Mit Kindern über Krisen reden

Mit Kindern über Krisen reden
Autorin: Sherin El Safty 28.03.2023

Erdbeben in der Türkei und Syrien, die Entwicklungen des Kriegs in der Ukraine, Klimawandel – aktuelle Krisen belasten viele Kinder. Wie können Eltern mit Kindern über Krisen reden und sie emotional unter­stützen? Katja Pelizäus, stell­vertretende Bereichs­leitung des Handlungs­felds Frühkindliche Bildung bei der Bildungs­initiative RuhrFutur, und Sabine Marx, Leiterin der Online-Beratung für Kinder und Jugendliche, geben Antworten.

1. Das Gespräch suchen

„Die Probleme, mit denen sich Kinder an uns wenden, haben sich verändert. Wir bemerken seit 2020 eine starke Zunahme von psychosozialen Themen wie Ängsten, Einsamkeit, Über­forderung und existenziellen Sorgen“, berichtet Sabine Marx aus der Praxis der Online-Beratung. Die sich häufenden aktuellen Krisen und auch die der vergangenen Jahre gehen an Kindern nicht spurlos vorbei. Selbst wenn sie und ihre Familien nicht direkt betroffen sind oder sie einiges noch nicht ganz verstehen, bekommen sie mit, wenn in der Welt etwas Schlimmes passiert.

Durch Freund*innen in der Schule oder der KiTa, durch Nachrichten, die sie im Radio mithören oder auch durch Social Media. Wenn Kinder nicht selbst das Gespräch suchen, rät Katja Pelizäus dazu, ihr Verhalten ganz genau zu beobachten und darauf zu achten, ob sie trauriger oder nach­denklicher als sonst wirken. Je nach Alter verarbeiten Kinder Ängste oder Sorgen im eigenen Spiel. Gerade die Drei­jährigen tendieren dazu, fantasie­volle Erklärungen für Aspekte, die um sie herum passieren, zu finden. „Hier ist es Aufgabe von Eltern und Bezugs­personen, das Kind beim bisherigen Wissen abzuholen und aktiv nachzufragen, wie es ihm dies­bezüglich geht und was es fühlt“, erklärt RuhrFutur-Expertin Pelizäus.

© RuhrFutur

Katja Pelizäus ist seit 2019 bei RuhrFutur tätig, zunächst in der Administration und im Büro der Geschäfts­führung. Von 2021 an war sie Projekt­managerin im Handlungs­feld Frühkindliche Bildung. Nach dem Studium der Sozial­wissenschaften hat sie verschiedene Positionen in Politik, Verwaltung und sozialen Verbänden inne gehabt.

© DWBO/M. Kindler

Sabine Marx ist ausgebildete Supervisorin, Coach und Schreib­pädagogin. Sie leitet die Online­beratung für Kinder und Jugendliche, ein Kooperations­projekt zwischen Diakonie und KiKA, (Kinderkanal von ARD und ZDF), das Kinder- und Jugendtelefon Berlin und Eltern­telefon Berlin. Nach einem Volontariat beim Nord­deutschen Rundfunk gründete sie eine Firma und produzierte Fernseh­beiträge für ARD und ZDF. Ehrenamtlich engagierte sie sich 13 Jahre als Telefon­seel­sorgerin. 2012 wechselte sie vom Journalismus in die Beratung.

2. Ängste ernst nehmen

„Wenn sich Kinder bei uns in der Online-Beratung melden, wert­schätzen wir zunächst, dass sie sich trauen, über ihre Probleme und Ängste zu sprechen. Das ist der erste und wichtigste Schritt, um zu schauen, wie sie damit umgehen können“, schildert Sabine Marx von der Online-Beratung für Kinder und Jugendliche, einem Kooperations­projekt zwischen dem Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und dem KiKA KUMMERKASTEN.

Ängste verengen bei Erwachsenen wie auch bei Kindern die Perspektive auf die eigene Situation. In den meisten Fällen drehen sich Ängste nicht um das, was passiert ist, sondern um das, was noch passieren könnte. Eltern und Bezugs­personen können Kinder dabei unter­stützen, aus diesem Gedanken­karussel aus­zu­brechen und den Blick wieder zu weiten. Sabine Marx erläutert: „Oft ist es für Kinder schon hilfreich zu bemerken, dass ihnen jemand zuhört, der sie in ihren Gedanken ernst nimmt. Gemeinsam mit den Kindern versuchen wir dann, Ressourcen zu identifizieren, die sie selbst nicht mehr sehen können. Was können sie sich Gutes tun? Bei welchen Personen können sie sich Unterstützung einholen?“

3. Selbstwirksam werden

Auch Katja Pelizäus bestätigt: „Nachdem über Ängste und Sorgen gesprochen wurde, ist es im nächsten Schritt wichtig, wieder positive und stark machende Gefühle zu aktivieren. So lernen Kinder, dass sie bei all dem Leid auf der Welt in ihrem Radius dennoch etwas bewirken können.“ Vielleicht hat das Kind Lust, gemeinsam Geld- oder Kleider­spenden zu Sammel­stellen zu bringen. Oder aber es möchte einen Brief an ein betroffenes Kind in einem Krisen­gebiet schreiben. Je nachdem wie nah das Krisen­geschehen der eigenen Lebens­realität kommt, möchte es vielleicht für betroffene Freund*innen im Umkreis als Zeichen der Anteilnahme einen Kuchen backen oder mit Verwandten telefonieren.

„Viele Kinder durchleben zum ersten Mal eine akute Krisen­situation“, erklärt Sabine Marx. Aus diesem Grund können sie noch nicht auf Methoden zurück­greifen, die ihnen bei der Bewältigung helfen. Die ehemalige Telefon­seel­sorgerin empfiehlt deswegen, zusammen mit dem Kind zu über­legen, was es jetzt gerade braucht, damit es ihm besser geht. „Das kann ganz unterschiedlich sein. Kuscheln mit den Eltern, die Lieblingsmusik hören oder auch Ablenkung durch ein Hobby oder Zeit mit Freund*innen.“

Leitfaden von RuhrFutur

Spreche ich Krisen wie Krieg oder Natur­katastrophen aktiv an? Ab welchem Alter sind Kinder bereit dafür? Wie gehe ich mit Ängsten um? Von der Bildungs­initiative RuhrFutur gibt es für genau diese Fragen einen Leitfaden, der Eltern, Pädagog*innen und Lehrkräfte dabei unter­stützt, mit Kindern ins Gespräch zu kommen. Anlass hierfür waren die schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien im Februar 2023. Interessierte finden den Leitfaden hier.

© Getty Images

4. Gemeinsam informieren

Wenn wir etwas nicht verstehen, über­fordert es uns. So ist es auch bei Kindern. „Informationen verändern zwar nicht die Situation, die Sorge in uns auslöst, helfen uns aber dabei, einen Überblick zu bekommen. Das gibt uns ein Stück weit Kontrolle zurück und nimmt uns so etwas Angst“, so Katja Pelizäus. Kindernachrichten oder thematisch passende Kinderbücher können eine gute Möglichkeit sein, um sich gemeinsam mit dem Kind sachlich und faktenbasiert zu informieren.

Gleichzeitig warnt sie: „Besonders bei älteren Kindern, die bereits selbst­ständig auf Social-Media-Plattformen unterwegs sind, ist es wichtig im Blick zu haben, wie und wo sie sich informieren.“ Denn Verschwörungsmythen, Falschnachrichten oder Desinformationen setzen genau an Themen wie Krieg oder Natur­katastrophen an.

5. Externe Angebote in Anspruch nehmen

Eltern, Familienangehörige und andere Bezugspersonen sind essenzielle Anker im Leben der Kinder und übernehmen eine wichtige und unter­stützende Rolle bei der Krisen­bewältigung. Trotzdem, meint Sabine Marx, kann eine anonyme Beratung manchmal die hilfreichere Option sein, zumindest im ersten Moment. „Die eigenen Ängste auszusprechen ist leider häufig etwas Scham­behaftetes. Wenn alles anonym bleibt, fällt es deswegen oft leichter, sich zu öffnen und sich Gefühle ein­zu­gestehen.“ Der KiKa Kummerkasten oder das Kinder- und Jugendtelefon (116 111) sind Beispiele für solche anonymen Beratungen.

Doch anonyme Beratungen oder Bezugspersonen können nur bis zu einem gewissen Grad helfen. „Wenn Eltern oder Lehrer*innen merken, dass es dem Kind wirklich sehr schlecht geht und sie nicht mehr weiterkommen, sind Schul­psycholog*innen und psychologische Beratungs­stellen bei Wohl­fahrts­verbänden oder dem Jugendamt gute erste Anlauf­stellen. Dort kann geschaut werden, inwieweit das Kind weiter unterstützt werden kann“, so Katja Pelizäus.

KiKA Kummerkasten

Der KUMMERKASTEN ist das Beratungs­angebot des Kinder­kanals von ARD und ZDF. Kinder und Jugendliche haben hier die Möglichkeit, sich anonym und vertraulich bei Sorgen, Ängsten und Problemen aller Art per Mail an ein geschultes Beratungsteam zu wenden. Innerhalb kürzester Zeit bekommen die Kinder eine individuelle Antwort.

© KiKa

6. Eigene Gefühle transparent machen

Auch Eltern können in einer Krisensituation psychisch überlastet sein. Insbesondere wenn sie selbst direkt von einer globalen Krise betroffen sind. Für diese Fälle gibt es externe Angebote, die Eltern in Anspruch nehmen können. Als Äquivalent zum Kinder- und Jugend­telefon gibt es das Elterntelefon (0800 111 0 550), das Eltern bei Krisen unterstützt.

Katja Pelizäus gibt zu bedenken: „Es ist ganz wichtig, sich bewusst zu machen: Nur wenn es mir selbst gut geht, kann ich auch gut für mein Kind da sein.“ Denn es hilft Kindern nicht, wenn Erwachsene ihre Ängste auf sie übertragen und so Panik in ihnen auslösen. Trotzdem meint Sabine Marx, dass Erwachsene ihre Gefühle auch nicht komplett vor Kindern verstecken müssen. „Wenn Eltern ihre Gefühle in einer Krisen­situation behutsam spiegeln, lernen Kinder, dass ihre eigenen Gefühle nicht falsch oder unnormal sind.“ Durch das Vorleben, dass es den eigenen Eltern aktuell selbst nicht gut geht, sie aber schauen, mit welchen Maßnahmen es ihnen besser gehen kann, lernen Kinder, wie sie selbst mit Krisen umgehen können.

In krisenhaften Zeiten fröhlich zu bleiben, ist nämlich auch für Kinder nicht leicht. Doch ihnen einen gewissen Werkzeugkoffer an Strategien und Methoden an die Hand zu geben, um Krisen gut zu überstehen, kann es einfacher machen. Und zuversichtlicher für die Zukunft stimmen.

RuhrFutur

Die Initiative RuhrFutur will das Bildungs­­system der Metropole Ruhr leistungs­fähiger und gerechter gestalten. Ihr Ziel: Allen Kindern und Jugendlichen soll Bildungs­­zugang, -teilhabe und -erfolg in gleichem Maße ermöglicht werden.
www.ruhrfutur.de/