Holocaust-Gedenktag: Erinnern auf Social Media

Holocaust-Gedenktag: Erinnern auf Social Media
Autorin: Sherin El Safty 27.01.2023

Wie setzen sich junge Menschen heute mit dem Leid der Schoa auseinander? Welche Rolle spielen dabei Instagram, TikTok und Co.? Anlässlich des Holocaust-Gedenktags am 27. Januar hat sich AufRuhr mit Dr. Katja S. Baumgärtner getroffen, die am Bochumer Center for Advanced Internet Studies (CAIS) zu diesem Thema forscht.

Frau Baumgärtner, digitalisiert sich aktuell unsere Erinnerungskultur?

Zunächst möchte ich im Plural, also von verschiedenen Erinnerungen sprechen. Und ja, diese verlagern sich tatsächlich in die digitalen Räume. Sobald Berichte von Zeitzeug*innen des Holocausts oder von Personen, die aus anderen Gründen verfolgt wurden, auf einem Tonband oder in einer Videoaufnahme aufgezeichnet und somit wieder abrufbar wurden, können wir bereits von einer Medialisierung der Erinnerungen sprechen. Mit Aufkommen der Massenmedien und im nächsten Schritt der sozialen Plattformen scheint es immer einfacher, diese Vergangenheit für nachfolgende Generationen sichtbar zu machen. Es sind digitale Räume entstanden, in denen Menschen ihre Solidarität und Empathie mit den Leidtragenden dieser Gewaltgeschichte öffentlich kundtun und über diese lernen können.

© Paul Rheinsberg

Katja S. Baumgärtner hat Gender Studies, Philosophie sowie Fotografie studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Jewish Studies, Feminist & Gender Studies, Intersektionalität, Media Studies (Digitalität, Film, Ton, Fotografie), Memory Studies & Oral History. Derzeit ist sie Post-Doc-Fellow am Center for Advanced Internet Studies (CAIS).

Welche Chancen liegen in einer Erinnerungskultur, die auf sozialen Plattformen stattfindet?

Es gibt etwa TikTok-Accounts von Holocaust-Überlebenden, die sich trotz ihres hohen Alters vor die Kamera stellen, um ihre Geschichte zu erzählen – und um aktuelle Debatten und Ereignisse aufzugreifen. Als Memory-Aktivist*innen ermutigen sie gegen Antisemitismus, Rassismus, Misogynie und Hass einzustehen.

© Paul Rheinsberg

Das Internet und ganz speziell soziale Plattformen ermöglichen über Generationen hinweg quasi echte Begegnungen zwischen Überlebenden des Holocausts und nachfolgenden Generationen. Jüngere User*innen können sich mit ihnen sogar via Kommentar­spalte direkt austauschen und vernetzen.

Soziale Plattformen bieten außerdem vermehrt Räume für Narrative, die im Mainstream bisher kaum Interesse fanden. Auch wenn es immer noch große Lücken gibt, erfahren wir heute auf Online-Portalen beispielsweise deutlich mehr über weibliche Opfer oder über queere Verfolgte. Auch auf der Ebene der Akteur*innen finden sich interessante Verschiebungen: Nicht mehr nur „alte weiße Männer“ deuten die Vergangenheit, sondern jüngere, diversere Personen. So werden Debatten endlich geschlechter­gerechter und inklusiver.

Können Sie uns Beispiele für Social Media-Accounts von Überlebenden nennen?

Als Beispiel möchte ich hier Gidon Lev nennen, der als Kind im Ghetto Theresienstadt gefangen war. Im Juli 2021 eröffnete er seinen TikTok-Account und kämpft seitdem unermüdlich mit viel Herz gegen Antisemitismus, Hass und gegen die Leugnung und Umdeutung der Schoa. Auch Lily Ebert entwickelt auf TikTok eine beeindruckende Energie. Sie überlebte die mörderischen Selektionen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Seit 2021 betreibt sie mit ihrem Urenkel einen Account.

Ein weiteres Beispiel ist der Instagram-Kanal „Eva.Stories“ von Maya und Mati Kochavi. In 27 Beiträgen erzählen sie von Éva Heyman, die am 17. Oktober 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit nur 13 Jahren ermordet wurde. In den ersten 24 Stunden nach dem Launch des Accounts im Mai 2019 erreichte der Kanal bereits eine Millionen Follower*innen. Eva.Stories wurde anfangs sehr skeptisch aufgenommen. Es wurde gefragt, ob die Plattform wirklich ein angemessenes Medium sei, zu gedenken. Ich sage dazu ganz klar ja!

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Was verändert sich für Holocaust-Gedenkstätten, wenn sich zunehmend digital erinnert wird?

Gedenkstätten können durch einen Auftritt auf sozialen Plattformen umfassend, niedrigschwellig und eindringlich in der Sprache der Community über die historischen Orte informieren. Im November 2021 startete beispielsweise die KZ-Gedenkstätte Neuengamme ihren TikTok-Account. Der Account wird betreut von der Historikerin Iris Groschek in enger Zusammenarbeit mit jungen Menschen, die für ein Jahr an der Gedenkstätte ihren Freiwilligendienst leisten und oft aus dem Ausland kommen. Sie sprechen die User*innen informativ und gleichzeitig pointiert auf Englisch an, was insgesamt gut ankommt. Mit derzeit mehr als 27.000 Follower*innen, die sich aktiv einbringen, ist der Account sehr erfolgreich und ermutigt deutlich mehr junge Menschen, den historischen Ort zu besuchen. Das Digitale hat also konkrete Auswirkungen auf die realen Räume.

© KZ-Gedenkstätte Neuengamme (ÖA)

Welche Herausforderungen können im Erinnern liegen, das mehrheitlich auf Social Media stattfindet?

Bei einem Bericht von einem*einer Zeitzeug*in auf Papier oder auf einer VHS-Kassette liegt uns das Material in direkter Form vor. Bei Instagram-Beiträgen oder TikToks ist das nicht so. Diese dezentralen Quellen sind abhängig von den Besitzer*innen der Plattformen. Sollten diese wechseln, könnten etwa alle Beiträge unter dem Hashtag Holocaust Gefahr laufen, gelöscht zu werden. Dann wäre der Inhalt von heute auf morgen verschwunden. Wenn wir TikTok, Instagram oder Facebook als virtuelle Archive begreifen, müssen wir verstehen, dass diese Kanäle nicht zuletzt auch Werbeplattformen mit ihren eigenen ökonomischen Logiken sind. Erinnerungen haben also einen prekären und riskanten Status und benötigen Schutz.

Verlangt eine digitale Erinnerungskultur nach einer eignen Ethik?

Seit 1945 gibt es mithilfe unterschiedlichster Medien ein großes Engagement, gegen rechte Stimmen laut zu werden. Ich denke, dass sich die damals geltenden Ethiken nicht von der heutigen digitalen Zeit unterscheiden. Es ist wichtig, wachsam zu bleiben und sich gegen Menschenfeindlichkeit zu positionieren. Im digitalen Räumen sehe ich eine große Chance dafür Aufmerksamkeit zu wecken.

Integration Digitale Ethik

Das Land Nordrhein-Westfalen fördert das Center for Advanced Internet Studies (CAIS) seit April 2021 dauerhaft als zentrales Institut für Digitalisierungs­forschung. Dort werden die gesellschaftlichen Chancen und Heraus­forderungen der digitalen Transformation erforscht.

https://www.cais-research.de/