2019 bei RuhrFutur tätig, zunächst in der Administration und im Büro der Geschäftsführung. Von 2021 an war sie Projektmanagerin im Handlungsfeld Frühkindliche Bildung. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften hat sie verschiedene Positionen in Politik, Verwaltung und sozialen Verbänden inne gehabt.
Sabine Marx ist ausgebildete Supervisorin, Coach und Schreibpädagogin. Sie leitet die Onlineberatung für Kinder und Jugendliche, ein Kooperationsprojekt zwischen Diakonie und KiKA, (Kinderkanal von ARD und ZDF), das Kinder- und Jugendtelefon Berlin und Elterntelefon Berlin. Nach einem Volontariat beim Norddeutschen Rundfunk gründete sie eine Firma und produzierte Fernsehbeiträge für ARD und ZDF. Ehrenamtlich engagierte sie sich 13 Jahre als Telefonseelsorgerin. 2012 wechselte sie vom Journalismus in die Beratung.
2. Ängste ernst nehmen
„Wenn sich Kinder bei uns in der Online-Beratung melden, wertschätzen wir zunächst, dass sie sich trauen, über ihre Probleme und Ängste zu sprechen. Das ist der erste und wichtigste Schritt, um zu schauen, wie sie damit umgehen können“, schildert Sabine Marx von der Online-Beratung für Kinder und Jugendliche, einem Kooperationsprojekt zwischen dem Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und dem KiKA KUMMERKASTEN.
Ängste verengen bei Erwachsenen wie auch bei Kindern die Perspektive auf die eigene Situation. In den meisten Fällen drehen sich Ängste nicht um das, was passiert ist, sondern um das, was noch passieren könnte. Eltern und Bezugspersonen können Kinder dabei unterstützen, aus diesem Gedankenkarussel auszubrechen und den Blick wieder zu weiten. Sabine Marx erläutert: „Oft ist es für Kinder schon hilfreich zu bemerken, dass ihnen jemand zuhört, der sie in ihren Gedanken ernst nimmt. Gemeinsam mit den Kindern versuchen wir dann, Ressourcen zu identifizieren, die sie selbst nicht mehr sehen können. Was können sie sich Gutes tun? Bei welchen Personen können sie sich Unterstützung einholen?“
3. Selbstwirksam werden
Auch Katja Pelizäus bestätigt: „Nachdem über Ängste und Sorgen gesprochen wurde, ist es im nächsten Schritt wichtig, wieder positive und stark machende Gefühle zu aktivieren. So lernen Kinder, dass sie bei all dem Leid auf der Welt in ihrem Radius dennoch etwas bewirken können.“ Vielleicht hat das Kind Lust, gemeinsam Geld- oder Kleiderspenden zu Sammelstellen zu bringen. Oder aber es möchte einen Brief an ein betroffenes Kind in einem Krisengebiet schreiben. Je nachdem wie nah das Krisengeschehen der eigenen Lebensrealität kommt, möchte es vielleicht für betroffene Freund*innen im Umkreis als Zeichen der Anteilnahme einen Kuchen backen oder mit Verwandten telefonieren.
„Viele Kinder durchleben zum ersten Mal eine akute Krisensituation“, erklärt Sabine Marx. Aus diesem Grund können sie noch nicht auf Methoden zurückgreifen, die ihnen bei der Bewältigung helfen. Die ehemalige Telefonseelsorgerin empfiehlt deswegen, zusammen mit dem Kind zu überlegen, was es jetzt gerade braucht, damit es ihm besser geht. „Das kann ganz unterschiedlich sein. Kuscheln mit den Eltern, die Lieblingsmusik hören oder auch Ablenkung durch ein Hobby oder Zeit mit Freund*innen.“
Leitfaden von RuhrFutur
Spreche ich Krisen wie Krieg oder Naturkatastrophen aktiv an? Ab welchem Alter sind Kinder bereit dafür? Wie gehe ich mit Ängsten um? Von der Bildungsinitiative RuhrFutur gibt es für genau diese Fragen einen Leitfaden, der Eltern, Pädagog*innen und Lehrkräfte dabei unterstützt, mit Kindern ins Gespräch zu kommen. Anlass hierfür waren die schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien im Februar 2023. Interessierte finden den Leitfaden hier.
4. Gemeinsam informieren
Wenn wir etwas nicht verstehen, überfordert es uns. So ist es auch bei Kindern. „Informationen verändern zwar nicht die Situation, die Sorge in uns auslöst, helfen uns aber dabei, einen Überblick zu bekommen. Das gibt uns ein Stück weit Kontrolle zurück und nimmt uns so etwas Angst“, so Katja Pelizäus. Kindernachrichten oder thematisch passende Kinderbücher können eine gute Möglichkeit sein, um sich gemeinsam mit dem Kind sachlich und faktenbasiert zu informieren.
Gleichzeitig warnt sie: „Besonders bei älteren Kindern, die bereits selbstständig auf Social-Media-Plattformen unterwegs sind, ist es wichtig im Blick zu haben, wie und wo sie sich informieren.“ Denn Verschwörungsmythen, Falschnachrichten oder Desinformationen setzen genau an Themen wie Krieg oder Naturkatastrophen an.
5. Externe Angebote in Anspruch nehmen
Eltern, Familienangehörige und andere Bezugspersonen sind essenzielle Anker im Leben der Kinder und übernehmen eine wichtige und unterstützende Rolle bei der Krisenbewältigung. Trotzdem, meint Sabine Marx, kann eine anonyme Beratung manchmal die hilfreichere Option sein, zumindest im ersten Moment. „Die eigenen Ängste auszusprechen ist leider häufig etwas Schambehaftetes. Wenn alles anonym bleibt, fällt es deswegen oft leichter, sich zu öffnen und sich Gefühle einzugestehen.“ Der KiKa Kummerkasten oder das Kinder- und Jugendtelefon (116 111) sind Beispiele für solche anonymen Beratungen.
Doch anonyme Beratungen oder Bezugspersonen können nur bis zu einem gewissen Grad helfen. „Wenn Eltern oder Lehrer*innen merken, dass es dem Kind wirklich sehr schlecht geht und sie nicht mehr weiterkommen, sind Schulpsycholog*innen und psychologische Beratungsstellen bei Wohlfahrtsverbänden oder dem Jugendamt gute erste Anlaufstellen. Dort kann geschaut werden, inwieweit das Kind weiter unterstützt werden kann“, so Katja Pelizäus.
KiKA Kummerkasten
Der KUMMERKASTEN ist das Beratungsangebot des Kinderkanals von ARD und ZDF. Kinder und Jugendliche haben hier die Möglichkeit, sich anonym und vertraulich bei Sorgen, Ängsten und Problemen aller Art per Mail an ein geschultes Beratungsteam zu wenden. Innerhalb kürzester Zeit bekommen die Kinder eine individuelle Antwort.
6. Eigene Gefühle transparent machen
Auch Eltern können in einer Krisensituation psychisch überlastet sein. Insbesondere wenn sie selbst direkt von einer globalen Krise betroffen sind. Für diese Fälle gibt es externe Angebote, die Eltern in Anspruch nehmen können. Als Äquivalent zum Kinder- und Jugendtelefon gibt es das Elterntelefon (0800 111 0 550), das Eltern bei Krisen unterstützt.
Katja Pelizäus gibt zu bedenken: „Es ist ganz wichtig, sich bewusst zu machen: Nur wenn es mir selbst gut geht, kann ich auch gut für mein Kind da sein.“ Denn es hilft Kindern nicht, wenn Erwachsene ihre Ängste auf sie übertragen und so Panik in ihnen auslösen. Trotzdem meint Sabine Marx, dass Erwachsene ihre Gefühle auch nicht komplett vor Kindern verstecken müssen. „Wenn Eltern ihre Gefühle in einer Krisensituation behutsam spiegeln, lernen Kinder, dass ihre eigenen Gefühle nicht falsch oder unnormal sind.“ Durch das Vorleben, dass es den eigenen Eltern aktuell selbst nicht gut geht, sie aber schauen, mit welchen Maßnahmen es ihnen besser gehen kann, lernen Kinder, wie sie selbst mit Krisen umgehen können.
In krisenhaften Zeiten fröhlich zu bleiben, ist nämlich auch für Kinder nicht leicht. Doch ihnen einen gewissen Werkzeugkoffer an Strategien und Methoden an die Hand zu geben, um Krisen gut zu überstehen, kann es einfacher machen. Und zuversichtlicher für die Zukunft stimmen.
RuhrFutur
Die Initiative RuhrFutur will das Bildungssystem der Metropole Ruhr leistungsfähiger und gerechter gestalten. Ihr Ziel: Allen Kindern und Jugendlichen soll Bildungszugang, -teilhabe und -erfolg in gleichem Maße ermöglicht werden.
www.ruhrfutur.de/