Jahresausblick 2024

Jahresausblick 2024
Autor*innen: Silke Stremlau, Catherine Miller, Sławomir Sierakowski, Timo Reinfrank 02.01.2024

Was passiert 2024? Wie gelingt es im kommenden Jahr, die Demokratie in der digitalisierten Gesellschaft zu stärken? Auch 2024 wird #WirstärkenDemokratie das Motto der Stiftung Mercator sein. In allen vier Themen­bereichen der Stiftung wird Demokratie­förderung gestärkt, Demokratische Teilhabe unterstützt und für die Heraus­forderungen der Demokratie im 21. Jahrhundert werden Ideen entwickelt.

Den Auftakt für 2024 machen die vier Gast­autor*innen Silke Stremlau, Catherine Miller, Sławomir Sierakowski, Timo Reinfrank.

Europa in der Welt: Sławomir Sierakowski

Polen macht Hoffnung – ist der Rechtspopulismus in Europa auf dem Rückzug?

Polen hat die Welt erneut überrascht – so wie es dies bereits 1989 getan hat. Das Land, dem Westeuropa wenig Vertrauen schenkte, begann damals mit dem Rückzug aus dem sowjetischen Block und könnte nun den Rückzug vom Rechts­populismus in Europa einleiten.

Ja, die Regierung unter Polens neuem Minister­präsidenten Donald Tusk wird sicherlich einen pro­europäischen Weg einschlagen, die Beziehungen zum wichtigsten Partner Polens, Deutschland, reparieren und sich entschlossener für die Unter­stützung der Ukraine engagieren. Doch ist damit der Populismus in Polen natürlich keines­wegs über Nacht verschwunden. Denn die strukturellen Ursachen dafür sind nicht verschwunden: etwa das geringe Vertrauen der Öffentlichkeit in die Politik. Polen teilt dieses Problem mit ganz Osteuropa, wo Populist*innen bereits unzählige Male an die Macht gekommen sind, während dies in West­europa zuletzt nur dreimal der Fall war – Geert Wilders in den Niederlanden, Jörg Haider in Österreich und Giorgia Meloni in Italien.

Vorerst hat Polen bewiesen, dass es entschlossen für Unabhängigkeit kämpft. Uns Pol*innen kenn­zeichnet das „Pospolite Ruszenie“, die einmalige Ad-hoc-Mobilisierung in Situationen äußerster Gefahr. Die fast 75-prozentige Wahl­beteiligung bei den letzten Wahlen ist ein Parade­beispiel dafür – sie lag damit sogar noch einmal um zehn Prozent höher als bei den historischen Wahlen von 1989.

Es ist höchste Zeit für die neue Regierung, sich endlich diesen strukturellen Problemen zu widmen. Nur dann geht es nicht nur um die formale, sondern um eine echte, werte­orientierte Integration in die EU. Ohne dies ist die Föderalisierung der Europäischen Union, auf der die neuen Vorschläge zur Reform der EU-Verträge (einschließlich der Abschaffung des Einstimmig­keits­prinzip in der Entscheidungs­findung) abzielen, nicht möglich.

Sławomir Sierakowski
© picture alliance

Sławomir Sierakowski, Jahrgang 1979, ist ein polnischer Soziologe und Politik­wissen­schaftler. Er hat an der Universität Warschau studiert. Sierakowski ist Gründer und Vorsitzender von Krytyka Polityczna (Politische Kritik), einer ost­europäischen Bewegung liberaler Akademiker*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen. Er veröffentlicht regelmäßig Essays und Kommentare zur polnischen und europäischen Politik in der „Financial Times“, „Foreign Policy“, „The Guardian“ und anderen Medien. Als Senior Fellow der Stiftung Mercator unter­sucht Sierakowski, wie eine neue, gemeinsam gestaltete europäische Ost­politik aussehen könnte.

Obwohl die Regierung von Donald Tusk aus vier, teils höchst unter­schiedlichen Parteien besteht, sind diese sich in außen­politischen Fragen bemerkens­wert einig. Polen wird ein verlässliches Land werden. Zudem: Donald Tusk verfügt über den größten außen­politischen Erfahrungs­schatz aller europäischen Staats­ober­häupter. Er will in der Topliga Europas mitspielen. Die Regierung Tusk wird starke Stand­punkte vertreten, aber für Verhandlungen offen sein. Tusk gilt als sehr guter Verhandler in Europa. Weder Berlin noch Paris sollten Anlass zur Sorge haben, aber sie sollten bereit sein, die Interessen Polens zu berücksichtigen. Dann kann Polen eine führende Rolle bei der Zusammen­arbeit mit der Ukraine spielen.

Die Europäische Union wird erheblich davon profitieren, dass die Demokrat*innen es in Polen zurück an die Macht geschafft haben.

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Teilhabe und Zusammenhalt: Timo Reinfrank

Zusammenhalt leben – gesellschaftliche Teilhabe für alle sichern

2024 wird ein herausforderndes Jahr für die Zivil­gesellschaft. Neben dem politischen Rechts­ruck auf globaler und europäischer Bühne – wie zuletzt der Wahlsieg des Rechts­extremen Geert Wilders in den Niederlanden – haben Anti­demokratie und Menschen­feindlichkeit auch in der bundes­deutschen Politik Konjunktur. Mit den anstehenden Europa- und Kommunal­wahlen könnten rechts­extreme Bürger­meister*innen und Landrät*innen bald keine Einzel­fälle mehr sein. Nicht einmal ein*e rechts­extreme*r Minister­präsident*in scheint mit Blick auf die drei Land­tags­wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im kommenden Jahr ausgeschlossen. Schon jetzt steht die AfD mit ihrer migrations­feindlichen und rassistisch-nationalistischen Programmatik in Umfragen in allen ost­deutschen Bundes­ländern an erster Stelle. Nicht zuletzt in Social Media schafft es die AfD erfolg­reich, anti­demokratische Stimmungs­mache und Desinformationen im gesellschaftlichen Diskurs zu verbreiten und so vor allem junge Wähler*innen von sich zu über­zeugen.

Welche Konsequenzen die Beteiligung einer rechts­extremen Partei an einer Regierung haben kann, zeigt sich schon heute in einigen ost­europäischen Ländern: Presse und Justiz werden bedrängt und ihre Unabhängigkeit eingeschränkt, die Rechte der Opposition stark beschnitten und menschen­verachtende Gesetze gegen marginalisierte Gruppen wie Personen aus der LGBTIQ*-Community oder Sinti*zze und Rom*nja erlassen.

Timo Reinfrank
© Peter van Heesen

Timo Reinfrank ist geschäfts­führender Vorstand der Amadeu Antonio Stiftung. Er hat in Berlin und Bonn Politik- und Sozial­wissenschaften studiert. Die Stiftung berät zivil­gesellschaftliche Initiativen, Politik und Verwaltung bei ihrer Arbeit gegen Rechts­extremismus und für eine demokratische Kultur. Reinfrank hat die Zivil­gesellschaft bei der Anhörung des Kabinetts­aus­schusses der Bundes­regierung gegen Rechts­extremismus und Rassismus vertreten. Seit 2007 ist er im Vorstand „Demokratische Kultur in Berlin e.V.“ und seit 2010 einer der Sprecher der Bundes­arbeits­gemeinschaft Demokratie­entwicklung (BAGD). Zudem ist er im Vorstand der Bürger­stiftung Barnim Uckermark tätig sowie Redaktions­mitglied der Zeitschrift „Demokratie gegen Menschen­feindlichkeit“.

Für uns Demokrat*innen ist es fünf vor zwölf. Es ist nicht nur an den demokratischen Parteien, den markigen Worten gegen Rechts­extreme in den Parlamenten Taten folgen zu lassen. Als Zivil­gesellschaft ist es unsere Pflicht, uns mit Betroffenen von rechter Hetze zu solidarisieren und demokratisch Engagierte zu unter­stützen – on- wie offline. Insbesondere im Jahr 2024 und ganz konkret in Thüringen, Sachsen und Brandenburg ist es unsere Aufgabe, die Online­wahl­kämpfe der Parteien kritisch in den Blick zu nehmen und (nicht nur) junge Menschen für das Erkennen von Desinformation und Menschen­feindlichkeit zu sensibilisieren.

Das kommende Jahr hält viele Heraus­forderungen bereit – lassen Sie uns diesen gemeinsam entgegen­treten! Es ist an der Zeit, endlich konsequent gegen das, was die gesellschaftliche Teilhabe für so viele im Kern bedroht, mit gebündelten Kräften vorzu­gehen.

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Digitalisierte Gesellschaft: Catherine Miller

Beim Thema KI kommt es auf die Zivilgesellschaft an

Vor kaum einem Jahr haben wir noch darüber gestaunt, wie ChatGPT auf Kommando plausible Texte zu jedem möglichen Thema aus­spucken konnte. Was damals geradezu magisch erschien, ist für viele Menschen inzwischen Alltag. Die Debatte rund ums Thema Künstliche Intelligenz (KI) aber ist ernster geworden, düsterer. In den letzten zwölf Monaten hat die Debatte über Risiken und Potenziale dieser Technologie Fahrt auf­genommen. Politiker*innen aus aller Welt sind damit beschäftigt, neue Regeln zu gestalten, die KI in Schach halten sollen. Da sich das Feld unglaublich schnell entwickelt, ist es schwer, verlässliche Prognosen für das kommende Jahr abzugeben. Manches ist aber heute schon absehbar.

Erstens werden die gesellschaftlichen Auswirkungen von KI immer deutlicher. Im Laufe des Jahres 2024 werden weltweit rund zwei Milliarden Menschen die Möglichkeit haben, an Wahlen teil­zu­nehmen. 400 Millionen davon allein in der EU, wo ein neues Parlament gewählt wird. Desinformation in den sozialen Medien sowie Targeting politischer Werbung im Netz werden durch KI-generierte Texte und Bilder die Glaub­würdigkeit demokratischer Prozesse zunehmend in Gefahr bringen. Gleich­zeitig können wir davon ausgehen, dass auch Staaten verstärkt Künstliche Intelligenz einsetzen. Viele hoffen, dass dies Effizienz in die Verwaltung bringt. Aber gerade Expert*innen aus der Zivil­gesellschaft befürchten, dass dabei auch Ungerechtig­keiten und Missbrauch verschärft werden könnten. So ist beispielsweise der geplante Einsatz biometrischer Technologien bei den Olympischen Sommer­spielen in Paris höchst umstritten.

Zweitens wird der Gesetz­entwurf zur Regulierung von KI-Technologien im neuen Jahr in die Umsetzung gehen. Der European AI Act soll spätestens im Frühjahr beschlossen werden, zudem wird der Digital Services Act in Kraft treten. Dass es diese Regulierungen über­haupt geben wird, ist eine große Leistung. Aber um wirklich Wirkung zu entfalten, braucht es Zeit, Mut und Wissen seitens der Behörden, die für die Umsetzung zuständig sein werden. Der Zivil­gesellschaft kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Sie muss die Umsetzung begleiten und die Wirksamkeit der neuen KI-Regeln prüfen.

Catherine Miller
© Francois de Ribaucourt

Catherine Miller ist Geschäfts­führerin des European AI & Society Fund. Er will Verbände, Vereine, Thinktanks und andere zivilgesell­schaftliche Organisationen in die Lage versetzen, sich in die politischen Debatten rund um die Rahmen­bedingungen für den Einsatz Künstlicher Intelligenz einzubringen. Bevor Miller 2022 zum Fund kam, arbeitete sie als CEO von Doteveryone, dem Thinktank für verantwortungs­volle Technologie, sowie als Beraterin. Miller ist preis­gekrönte Journalistin und war für die BBC tätig.

Drittens können wir erwarten, dass sich die Macht­konsolidierung der großen Tech-Konzerne weiter beschleunigen wird. Obwohl Generative AI als technologische Neuheit wahr­genommen wird, stecken dahinter dieselben großen Firmen, die wir schon aus anderen Bereichen kennen. Das herbstliche Melodrama um die Geschäfts­führung von OpenAI endete damit, dass der Einfluss des Haupt­investors Microsoft noch weiter zementiert wurde. Gleich­zeitig sind Google, Amazon und Meta damit beschäftigt, entweder selbst KI-Technologien zu entwickeln oder Start-ups und Konkurrenten aufzukaufen. 2024 müssen wir in der Zivil­gesellschaft auch auf dieser Ebene verstärkt aktiv werden.

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Klimaschutz: Silke Stremlau

Wie finanzieren wir die sozial-ökologische Transformation?

Deutschlands Klimaneutralität wird 120 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Diese Summe ist auch ohne das Urteil des Bundes­verfassungs­gerichtes gegen den Klima­fonds immens und verdeutlicht zwei Dinge: Zum einen sind die vor uns liegenden Anstrengungen, unsere Infra­struktur und Geschäfts­modelle in der Wirtschaft zu dekarbonisieren und resilient zu gestalten, wirklich monumentale Aufgaben. Zum anderen kann der Staat diese Aufgabe nur in einer starken Allianz mit Unternehmen und dem privaten Kapitalmarkt bewältigen.

Die EU-Kommission versucht seit 2018 mit ihrem Sustainable Action Plan den Rahmen für ein Mehr an nach­haltigen Finanzierungen zu schaffen. Sie setzt auf Transparenz von Unternehmen hinsichtlich ihrer Nach­haltig­keits­leistungen, auf eine Taxonomie für nachhaltige Wirtschafts­aktivitäten und auf ein Level Playing Field – also gleiche Wettbewerbs­bedingungen für alle Wirtschafts­akteure. Dieser Ansatz zeigt Erfolge: Das Thema Sustainable Finance und Nach­haltig­keit ist in (fast) allen Unternehmen der Finanz- und Real­wirtschaft angekommen. Endlich!

Silke Stremlau
© Ina Fassbender

Silke Stremlau ist Nach­haltig­keits­expertin und Bankerin. Seit 2022 ist sie Vorsitzende des Sustainable Finance-Beirates der Bundes­regierung. Sie war von 2018 bis 2023 im Vorstand der Hannoverschen Kassen – einer nach­haltigen Pensions­kasse. Als Senior Fellow der Stiftung Mercator will sie, dass der Finanz­markt wirkungs­voller als bisher die Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft finanziert.

Wir dürfen im Jahr 2024 aber nicht bei Regulierung, Daten­sammlung und Definitions­debatten stehen bleiben. Was wir brauchen, ist die eindeutige Ausrichtung aller Investitionen, Kredite und öffentlichen Förder­programme auf die Transformation. Jedes Programm, jeder Euro, sei er öffentlich oder privat, sollte sich an seiner maximalen Wirkung für den sozial-ökologischen Umbau messen lassen. Nur dann steht den energie­intensiven Industrie­unter­nehmen, den grünen Start-ups und den Kommunen genügend Geld zur Verfügung, um in Energie­effizienz, Kreis­lauf­wirtschaft und soziale Innovationen zu investieren. Und damit die Wettbewerbs­fähigkeit unseres Landes auch über 2024 hinaus zu erhalten!